26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Jürgen Buchholz

Jimipracht

Ich sah ihn auf der Beerdigung wieder. Wie lange war es her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten? Zwanzig Jahre? Fünfundzwanzig? Jimi! Er trug tatsächlich sein leuchtend gelborangenes Batikhalstuch – oder das Nachfolgemodell dessen, das er zu Schulzeiten und danach immer um den Hals hatte. Er war der einzige, der Farbe trug. So musste er mir, musste er allen, die ihn kannten oder nicht kannten, noch vor der Trauerfeier in der Kapelle auffallen. Der einzige in all dem Schwarz und Grau, der einzige, der einen violetten Samthut in der Hand hielt, der einzige, der sich in einen bunten Frack mit glänzenden Paisley-Ornamenten geworfen hatte. Immerhin: eine schlichte dunkle Jeans dazu und unauffällige Cowboystiefel. Ich brauchte nicht näherzutreten, um ihn zu riechen: Patschuli und abgestandenen Rauch von selbstgedrehten Gauloises hatte ich in der Nase, den Schweiß derer, die viel draußen waren – und diesen fauligen Mundgeruch, der manchmal alles andere überdeckte. Nichts als Erinnerung. Unsere Musik fiel mir ein: Piece Of My Heart, Riders On the Storm, Voodoo Chile von Jimis Namensvorbild. Nicht schwer, auf den Kosenamen zu kommen damals angesichts der gleichen Nichtfrisur. Und den lebendigen Jimi zierte sie immer noch, etwas gelichtet und ergraut vielleicht, aber eindeutig erkennbar: die alte Jimipracht.

Eine Weile beobachtete ich ihn noch, wie er mit Leuten sprach, ohne ihnen ins Gesicht zu sehen, vielmehr mit den Augen dem Rauch folgend oder auf den Bauch eines Kommunikationspartners starrend. Tatsächlich konnte ich ihn in der Kakophonie des Gemurmels nicht hören, dennoch war mir seine Stimme, sein leises, oft ängstlich klingendes Gemurmel sogleich im Ohr.

Ihn musste ich nun grüßen. Ihm aus dem Weg zu gehen, war unmöglich. Ihn demonstrativ zu ignorieren, brachte ich nicht übers Herz. Ich wünschte, ich hätte es gekonnt. Stattdessen fühlte ich mich gezwungen, die Form zu wahren. 

Ich war froh gewesen damals, den Absprung geschafft zu haben, einen echten Cut zu setzen, mit solchen Menschen nichts mehr zu tun zu haben. Ich bin froh darüber heute, geschäftlich erfolgreich, familiär mit meiner Gattin und den zwei Mädchen zufrieden, bis auf gelegentliche Weinabende drogenfrei. Und nun tauchte dieser Arsch hier auf, offenbar unverändert, den Menschen jede Energie raubend, einfach durch seine Art, seinen Anschein der Hilfsbedürftigkeit, den wohl sein Hundeblick auslösen musste. Wie konnte ich so naiv sein, ihn zu Hause zu wähnen? Oder zu glauben, er wäre selber tot? Warum fand ich es nur so unwahrscheinlich, dass er, der in den Süden gezogen war, von Nicolas Sterben gehört hatte?

Irgendwann würden wir hier aufeinandertreffen.

Ich zwang mich, mich an einigen anderen Trauergästen vorbeizudrängen und auf ihn zuzugehen. Kurz bevor ich ihn erreichte, schaute er in meine Richtung, erkannte mich, denn er sah gleich wieder weg und lächelte verkniffen. 

Hallo Jimi! Hallo Randolf! Dann das Übliche, was einem an Floskeln zur Verfügung stand, wenn einem vor lauter Verlegenheit nichts zu sagen einfiel: Lange nicht gesehen, wie geht´s, ganz gut, meine Herren Gesangsverein, hätte nicht gedacht, dass wir uns… etc. 

Das Geläut der Kapelle wurde leiser und verstummte. Wir gingen als letzte in den Raum, in dem die Trauerfeier stattfinden sollte. Und es fügte sich unglücklich, dass sich die letzten beiden Plätze in zwei aufeinanderfolgenden Reihen ganz vorne befanden. Nun saß Jimi einen halben Meter hinter mir, sein Spiegelbild in der silbrigen Urne vorne am Altar verzerrt, und atmete mir in den Nacken, sodass es mir unmöglich wurde, in eine andächtige Stimmung zu kommen. Bis heute ist es mir nicht gelungen, Wochen nach der Beerdigung von Nicola. Stattdessen kreisen meine Gedanken noch immer um das, was nach dem Begräbnis passierte – und deshalb auch um die Zeit von Jimi und mir. Wie das klingt: die Zeit von Jimi und mir. Als wenn ich Hendrix in Woodstock begleitet hätte. Dabei waren wir damals in unserer Zweier-WG schon Spießer, bunte, langhaarige Spießer halt: engstirnig in den Sitten (nicht im Stehen pinkeln/ kein Bier vor vier/ Wer baut, raucht an) und eifersüchtig bis ins Mark.

Ich hörte nichts von den vermutlich weihevollen Worten des Geistlichen, nichts von denen der näheren Angehörigen. Stattdessen nässte mich eine Flut von Erinnerungen ein: wie wir in dieser winzigen Wohnung mit dem verdreckten Flokati gehaust hatten, den drei Fenstern über dem Bahndamm grün-gelb-rot bemalt, der für die Menge an schmutzigem Geschirr viel zu kleinen Spüle. Matratzen hatten auf dem Boden gelegen, Aschenbecher daneben, meist überfüllt, denn der Weg zur Tonne war lang gewesen.

Allein wie wir geredet hatten: „Na“ als Begrüßung, noch mit der Zigarette im Mund „Hasse ma Tabak?“, „Scheiß Spießer“, wenn die Musik mal wieder für die Nachbarn zu laut gewesen war. Daneben Zivildienst für ein paar Mark, halbwegs zuverlässig waren wir sogar gewesen.

Gern hätte ich über das Ganze einfach gelacht. Hast doch bald schon die Kurve gekriegt.

Man stand auf, man trug die Urne heraus, man folgte und versammelte sich am Grab, hinter mir wieder Jimi – rauchend.

Nun sang er auch noch Ashes To Ashes leise vor sich hin. Himmel, wie ich ihn hasste. 

Vater und Mutter Nicolas standen am Grab. Man stellte sich zur Kondolenz an. Jimi stellte sich natürlich abseits, ich reihte mich ein. Ein kurzes „Mein Beileid“ sprach ich, als ich dran war, dann bewegte ich mich langsam, scheinbar andachtsvoll auf Jimi zu. Was zog mich zu ihm? Die Verpflichtung, den früheren Freund zu befragen, konnte es doch nicht alleine sein. Ich kannte hier niemand anderes, denn Nicolas Bekannte waren nicht mehr meine. Und mit ihren Eltern, die ich zumindest mal gesehen hatte, wollte ich nicht reden. Nicola hatte, wie Jimi und ich, ihren eigenen Weg eingeschlagen. Sie war in die Wissenschaft gegangen, Jimi war erst einmal dahin gereist, wo unser Gras in Plantagenmengen angebaut worden war, und hatte Sachen verkauft, die er aus dem nahen Osten mitgebracht hatte, auf Flohmärkten. Zumindest hatte ich das kurz nach unserem Auseinandergehen gehört. 

Ob er das immer noch machte, war meine erste Frage in seine Rauchwolke hinein. „Ab und an“, quälte er sich aus der Kehle. Seine Stimme war über die Jahre rauer geworden, aber immer noch verhalten und kraftlos. Möglich, dass ich inzwischen schwerhörig wurde, aber angesichts seiner unklaren Intonation hätte es auch „an und an“ oder „ab und ab“ heißen können. Arschloch, sprich lauter, damit ich deinem Atem nicht zu nahe kommen muss, wollte ich sagen, verkniff es mir aber.

„Wie hast du von Nicolas Krankheit erfahren?“

„Sie [unverständlich] selbst erzählt. Wir [unverständlich] ja immer Kontakt.“

„Ach…“ In der Magengegend fühlt es sich an, als ob jemand einen Bleihammer darauf gelegt hätte, und ich hatte einen Moment Schwierigkeiten, die Fassung zu wahren. Ich muss rot geworden sein und versuchte durch gleichmäßiges Atmen meinen Wärmehaushalt wieder in Ordnung zu bringen. Ich dachte an die Anzeige, durch die ich von der Beisetzung erfahren hatte. „… nach kurzer, schwerer Krankheit“ hieß es da. Ich wusste nicht einmal, welche es war.

„Ja, im Frühjahr [unverständlich] zusammen auf Gomerra.“ Er sagte „Gomerra“, nicht Gomera, und ich musste kurz an Sodom und Gomorra denken. 

Die Trauergemeinde beendete das Kondolenzritual und bewegte sich nun Richtung Café. Ich fragte Jimi, ob er mitgehe. Er verneinte zunächst. Als ich sagte, auf einen Kaffee könne man ja noch ein wenig plaudern, folgten wir der Menge aber doch gemeinsam. Ich hasste dieses Gespräch, aber nun wollte ich alles wissen: Jimi und Nicola, zusammen auf Gomera…

„Ja, da war sie noch vollkommen gesund, erst im Spätsommer hatte sie erste Aussetzer.“

„Aussetzer?“

„Ja, du weißt noch gar nichts Genaues?“

„Nein.“

Und nun sprach er so deutlich, dass ich es kaum aushalten konnte: „Sie hatte einen apfelgroßen Tumor im Hirn. Erst konnte sie ihre Beine nicht mehr spüren, dann vergaß sie immer mehr und konnte nur noch undeutlich sprechen. Eine Behandlung lehnte sie ab. So war nach zwei Monaten schon Schluss.“

„Und du hast alles mitbekommen?“

„Ja, sie wollte, dass ich bei ihr bin, möglichst viel, bis es zu Ende war. Sie lebte ja auch unten in der Nähe von Stuttgart, da war es für mich aus Ulm nicht weit. Kein klassisches Paar vielleicht, aber doch immer miteinander verbunden, weißt du.“

Ich wollte das nicht glauben. Die beiden waren zusammen, hatten offenbar irgendwann ihre Beziehung wieder aufgenommen. Tiefes Durchatmen half nun nicht mehr. Wie konnte ich meinen Ekel, meinen Hass auf Jimi, mein Bedürfnis, vor ihm auszuspucken, nur zügeln? Wie konnte ich nur verheimlichen, dass ich über alle Maßen eifersüchtig war? Es war mir ja nicht nur vor Jimi peinlich, sondern auch vor mir selbst. Ich musste an sein Spiegelbild in der Urne denken. Er war offenbar noch immer mit ihr zusammen, über den Tod hinaus.

Am Café angekommen, ging ich erst einmal zur Toilette und schloss mich ein. Ein widerwärtiger Geruch kam aus der Nachbarkabine und stieg mir in die Nase. Endlich kam in meinem Körper etwas in Bewegung, was raus musste. Ich erbrach mich. Irgendwer fragte draußen vor der Tür, ob alles in Ordnung sei. „Ja, danke“. Als ich niemand mehr hörte, ging ich zum Waschbecken, erblickte mein bleiches Gesicht, die blutunterlaufenen Augen, meine gekrümmte Körperhaltung. Ich wusch mich, spülte meinen Mund aus und ging zurück in die Kabine, schloss mich ein, setzte mich auf den Deckel und gab mich meinen Erinnerungen hin.

Nicola und ich waren auch einmal ein Paar gewesen. Wenige Wochen, die wir Hand in Hand gegangen waren, gemeinsam Musik gehört und zusammen Gras geraucht hatten, miteinander koituslosen Sex gehabt und uns Geschenke gemacht hatten. Wir waren einander nie wirklich nah gekommen. Immer und immer hatte es den Anschein gehabt, dass sie mich spöttisch anschaut und denkt: Was willst du eigentlich, du Witzbold!

Dann hatte sie immer mehr Zeit mit Jimi verbracht. Ihrer beiden Augen hatten geleuchtet, wenn sie vom Flohmarktbummel zurückkamen, hatten sich gefreut, mir eine U2-Platte mitgebracht zu haben. One hatte ich heimlich rauf und runter gehört, als wäre es die Hymne unserer selbst gewesen: You ask me to enter/ But then you make me crawl.

Und dann war sie gegangen und wir waren auch auch gegangen, drei Sterne im Kosmos, die naturgemäß auseinanderdrifteten.

Aber für mich war nie etwas davon naturgemäß gewesen. Ich hatte mich nach Nicola gesehnt und hatte Teile von ihr in anderen Frauen gefunden, ich hatte Jimi gehasst, und solche Männer hatten glücklicherweise in meinem Leben fortan keine Rolle mehr gespielt.

Alles schien vergessen, nur manchmal, bei One im Radio oder irgendwelcher Hippie-Musik war manches zurückgekommen: die Sehnsucht nach Nicola und der Hass auf Jimi, mal mehr dies, mal mehr jenes. Das muss doch mal ein Ende haben, hatte ich gedachte. Immer hatte Jimi meinen Blick auf sie verstellt. Jetzt konnte ich nicht einmal mehr um sie trauern, ohne an ihn denken zu müssen. 

Ich stand auf und ging in den Gastraum. Da stand die Vogelscheuche und drehte sich eine Zigarette, vor sich auf dem Stehtisch einen Kaffee. Ich holte mir auch einen und folgte ihm, als er zum Rauchen vor die Tür ging.

„Wollen wir gleich noch mal zum Grab gehen?“, wollte ich von ihm wissen.

„Ja.“

Ich ließ mir seinen Tabak geben und drehte mir auch – nach Jahrhunderten zum ersten Mal wieder – eine Zigarette. Das Rauchen machte das Schweigen leichter. Man konnte den Rauchschwaden nachblicken, dummes Zeug übers Rauchen quatschen. Wie ähnlich wir uns waren.

Jimi war zuerst fertig. „Okay, dann lass uns gehen.“

Schweigend legten wir die wenigen Hundert Meter zu ihrem Grab zurück. Schon von weitem sahen wir, dass es bereits zugeschaufelt war. So standen wir, der alterslose Paradiesvogel und der Mittvierziger in Trauerschwarz, vor der von Kränzen geschmückten aufgehäuften Erde. Wütend machte mich, dass die Farbe seines Huts einer Schleife glich, auf der „Du lebst ewig in unserer Erinnerung“ stand. Ich dachte: Ich werde den Zorn nicht mehr in mich hineinfressen, ganz bestimmt nicht mehr. 

„Sie war schwanger von mir.“ Jimi schaute in den Himmel, ich ballte die Fäuste, dass sich die Nägel in meine Handballen bohrten. Es war, als wenn ich etwas festkrallen wollte, das mir schon entglitten war. „Wir dachten, wir müssten in unserem Alter nicht mehr verhüten. Keine Ahnung, ob es Angstblüte war, jedenfalls waren es zwei Schocknachrichten kurz hintereinander: ihre Schwangerschaft und die Diagnose des Tumors.“ Ich wollte dazwischen gehen, um ihn zu stoppen, aber er redete einfach weiter: „Sie hat abgetrieben, als die Krankheit diagnostiziert wurde.“

Es fühlte sich an, als schnitte jemand mit einem vorher über dem Feuer erhitzten Messer über meine Haut knapp unter dem Nabel. 

Ich griff ihn an der Schulter und drehte ihn zu mir. Er ließ es mit sich machen. Vielleicht dachte er, ich wolle ihn umarmen. Mit einer Hand erwischte ich seinen Hals, den ich nun festhielt, mit der anderen, erneut zur Faust verkrampft, holte ich aus und schlug mitten in sein Gesicht, einmal, zweimal direkt auf diese viel zu kurze Nase. Er duckte sich, die Arme vor dem Gesicht. Eine schnelle Bewegung meines Knies gegen sein Kinn, so zwang ich seinen Kopf nach hinten. Noch immer stand er, breitete nun aber seine Arme aus, offenbar um sein Gleichgewicht zu halten. Eine perfekte Gelegenheit, seine Hässlichkeit noch einmal mit beiden Fäusten zu treffen. Er schwankte, sein Blut tropfte aus seiner wohl gebrochenen Nase, tropfte noch warm von meinen Fäusten. Er schrie irgendwas, ich schrie irgendwas. Er fiel aufs Grab, verfing sich in einer Schleife, und ich stürzte mich auf ihn, weiter auf ihn eintrommelnd, während er mich kraftlos wegschieben wollte. Irgendwann wehrte er sich nicht mehr, er stöhnte nur noch.

Ich stand auf, wandte mich ab von Jimi und Nicola und torkelte Richtung Auto.

„Was sollte das, Motherfucker?“ Ich dachte: Halt bloß die Schnauze.

Nun ist sie erzählt, diese merkwürdige Begebenheit, bei der mein Hass nach Jahrzehnten doch noch seinen Weg gefunden hat. Das Schlimme ist: Ich sehe Nicola noch immer nicht. Nur ein paar Erinnerungsfetzen aus uralten Zeiten gibt es – und das verwüstete Grab in meinem Gedächtnis.

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