3. Platz Deutscher Kurzgeschichtenwettbewerb

Nancy Ehrlich: ‘Kranich’

Das Ende des Winters | Am Ende des Winters konnte ich nicht sagen, ob es ein besonders mildes, oder ein besonders regenreiches Jahr gewesen war. Ich erinnerte mich nicht. Nicht an den Wechsel der Jahreszeiten, nicht an herausstechende Ereignisse, nicht all Alltägliches. Es soll ein Erdbeben gegeben haben, das erste in Berlin seit noch nie, oder seit hundert Jahren, ich hatte es nicht bemerkt. Auch war dem Zoo wohl ein Tigerweibchen entlaufen, das Vögel riss und das sich später als Wildschwein entpuppte. Es soll auch ein UFO auf die Erde gefallen sein. Allerdings in den USA, es betraf uns nicht.

Aron hielt mich auf dem Laufenden. Ein beträchtliches Gewicht hatte sich an meinen Körper gehangen und machte es unmöglich, mir zusätzlich etwas aufzuhalsen. Beinahe jede Information war zu schwer, um sie zu behalten. Ging ich Einkaufen, stand ich ratlos vor den Regalen, den Zettel, den ich mir geschrieben hatte, hatte ich längst verloren. Manchmal versuchte ich den Mitwohnenden etwas zu erzählen, was mir Aron kurz zuvor gesagt hatte. Doch die Geschichte ging abhanden, sobald ich den Anfang schilderte. Ich brach ab und ließ den Rest ungesagt im Raum stehen. Noch war ich krank geschrieben, ich verbrachte meine Tage mit Gucken und mit Schlafen. Anfangs war ich optimistisch gewesen, dass ich nach ein bis zwei Monaten in den Alltag hätte zurückkehren können, in so etwas wie ein geregeltes Leben.

Tischplattenfrühling | Im Frühling guckte ich mir die Wände an. Ich wurde Expertin für Raufaser und für Beton, für Holzfurnier und für gekalkte Steinwände. Später guckte ich mir Tischplatten an. Ich wurde Expertin für Muster, erkannte montane Höhenlinien, Hirschgeweihe und Augen im Holz von Arons Küchentisch, auf dem meist eine Schüssel mit Suppe stand, weil Suppe einfach zu essen war. Auch Cornflakes und Brei gingen, alles Harte ging nicht. Ich fing an, spazieren zu gehen. Ich lief jeden Tag dieselbe Runde um den Kanal, war nach kurzer Strecke erschöpft und musste mich zu Hause lange hinlegen. Ich begann mich für Füße zu interessieren, studierte Turnschuhe und die modernen Lederstiefel, die alle trugen. Die Sohlen meiner eigenen Stiefel waren bald dünn, sie hatten sich auf dem Untergrund der Stadt abgetragen. Ich begann mich für Böden zu interessieren. Besonders Risse im Asphalt und die kotzefarbenen Gummiböden auf Spielplätzen zogen mich an. Die Gummiböden waren schön weich. Ich studierte Gesichter in der U-Bahn, dreimal die Woche, auf dem Weg zu Blattnagel. Die Gesichter blieben leer. Manche sahen aus, als wären sie aus sich selbst herausgefallen, besonders dann, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Manche Gesichter kamen mir bekannt vor, andere nicht. Sie sagten mir alle nichts. Auch die Gesichter, die mir vertraut waren, blieben unleserlich.

Falsche Orte | Mein neuer Alltag drehte sich ums Putzen. Ich putzte andauernd meine Zähne, ich putzte meine Stiefel und meine Steine, meine Fensterscheiben, ich putzte das Badezimmer, unsere Küche, ich putzte die Dielen meines Zimmers und Arons Brillengläser, wenn er bei mir übernachtete. Alle paar Tage stellte ich meine Möbel um. Dann wiederum fand ich Gegenstände nicht, weil ich sie verräumt hatte. Ich suchte sie und fand neue Plätze dafür, die besser geeignet waren. Schlüssel, Telefon und Portemonnaie wurden zu mir verhassten Objekten, sie gingen leicht verloren und tauchten oft stundenlang nicht wieder auf. Aron war verwirrt, weil er seine Socken und Unterhosen nicht fand, was besonders kritisch morgens früh um acht sein konnte, wenn er in aller Eile das Haus verlassen musste, weil er zu lange mit mir im Bett gelegen hatte. Einmal fand er seine Socken in der Kammer am Ende unseres Flurs, in dem meine WG Putzzeug, Staubsauger und Reisetaschen aufbewahrte. Ein anderes Mal fand er ein Paar Gummistiefel in seiner Badewanne. Es hatte mir leid getan und ich hatte ihm die Frage nicht beantworten können, wie die Gegenstände an die falschen Orte gekommen waren.

 

Kalter Sommer | Im Sommer hatte ich ein Hobby gefunden. Ich duschte alle paar Stunden. So lange, bis das heiße Wasser aufgebraucht war. Manchmal schlug ich nach dem Abdrehen des Wassers ein Handtuch um meinen Körper, setzte mich auf den Wannenrand und wartete so lange, bis es wieder heiß geworden war. Dann stellte ich mich erneut unter den Strahl. Ich mochte: wie die Tropfen auf der Plastikwand hintereinander her jagten und wie die Größeren sich die Kleineren einverleibten, woraufhin sie beschleunigten, dann oft stehen blieben, bis sie von anderen Tropfen gefressen wurden. Ich mochte nicht: die Kälte beim Verlassen des Badezimmers. So wie die Kälte nicht verschwunden war, war auch die Schwere in den Muskeln nicht verschwunden und der Ekel. Gleichzeitig schwebte ich, reichte mit den Füßen nicht bis auf den Boden, war mit dem Kopf in einer anderen Welt, stieß mich oft an Möbeln und fiel häufig hin. Ich war froh, dass ich nicht arbeiten gehen musste, ich hätte die blauen Flecken und die Schrammen nicht erklären können. Nur meine Therapeutin, Frau Dr. Blattnagel, fragte manchmal nach.

Ich konnte nicht sagen, ob sich mein Körper verändert hatte, ob ich dicker oder dünner geworden war. Mein Körper war nicht mehr da.

 

Papierschnitt | Der Papierschnitt im Herzen war größer geworden, er ging glatt und schräg durch das Organ. Liegen verstärkte den Schmerz. Schreien milderten ihn. Das tat ich, wenn niemand in der Wohnung war. Die schlimmsten Ausbrüche verheimlichte ich. Aron wurde nervös, ich merkte es daran, wie er nachfragte. Am Anfang hatte Aron gefragt, wie es mir ginge. Später fragte er, ob es ein bisschen besser ginge. Ich hatte mich in einen Kokon eingesponnen, war nicht mehr erreichbar. Obwohl ich wenig dachte, war unter der Haut alles in Bewegung. Neuerdings fragte Aron, wie Blattnagel meinen Zustand einschätzte.

Streitlustig hast du mir besser gefallen, sagte er, wollen wir nicht streiten? Er versuchte mich zu necken, ich ließ mich nicht darauf ein, konnte nicht.

Er wusste nicht, dass seine Anwesenheit mir half. Ich war in Sicherheit, das hieß: Ich konnte heilen. Heilen bedeutete, alles schlecht Zugewachsene noch einmal aufzureißen und mich selbst zu zerfetzen. Ich war ein Terrier, den man allein zu Haus gelassen hatte. Ich weiß nicht mehr, was wir in dieser Zeit gemacht, über was wir gesprochen hatten, aber ich weiß. Dass Aron da gewesen war.

 

Mir egal |  Am Ende des Sommers gab es einen Streit zwischen den Mitwohnenden. Die, die Stuhldesign studierte, warf dem, dem mit den Flipflops vor, er sei ein patriarchales Schwein, weil er die Pfanne nie rechtzeitig abwasche und sie sich um das Spülen kümmern müsse, wenn sie die Pfanne brauchte und so sei es mit allem Geschirr. Seit Jahren. Daraufhin sagte der mir den Festivalbändchen, sie habe einen an der Klatsche, woraufhin sie weinte, weil er sie mit der Bemerkung verletzt hatte. Er könne nicht wissen, was sie in ihrem Leben alles hat durchmachen müssen. Die beiden wollten, dass ich entschied, wer von ihnen auszieht. Ich sagte, mir sei es egal. Die beiden taten sich zusammen und suchten an einem schwülen Augustabend das Gespräch mit mir. Sie sagten, ich sei passiv, das belaste das Zusammenwohnen, womit sie vermutlich recht hatten. Die Stuhl-Designerin sagte, ich müsse lernen, besser zu kommunizieren, es habe sie verletzt, dass ich gesagt hatte, es sei mir egal, wer auszöge, ich gäbe ihr das Gefühl, nichts wert zu sein und es verletze sie außerdem, dass ich ausschließlich etwas mit meinem Freund, Aron, machte und nie mit ihr, obwohl sie sich so anstrengte, nett zu mir zu sein – in die Bar gehen zum Beispiel, oder spazieren und es sei ihr ein großes Anliegen, auch mit der WG regelmäßig Zeit zu verbringen, es sei sogar ein Bedürfnis. Welches ich nicht stillte. (Mein Fehler.)

 

Stimme des Vernichters | Ich hangelte mich von Stunde zu Stunde. Dreimal die Woche. Innen zerrten verschiedene Kräfte in verschiedene Richtungen. Ich zerriss mich. Blattnagel setzte mich zusammen. Ein knappes Jahr nach dem Auftauen der Erinnerung hatte ein Teil von mir, mich so weit, mir nicht zu glauben. Ein Teil von mir, die Stimme des Vernichters, redete mir ein, ich hätte mir, aus unerklärlichen Gründen, im Zweifel aus Geltungssucht, dieses in Eis erstarrte Bild bloß ausgedacht, vielleicht eingebildet.

Was, wenn ich ihm Unrecht tue, fragte ich Blattnagel, was, wenn es aus Versehen passiert ist, er war doch nicht pädophil, er war doch kein Straftäter.

Blattnagel sagte, ob mein Vater pädophil gewesen sei, könne sie per Ferndiagnose nicht sagen, Fünfundsiebzig Prozent aller Fälle sexuellen Missbrauchs in der Kernfamilie seien Ersatztaten, die Kinder seien Ersatzobjekte, sie sagte auch, dieses Gespräch hätten wir allein im vergangen Monat fünf Mal geführt. Ich ging nach Hause, schlief drei Stunden und wachte mit Hunger auf. Bisher hatte ich den Hunger nicht gefühlt. Dass ich ihn fühlte, musste ein gutes Zeichen sein. Oder ein Schlechtes. Es war jedenfalls ein Zeichen. Bevor ich aß, wollte ich mir die Information notieren, ich wollte aufschreiben, dass ich mit Blattnagel bereits über die Stimme des Vernichters gesprochen hatte, die mir einredete, ich sei ein verlogenes Mädchen, das unschuldige Männer anklagt, sexuell übergriffig gewesen zu sein. Also holte ich mein Tagebuch aus dem Bettkasten. Doch sobald ich das Heft aufgeklappt hatte, waren alle Wörter weg.

 

Fallschirm | Über Berlin drückte die Hitze, mitten im Dezember. Ich hatte ein ganzes Jahr verloren. Seit Monaten lief ich dieselbe Strecke. Immer um den Kanal herum, immer in dieselbe Richtung.

Adama?

Max stand vor mir. Mein Ex-Freund.

Seine Stimme hatte ich sofort erkannt. In der noch dieselbe Unbekümmertheit lag, wie früher. Ich hatte seine Unbekümmertheit geliebt.

Zu Beginn war Max unsicher und kindlich gewesen, scheu vor allem beim Küssen. Zum Ende hatte er Kokain genommen und war anders, als zu Beginn unserer Beziehung, viel selbstbewusster. An den Tagen, an denen er nicht selbstbewusst gewesen war, war er wehleidig und launisch gewesen.

Max, sagte ich, mein Vater – . Und heulte.

Ich erzählte ihm von der Eis-Erinnerung. Er hatte nicht gefragt. Es war aus mir herausgefallen. Hinterher schämte ich mich.

Ich weiß, sagte Max, du hast es mir gesagt, nachdem wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten, weißt du nicht mehr, wie hilflos ich damals war?

 

Der Beweis | Nachdem ich es Max erzählt hatte, musste ich die Erinnerung wieder verdrängt haben. So erklärte es mir Blattnagel.

Sie war nicht überrascht, als ich ihr von meiner Begegnung erzählte und davon, dass die Eis-Erinnerung schon einmal aufgetaut gewesen war.

Sie waren damals nicht bereit, sagte sie, ein Körper weiß, wann er bereit ist.

Ich war enttäuscht von ihrer Reaktion. Irgendwie hatte ich eine Art Lob erwartet. Für was, wusste ich nicht.

Obwohl ich mich vor der eigenen Vergangenheit fürchtete, entschied ich, die Erinnerung dieses Mal zu behalten. Ich fror sie nicht wieder ein. Zu Hause holte ich mein Tagebuch heraus und stockte. Meine Atmung beschleunigte. Mein Kopf war leer. Aber dieses Mal blieb ich so lange vor dem Heft sitzen, bis ich ein Wort notiert hatte. Es stand da in verschnörkelter und ausladender Kinderhandschrift.

 

Die Hand meines Vaters | 

Ich wollte nicht zurück in einen Zustand in dem ich mir selbst nicht traute. Ich würde stark genug werden, die eigene Kindheit auszuhalten.

 

Die Meise |  Wenn du bei mir einziehst, musst du das mit dem Umräumen sein lassen, ich kann es mir nicht leisten, jeden Tag zu spät zur Arbeit zu kommen. Aron versuchte, sich pragmatisch und streng zu geben. Aber er freute sich doch über meinen Wunsch zusammen zu ziehen.

Genau genommen war es nicht mein Wunsch gewesen, es war Blattnagels Wunsch und ich hatte mich überreden lassen.

Wollen Sie denn ewig in einer WG leben, zusammen mit Menschen, von denen Sie nicht einmal wissen, wie alt sie sind, geschweige denn, was sie studieren?

Die eine studiert Stuhl-Design.

Frau Schilf, wenn sie mit Aron zusammen leben, werden Sie zur Ruhe kommen.

Er wird sich trennen, sobald er merkt, dass ich eine Meise habe.

Meinen Sie nicht, dass er das schon mitbekommen hat?

Am selben Tag eröffnete ich meiner WG, dass ich ausziehen würde. Die Designerin tat, als wäre sie untröstlich, darüber, dass wir es nicht geschafft hatten, einen Weg zu einander zu finden, der Flipflopmann wünschte mir viel Erfolg für die Zukunft.

Aron half mir beim Packen, am Tag des Umzugs fuhr er den Wagen. Als mein spärliches Hab und Gut in seiner Wohnung stand, glaubte ich einen großen Fehler begangen zu haben und ich war sauer auf Blattnagel.

 

Die Wärme | Mein Zustand hatte sich nicht verbessert. Das Trauma war nicht wie ein Rippenbruch, den ich hätte mit Zeit und Ruhe auskurieren können. Es war eine chronische Entzündung, die wieder und wieder aufflammte, verstärkt nach Veränderungen.

Nachdem ich bei Aron eingezogen war, kamen wir aus dem Streiten nicht heraus. Die Veränderung war zu stark für mich gewesen.

Dann aber breitete sich endlich, endlich eine Wärme in mir aus.

Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich zu Hause. Ich war ein Kranich. Nach langen Flug. Ich konnte verschnaufen.

Wenn du da bist, auch nur im Nebenzimmer, fühle ich mich besser, als wenn du nicht da bist, sagte ich, das ist doch komisch.

Das ist nicht komisch, sagte Aron, es gibt Studien – die Nähe des Partners wirkt sich sogar auf das körperliche Wohlbefinden aus, auch du senkst mein Risiko, einen Schlaganfall zu bekommen.

Nachtrag, Die Wärme | Auch heute noch: Für Aron ist Liebe ein Naturgesetz.

Für mich ist sie ein Vogel, der der im Dickicht schlummert und den ich leicht verscheuchen kann.

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