26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Axel Schöpp

Reimers

Notate aus dem Leben eines Unternehmers zur Zeit von Covid-19

Drei Jahre ist es her. 

Der Virus ist besiegt.

Und Reimers lebt wieder sein altes Leben. 

In unnachahmlicher Schusshaltung brettert er schwarze Pisten hinunter, arbeitet fleißig an seinem Handicap und hält auf der Terrasse des Golfclubs munter Ausschau nach Frauen, die im Schnitt zehn bis fünfzehn Jahre jünger sind als seine Frau. 

Er ist groß und schlank, eine Augenweide das dichte gewellte Haar mit fadendünnen silbrigen Streifen im Schläfengebiet. Seine breiten Schultern, falls erwünscht, laden zum Anlehnen ein. Wenn er lächelt, bilden sich winzige Grübchen in seinem markantem Gesicht, Zeichen seines jungenhaften Charme.

Im Unternehmen nennen ihn die Frauen Mr. Armani. 

Die Sehnsucht seiner Mitarbeiterinnen, eine Nacht mit ihm zu vebringen, schätzt er auf einer Skala von eins bis zehn zwischen neun und zehn ein. 

Eher bei zehn!

In seinem Personalausweis steht, dass er auf die fünfzig zugeht – einer der vielen  Irrtümer in der Menschheitsgeschichte. Wenn die Zeit es zulässt, wird er sich eines Tages dahinter klemmen und das Rätsel seine Geburtsdatums lösen. 

Klassische Altersanzeichen wie Tränensäcke, Krähenfüße, hängende Mundwinkel, Flecken bzw. Hautirritationen zeigen in Reimers Fall einen sehr milden Verlauf. Schon bei Covid 19 spürte er, bis auf ein leichtes Kratzen im Hals, keinerlei Symptome. 

Vermutlich hat er sich, der alte Apres-Ski König, in Ischgl angesteckt.

Nach einem erfüllten Pistentag vor der traumhaft schönen Kulisse des Alpenpanoramas, trank er den verdienten Aperol Spritz, als plötzlich die Tür aufging und eine Gruppe von acht bis zehn Personen die Bar betrat und es so eng wurde, dass die Wörter sich vermischten und mit ihnen der Atem, der sie ausgestoßen hatte.  

Heute noch, wenn er die Augen schließt, tanzt die Aerosol-Wolke aus Corona Viren vor seinen Augen, diese stachlige Kugel, die eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Massageball hat, den seine Frau beim fernsehen dazu benutzt, sich die Fußballen zu massieren. 

Er hatte keine Angst vor der Wolke. Er sah die Wolke sogar auf sich zukommen.

Er sah ihr in die Augen, bevor er sie hinunter schluckte. Ganz bewusst, denn er wollte wissen, wie es ist. Er wollte sich dem Virus stellen und nicht vor ihm wegrennen. Vor allem wollte er immun werden, um so uneingeschränkt weiter zu leben wie er immer gelebt hatte.  

Er kannte nichts anders in seinem Leben als das zu tun, wozu er gerade Lust hatte. Von seiner Geburt an war das Leben etwas, was man in vollen Zügen zu genießen hat. Sonst ist es kein Leben! Sonst ist es doch gar kein Leben, Mensch! 

Atme Jens, atme sie ein!, motivierte er sich im Namen des Lebens. Du kannst eh nicht davon rennen. Niemand kann das. Vor Viren sind wir Menschen alle gleich. Niemand kann sie aufhalten. Als ihn eine Bekannte fragte, mit wem er gerade spreche, sagte er: Ich spreche mit den Viren. Die Bekannte lachte, worauf er sagte: Viren sind in uns. Ohne sie können wir nicht überleben. Es sind symbiotische Kreaturen.

Und dann sgte er wieder: Atme Jens, atme sie ein!

Und die Bekannte atmete sie ebenso ein und infizierte sich. 

Nachdem er poistiv getestet war, hat er den Kopf schön oben behalten, auf sein robustes Immunsystem vertraut, seine mentale Power, die ihn zu dem gemacht hat, was er ist. 

So war die Zeit der Quarantäne eine Zeit, in der er weniger mit der Krankheit als dagegen kämpfte, keinen Moralischen zu kriegen. 

Was bin ich für ein Mensch? 

Welche Bedeutung habe ich in den grotesken Zeitläufen der Welt? 

Gibt es eine Alternative zur Globalisierung? 

Jetzt mal ernsthaft!

Das sind doch scheiß Fragen. 

Wer sich solche Fragen stellt, kommt ja aus dem Fragen gar nicht mehr heraus. Man ist dann ja den eigenen Fragen ausgeliefert. 

Aber diese Fragen bewölkten seinen Kopf. 

Zum Zerreißen gespannt war der rote Faden seines Unternehmergeistes, er musste höllisch aufpassen, in kein emotionales Loch zu stürzen. 

Seine Schwester, von Berufs wegen Malerin, aus der klingelnden Metropole Frankfurt am Main, die unter der klassischen Neurose litt, ideelle Dinge den materiellen vorzuziehen und die Güter möglichst gerecht unter den Erdbewohnern zu verteilen, für ein menschengerechtes Leben aller, schickte ihm ein Paket.

In dem Paket, er fasste es nicht, befand sich ein Buch. Das letzte Buch hatte er im Abitur gelesen. Nietzsches Also sprach Zarathrusta. Er hatte es gern gelesen und sich die wichtigen Stellen mit rotem Textmarker angestrichen. Er wusste, dass er danach kein Buch mehr zu lesen brauchte. Alles, was er wissem wollte, stand in diesem Buch. 

Das Buch der Schwester trug den Titel: Das Kapital.  

Und es lag noch ein Brief in dem tollen Paket. 

Wenn es jemanden gibt, der im Jahr 2020 noch Briefe schreibt, dann musste es die eigene Schwester sein, klar! 

Hallo mein kleiner, erzkapitalistischer Bruder,

eine kleine Leseempfehlung in schweren Zeiten,

genieß die Quarantäne

und hinterfrag dein Leben

Deine Schwester Vanessa.  

Holla die Waldfee!   

War das ernst gemeint? 

Machte die Schwester sich über ihn lustig? 

Ihren ach so gepflegten, hintergründigen Intellektuellenhumor hatte er noch nie leiden können.

Er kotzte ihn einfach nur an. 

Diese gezierte Hihihi und huhuhu, was war ich wieder doppelbödig.

Hoffentlich dauert der Lockdown noch lange an. Er hat nicht das geringtse Bedürfnis, im Mai Gast auf ihrem fünfzigsten Geburtstag zu sein. Dieses bürgerliche Schauspiel, nein, dieses antike Trauerspiel muss er sich nicht geben. Als Unternehmer unter Kulturschaffenden und die, die sich dafür halten, hat man es nicht leicht. Man wird nicht ernst genommen, weil man es ja zu etwas im Leben gebracht hat. Und weil man lieber Geld verdient anstatt zu lesen. Unglaublich, oder? Vielleicht ist Schwesterherz ja bis dahin insolvent. Sie ist schon lange genug erfolglos mit ihren Bildern unterwegs. Abstrakte Kunst, oder wie sie das immer nennt. Nichts zu erkennen, was sich in irgendeine Richtung identifizieren ließe. L´art pour l´art, oder wie man das in solchen Kreisen nennt. Nichts, was sich irgendwie greifen ließe.  Einfach bloß Ausguß dessen, was ihr gerade durch den Kopf geistert. Reine Gedankenmalerei, ohne Bezug zur Realität. Nichtssagend und unnötig, Punkt. 

Jedenfalls fand sich das, was in den wehleidigen Berichten der Gewerkschaften stand, quasi buchstäblich auch im Kapital. 

Da war ihm ja der durchgeknallte Nietzsche näher. Individualität, Selbstoptimierung, die Erkenntnis, durch Schmerz die Mediokrität zu überwinden und über schmale Pfade und knirschendes Eis den Gipfel des Berges zu erklimmen, wo der überstrapazierte Geist Klarheit und Erfüllung finde.  

Ab Seite zwanzig las Reimers nur noch kursorisch. Darin war er ein Meister. Um Zeitspannen der Gewinnmaximierung effektiv zu nutzen, besaß er den schonungslosen Blick für den Textkern.

Den Lockdown hatte er im Geschäft verbracht, weil er die hysterische Panikmache der Medien nicht aushielt. 

Farben der Triage, Städte im Belagerungszustand, improvisierte Leichenhallen, die Aufbewahrung Toter in Kühlwaggons. 

Schweißflecken am Hemdkragen, saß er auf dem schwarzen Ledersofa in seinem Wohnzimmer, einen Steinwurf entfernt von seiner Frau, deren vor Desinfektionsmittel schimmernden Hände gefaltet im Schoß lagen. Auf dem Flachbildschirm eine Karawane von LKW´s, die durch die vom Konsum leergefegten Straßen Bergamos zogen. 

Ein Bild wiederholte sich. Wie ein Bumerang flog es auf Reimers zu, traf ihn hart im Zentrum seines Bewusstseins, verfolgte ihn bis in seine Träume. Es war das Bild von einem auf dem Bauch liegenden, korpulenten Mann auf einer norditalienischen Intensivstation. 

Bergamo! Sag es doch. Sprich das Wort aus. Wir kennen es alle. Wir haben die Bilder gesehen. Bilder aus Bergamo im März 2020. Sie haben Spuren in unserem Kopf hinterlassen, unsere Synapsen geschreddert. Bergamo, immer wenn wir den Namen dieser Stadt hören, werden wir uns unserer Steblichkeit bewusst werden. Ist das etwa nicht gut? 

Der Mann erinnerte ihn an einen gestrandeten Wal. 

Aber hey! 

Cool down, Reimers! 

Was kannst du für Defekte im Immunsystem anderer?

Um sich nicht in sich selbst zu verlieren, verordnete er sich ein Nachrichtenverbot der öffentlich-rechtlichen Sender. Informationen, die ihn weniger beunruhigten, konsumierte er auf den alternativen Medien im Internet.  

Im Anblick der Polarität der Statistiken begriff er plötzlich, warum jemand zum Verschwörungstheoretiker wird.  

Es gab viele Ungereimtheiten. Widersprüche, es gab Studien, die einem den tem gefrieren ließen. Experimente und Gegenexperimente, Schicksale. Wem konnte man vertrauen? Wer sagte die Wahrheit? 

Reimers kam es vor, als bauten sich die Leute die Welt, wie sie ihnen gefällt.

Das hatte was für sich.

Aber es machte ihm auch Angst.

Diese vielen Stimmen, die da mit ihm sprachen. 

Jede Minute ein neues Statement zum Virus.

Brauchte man die Wuissenschaft gar nicht?

Den Zweifel, der mit ihr einhergeht?

Verführerisch war der Gedanke, und Reimers machte sich natürlich Sorgen um sein Geschäft. Wenn das Volk an die Macht kommt, ist Polen offen, wie sein Vater zu sagen pflegte. 

Trotzdem!

Die Ereignisse im Frühjahr 2020 nahmen ihn mit, stärker, als er sich eingestehen konnte. 

Manchmal schlug sein Herz als wollte es aus seinem Brustkorb springen.

Motten fraßen sich in sein Seelenkostüm, Panikattacken suchten ihn heim, Schweißausbrüche, Schwindelgefühle, am schlimmsten war der wie eine Heftzwecke in der Hinterwand seines Ohrs steckende Tinitus, ausgelöst durch den beklemmenden Widerhall seiner Schritte in den leeren Produktionshallen.  

Er vermisste die Arbeiter, die er sonst mit einem kurzen Nicken begrüßte. Den Zigarettengeruch in der Raucherzone, die immer müden, traurigen, oft stumpfen Gesichter, in denen geschrieben stand: Ich kann eiegntlich nicht mehr. Aber ich mache trotzdem weiter. Er vermisste die Witze, die man ihm erzählte. Manche waren so versaut, dass er sich zu einem Lachen zwingen musste. 

Beethoven hörte er in dieser Zeit. Seine Symphonien, hoch und runter. Und Rammstein, damit er zu weich im Herzen wurde. 

Tavor packte seine geschundene Seele in Watte. 

2,5 mg pro Tag.

Wie er die Stumpfheit genoss, das Gefühl, alles ertragen zu können, selbst die peinigenden Prozesse einer zukünftigen Insolvenz. Unter souveränem Lächeln sah er sich durch das applaudierende Spalier laufen, das die Arbeiter zur Feier der Pleite gebildet hatten. 

Mit der Tablette verschwand auch das lästige Mitleid mit den Menschen, die zu wenig Geld verdienten für das, wa sie täglich an Arbeit verrichteten.  

Alles, was ihm etwas bedeutete, Geld, Poloshirts, schnelle Autos, lösten sich auf im Lorazepam-Nebel seines Kopfes. 

An dem Tag, als er von seiner Hausbank per SMS die Nachricht bekam, dass die angekündigte Staatshilfe auf sein Girokonto eingegangen war, freute er sich wie ein Schneekönig.  

Er tanzte im Garten. Allerdings auf gemähtem Rasen. Schnee war schon in seiner Kindheit ein Mythos gewesen. Und wenn er nicht einmal jährlich nach Ischgl zum Ski fahren reisen würde, würde er nicht glauben, dass es Schnnee wirklich gibt. 

Eine Träne löste sich aus seinem Auge, floß in einer markanten Rinne durch sein Gesicht, bis sie abtropfte und sich für den Bruchteil einer Sekunde als winziger Tropen auf der Spitze seines rahmengenähten Lederschuhs von Melvin&Hamilton offenbarte, in der sich sein Gesicht auf wundersame Weise spiegelt.    

In diesem Moment wusste er, dass er die Krise überleben würde, durch entsprechende Maßnahmen möglicherweise mit Gewinn oder zumindest ohne größeren finanziellen Verlust aus ihr hervorgehen würde.  

Im Notfall, das hatte der Vater immer gepredigt, kann sich ein Kapitalist auf den anderen verlassen. 

Wie Recht er hatte, dieser kleine, hagere Mann aus dem Schwäbischen, in seinen maßgeschneiderten, polyesterfreien Anzügen mit Kissing-Buttons und farbigem Kragenfilz. Den Fokus der Wahrnehmung auf das lenken, was man gerade tut. Handlungsorientiert leben, das Leben als Programm ständiger Bewährungsproben des eigenen Selbst begreifen. Dass es genau darum geht, um nichts anderes, hatte er gelernt, wenn er als kleiner Junge den Vater durch den Spalt der angelehnten Badezimmertür bei der Rasur beobachtete: In vollem Bewusstsein seiner selbst die  Rasierseife in den Tigel füllen, den Rasierpinsel in die edle Schale mit warmen Wasser tauchen, die Rasierseife cremig schlagen und mit dem Pinsel ums Kinn verteilen, die eingeweichten Barthaare mit der scharfen Klinge seines Mühle Rasierspinsel Silberspitz Dachzupf in aller gebotenen Gründlichkeit entfernen – jede Bewegung eine Demonstration seiner Stärke.  

Der Vater hätte keine Angst vor einer Kontaminierung mit dem Virus gehabt, ihn höchstens als potenziell wirtschaftliches Problem betrachtet. 

Der Vater. Ach, Reimers´ Vater hätte den Mund weit geöffnet und die Aerosolwolke eingeatmet, so genussvoll wie die steifen Brisen Sylter Nordseeluft in ihren Herbsturlauben. Mit jeder Faser seiner Lunge.  

Man kann nur einen Schneemann bauen, wenn Schnee liegt – auf den Punkt gebracht war es jedenfalls das, was im Kapital stand.   

Und am Ende des Lockdowns schrieb Reimers seiner doofen Schweste dann noch, dass er das Buch auf ebay stellt.  

Einen doppelten Espresso sei es vielleicht wert. 

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