17. Münchner Kurzgeschichtenwettbewerb – Jurypreis

Kaspressknödel (von Ingrid Svoboda)

Der Tag begann für Kurt, wie unglücklicherweise oftmals, mit Schrecken. Er verspürte einen heftigen Stoß an seinen Rippen; nicht einmal die bemerkenswert gut ausgeprägten Fettpolster boten genügend Schutz. Soeben noch hatte er von einem lieblichen, blond gelocktem, blauäugigem Mädchen geträumt. Zu seinen Füßen hatte es gehockt, bewundernd zu ihm hochgeblickt und ihm die Schuhe ausgezogen.

“Auf geht’s!” rief Hildegard.

“Au! Ned so grob! Und es is do no finster!”

“Bledsinn! Je früher, umso besser! Bei der größten Hitz wolln ma do net aufikräun!”

“I wui goar ned aufi!”

“Des glaub I da. Oaber Bewegung is gsund!”

Nochmals traf die mitleidlose knöcherne Ellbogengewalt. Trotzdem schien der wundervolle Traum näher, als die harte Wirklichkeit. Sich fallen zu lassen, Zuflucht suchen in einer anderen Welt, war einfacher, als sich auf die Beine zu stellen. Der Traum kam zurück: Musik. Der Klang einer Flöte, beschwingt und beruhigend zugleich. Das Mädchen lächelte, stellte die Schuhe sorgsam zur Seite…

Steh auf! Sofort! Glei reißt ma die Geduld! Der Kaffee is längst fertig!”

Langsam und ächzend erhob sich der Gatte. Mit schlürfenden Schritten begab er sich in die Küche, nicht ohne sehnsüchtige Blicke auf sein wohlig warmes, weiches Bett zurückzuwerfen, wobei er sich innig wünschte es möge wo anders stehen, weit weg, und selbstverständlich mit ihm, einem selig träumenden Kurt darin.

 

Bereits eine halbe Stunde später waren sie unterwegs. Mit dem Auto. Mit Kurts Auto. Hildegard hatte es verabsäumt den Führerschein zu machen. Von jemandem daraufhin angesprochen zu werden, behagte ihr offensichtlich wenig, Unzählige Ausreden hatte sie parat, von schwachen Augen bis Schwindelanfällen und Rückenschmerzen. Und eine Wahrsagerin hatte ihr prophezeit, dass der Tag, an dem sie zum ersten Mal ein Auto lenke, ihr letzter sein werde. Was Kurt ahnte, behielt er vorsichtshalber für sich. Hildegard zu nötigen, ein eigenes Versagen einzugestehen, bedeutete größten Verdruss.

Klein war das Auto und rot. Kurt hätte es vorgezogen eine großes, elegantes hellgraues zu besitzen. Und nicht irgend eines. Präzise waren seine Wünsche. Leider bevorzugte Hildegard rot, und herrlich war die Kreuzfahrt gewesen auf dem Traumschiff; die Verwandtschaft, die Freunde, die Nachbarn, alle hörten davon bis zum Überdruss und auch noch danach. Nie würde sie aufhören von der Kreuzfahrt zu schwärmen; so eine Kreuzfahrt, das war etwas fürs ganze Leben, ein Auto dagegen nur für wenige Jahre, und selbst dazu brauchte man Glück – Warum so viel Geld ausgeben für einen Haufen Blech?

“Schlouf ned ein!” flehte sie jetzt. “Schlouf jo ned ein! I bitt di!”

Kurt senkte seine Lider. Immer wieder. Müde war er; ein ungewolltes Zufallen seiner Augen vorzutäuschen, fiel ihm leicht,

“Pass auf! Host den Radlfoahrer ned gsehn? Beinoh liegert der jetzt im Groubn! Und’s Auto wär hin!”

“Beinoh is ned wirklich!” Unverständlich wurde der leise Einwand im Motorenlärm.

“Brumm ned! Sei stad! Pass liaber besser auf! I bitt di! Foahr ned so knopp droan! Überhol doa ned! Du kaunnst ned hinter die Kurven schaun! Na, ned überholn! I bitt di!”

Kurt war hin und her gerissen zwischen der wohltuenden Gelegenheit, Hildegard zu innbrünstigen Bitten zu bewegen und der genau darin enthaltenen höchst störenden Kritik an seinen durchaus vorhandenen sicheren wohl bewährten Fahrkünsten. Was er jedoch zweifelsfrei genoss, war Hildegards Besorgnis. Er senkte seine Lider. Fuhr zu knapp auf. Gab Gas vor Kurven. Senkte seine Lider. Bremste plötzlich scharf aus einem für seine Gattin unerklärlichem Grund. Gab Gas und noch mehr Gas.

“Mir wird glei schlecht!” jammerte Hildegard. “Bitte, foahr ned so schnell! Bitte, pass auf! Schlof ned ein! Bitte, ned! Du bringst und no um!” Ihre Stimme bebte erbarmungswürdig.

Glücklicherweise erreichten sie den Parkplatz unbeschadet.

“Nimm den Rucksock. Und sperr zua!” befahl Hildegard. Ihre Stimme hatte beachtlich schnell die Sicherheit wieder gewonnen, was Kurt wohl bedauerte, ihn aber nicht überraschte; eine Enttäuschung blieb ihm in diesem Fall wenigstens erspart.

Er gehorchte.

Das kleine rote Auto hinter sich lassend, schritt das Ehepaar mit unterschiedlich stark ausgeprägtem Elan auf den Wegweiser zu.

“Do miass ma aufi!” sagte Hildegard. “Nouch rechts geht’s zur Hüttn.

Kurt seufzte.

“Reiß die zsamm! Drei Stund steht do! Drei Stund is goar nix! A wounns mit dir fünf werdn!”

 

Der Aufstieg begann. Freundlich Zuversicht strahlend, spendete die Sonne den Wanderern ihr kräftiges wärmendes Licht. Der Wald stand ruhig, schöpfte Kraft aus der eigenen vielfach Leben schenkenden Tiefe. Tau glitzerte, die Gewissheit von Wiederkehr ließ hier keine Wehmut über die Vergänglichkeit aufkommen. Einige wenige weiße Wölkchen schmückten den ansonsten blitzblanken blauen Himmel.

“Is des ned schen?” seufzte Hilde.

“Hmm.”

Feuchte Erde duftete würzig. Ein Bächlein gluckste zwischen verschiedenfarbigen Steinen fröhlich dahin, zarte Blüten und vielerlei Gräser am Ufer. Ringsum Gesumme und Gezwitscher. Dazwischen: heftiger Atem.

“Du schnaufst zum Daboarma!” sagte Hildegard.

Kurt hegte erheblichen Zweifel am Mitgefühl seiner Gattin.

“Hmm.” Ein Ausatmen war es. Und ein und aus, ein und aus, ein und…; mit Konzentration bemühte sich Kurt seiner Atemnot Herr zu werden. Bedauerlicherweise vergebens. Und die Kraft der Sonne nahm zu. Er hätte sehr gerne ganz auf sie verzichtet. Dicke, schwarze Wolken, Regen, Blitz und Donner, alles war besser, als diese unerträgliche Hitze. Von Schweiß durchtränkt war sein Hemd. Tropfen lösten sich von seiner hohen Stirne.

Viel zu früh neigte sich der Inhalt der zuhause vorausblickend gefüllten Flasche seinem Ende zu. Ob das Wasser aus dem Bächlein…? Wahrscheinlich nicht. Was für ein Jammer! Kurts Vertrauen in die Reinheit der Bergwelt war begrenzt.

“Is des ned schen?” rief Hildegard zum wiederholten Male. Ein gelber Schmetterling war knapp an ihrer allmählich errötenden Nase vorbei geflogen.

“Hmm.”

Und nochmals: “Is des ned schen?”

Kurt versuchte nicht, die Ursache für das Entzücken seiner Gattin zu erfahren. Was auch immer es war, das ihr in diesem Augenblick so über alle Maßen gefiel, es war gratis und konnte daher sein Unbehagen, das bereits die Grenze der Erträglichkeit erreicht hatte, nicht vergrößern. Ein und aus, ein und aus, ein und…

Oft wurden sie von anderen Wanderern überholt. Plaudernd und lachend stiegen diese anscheinend mühelos den steilen, steinigen Weg voran.

“Schau da des oan!” rief Hildegard. “Scho wieder geht wer oan uns vorbei! Olle san schnöller! Der dort is mindestens zwanzg Joahr öder oals du! Schenierst di du goar ned?”

“Jetzt bleib i stehn. I muass roastn!”

“Des ah no!”

“Hmm.” Ein und aus, ein und aus, ein und… Unerklärlich, warum Hildegard schnell ans Ziel gelangen wollte, wo der Weg ihr so außerordentlich gut gefiel.

“Is des ned schen?”

Kurts Beine begannen zu schmerzen. Die Füße schwollen an, die Schuhe drückten. Er stöhnte. Ein und aus, ein und aus, ein und… Auf der linken Ferse bildete sich ein Blase.

Und immer seltener war Hildgard zu einem entzückten Ausruf gerührt, stattdessen immer öfter wegen überholender Wanderer empört. “Woan i alan gang, rennat kana bei mir vorbei!”

“Hmm.” Ein und aus, ein und aus, ein und… Die Konzentration erwies sich zweifelsfrei als nicht hilfreich. Konnte das Gegenteil vielleicht seine Schritte erleichtern? Das Atmen aus dem Kopf verbannen! Den Wanderweg verlassen? In Gedanken wenigstens? Wohin? Aber wohin nur? Zusammengeschrumpft war die Welt auf das Ein und Aus, Ein und Aus, auf die schmerzenden Beine mit der Blase, die Hitze, den Durst. Gelegentlich eine blauweiße Markierung auf einem Baum oder Stein: Hier geht’s lang. Nur hier! Ein und aus, ein und aus, ein und…

 

“Vier Stund und 48 Minuten!” sagte Hildegard. Sie seufzte tief. “Endlich!”

“Hmm.”

“Schau da des Panorama oan! Der Weg hod si auszoahlt! Is des ned schen? So woas von schen!”

Rundum gewaltige Gipfel. Unzählig die sanften, grünen Hügel. Weit weg die Täler, einsame, bewohnte. In die Ferne gerückt lag der Alltag tief unten, so schien es. Angereichert war plötzlich die klare Luft der Berge mit dem Duft viel versprechender, deftiger Speisen.

“Ah” stöhnte Kurt. Er ließ sich fallen auf die hölzerne Bank. “Zuerst a Bier!”

Auch seine Gattin nahm Platz. Zustimmend. Nicht vereinbar dagegen die Wünsche bei der Auswahl des Essens.

“Gulasch!” entschied Hildegard.

“Es gibt Kaspressknödel! I mecht Kaspressknödel!”

“Host so wos überhaupts schon amol gessn?”

“Na! Genau drum möcht is probiern!”

“Bledsinn!”

“Goar ka Bledsinn! I mecht Kaspressknödel! Kaspressknödel!” Der anstrengend Aufstieg hatte zwar Kurts Körper geschwächt, seinem Widerspruchsgeist jedoch unvermutet Stärke verliehen.

“Wie a eigensinnigs Kind! Kochter Kas! Nix droan! Nur modern!”

“Stimmt net! Kasspressknödel hoabn Tradition!” wagte Kurt neuerlich einen Einwand.

“Und genau drum, weil’s Tradition hoabn, drum sans jetzt modern. Olles was Tradition hoad, is jetzt wieder modern. I kenn Kaspressknödl. Mir graust’s davor. Pfui Teufel! Und dir schmeckns a ned! “

Die Entscheidung war gefallen. Kurt bekam Gulasch. Der Hunger besiegte den Widerspruchsgeist.

 

Der Abstieg gestaltete sich wesentlich einfacher, als der Aufstieg, obwohl die Beine und die inzwischen erheblich größer gewordene Blase jetzt noch mehr schmerzten. Aber das Atmen bereitete Kurt nunmehr keine Schwierigkeiten. Und Hildegard hatte keine Eile; wer den Berg hinab rennt, kann unmöglich in der Lage sein, die Schönheiten der Natur gebührend zu würdigen.

“Idioten san des!” meinte sie. “Wos für Idioten!”, wenn sie von schnelleren Wanderern überholt wurden. Sie kramte plötzlich im Rucksack und fand zu Kurts Erleichterung ein Pflaster für seine stark in Mitleidenschaft gezogene Ferse. Ihre Laune war eindeutig auf einem Höhepunkt angelangt.

“Is des ned schen?” Hildegard hatte eine Gruppe Fliegenpilze entdeckt, die sie beim Aufstieg übersehen hatte. “So schen! Oaber leider so giftig!”

“Hmm.” gab Kurt zur Antwort, ohne dabei seinem Ein- bzw. Ausatmen besondere Beachtung zu schenken. Er blieb stehen, betrachtete die Fliegenpilze nachdenklich. Sie waren tatsächlich prächtig. Fünf…, nein, sechs Stück. Ein jeder hübscher als der andere. Ein jeder so giftig wie der andere. Nein! Falsch! Die großen hatten mehr Gift, als die kleinen, ganz klar! Und auf die Menge kam es wohl an. Es gab auch andere giftige Pilze. Den Knollenblätterpilz zum Beispiel. Und Gift kam natürlich nicht nur in Pilzen vor. So viel Gift! “Hmm! Schen! Wirklich sehr schen!”

Die Sonne stand bereits tief. Ein Glück für Hildegards Nase, die nun beinahe so rot war, wie die Fliegenpilze. Groß lagen die Schatten, noch größer würden sie bald sein. Kurt atmete ruhig. Mit enormer Erleichterung und plötzlich neu aufkeimender Hoffnung. Schatten hatte er schon immer gemocht. Sogar den eigenen, der verantwortlich war für viele Qualen. Aber seiner war es: Kein Kurt ohne Kurts Schatten. Er schaute ihn an und dachte: Des bin i.

So oft hatte er seinen Schatten angesehen, dass er manchmal meinte, ihn sprechen zu hören.

“Spring!” sagte der Schatten in solchen Augenblicken. “Spring!” Dennoch lehnte er es ab, sich kleiner zu machen, um auf diese Weise den Sprung zu erleichtern, gleichgültig, wie sehr er darum gebeten wurde. Seit vielen Jahren ging das schon so.

O ja, Kurt war gesprungen! Er erinnerte sich. Im Schwimmbad hatte er das dunkelhaarige Mädchen angesprochen. Ihre stramme Beine hatten es ihm angetan und die niedliche zart rote Nase. Aus der Sonne war das Mädchen gekommen, zu ihm in den Schatten. Vor Spinnenbeinen ekelte ihn, stramme Beine dagegen erweckten seine Begierde, und die niedliche rote Nase hauchte seinem Beschützerinstinkt Leben ein. Nur eine Woche später schenkte er dem Mädchen ein schickes graues Hütchen mit breiter Krempe und einer weißen Feder. Leider trug sie es nie. Es verschwand ins Irgendwo.

“Grau moag i ned!”

Doch die weiße Feder, die hatte Hildegard vom Hütchen entfernt und aufbewahrt. Sie besaß sie noch immer. Kurt wusste, wo sie versteckt lag. Umgeben von Mottenkugeln.

Ihm graute plötzlich vor den hübschen Fliegenpilzen. Von Giften anderer Art ebenso – Na, des ned! Springen wollte er trotzdem. Unbedingt. Jetzt oder nie mehr wieder!

Er sagte: “I wui Kaspressknödel. I drah um!”

“Bist gaunz narrisch woarn?”

Er würdigte seiner Gattin keine Antwort. Stattdessen kehrte er um, begann den steinigen Weg hinaufzusteigen. Hildegards Einwänden schenkte er keine Beachtung. Sie rief ihm nach, beschimpfte und warnte ihn. Vor der Finsternis warnte sie ihn, vor Irrwegen, die zum Abgrund führten, vor Stürzen und gebrochenen Knochen, vor der Schwäche des Pflasters, das die Ferse nicht ausreichend schützen konnte, vor einem Versagen des Herzens. Vor einer verschlossen Hütte warnte sie ihn, kein Abendessen würde er haben, weder Kaspressknödel noch ein Stückchen trockenes Brot. Gulasch schon gar nicht. Bett würde er keines bekommen, unter freiem Himmel die kalte Gebirgsnacht verbringen müssen. Vor dem Erfrierungstod warnte sie ihn.

Unbeirrt stieg Kurt langsam bergauf. Als er durstig wurde, trat er ans Bächlein und füllte seine Flasche. Sein Vertrauen in die Reinheit der Bergwelt war plötzlich groß. Das Atmen fiel schwer, aber weniger schwer, als am Morgen. Wenn heute vielleicht nicht mehr, dann ganz gewiss am nächsten Tag, würde ihm der freundliche Hüttenwirt Kaspressknödel servieren. Herrlich duftende Kaspressknödel mit Käse von der Alm und frischen Kräutern von der Alm, umgeben vom Duft der Alm. Während er Schritt für Schritt allmählich zur Höhe strebte, sah er appetitlich angerichtete Kaspreßknödel vor sich auf dem Teller. Er leckte seine Lippen. Dann sah er den leeren Teller und hörte sich sagen: “No amol Kaspressknödel, bittschen.” Und er sah Hildegard. Mit roter Nase stand sie neben dem roten Auto. Über ihr die rote, sich aufs romantischste verabschiedende Sonne: Is des ned schen?

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