26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN
Burkhard Wetekam
Indianerabend
Unvorstellbar, in diesem Augenblick, einfach loszuschreien, hinauf bis in den zweiten Stock, dritter Balkon von links, wo eine Tür offensteht, böswillig weit.
Sie will nicht ins Ungewisse hineinrufen, in eine fremde Wohnung, aus der zudem dumpfe Bässe drängen und in dichter Folge die Straße überfluten. Schreien, denkt sie, das ist etwas für Bauarbeiter und Matrosen. Ihre Stimme klingt dünn und schrill, wenn sie laut wird.
Sie streicht die Haare nervös aus der Stirn, auf der in diesem Augenblick einer der ersten Regentropfen landet. Ein Möbeltransporter rollt an ihr vorbei, so dicht, dass sie das Gefühl hat, er rollt über sie hinweg. Drüben beim Gemüsemarkt räumen sie eilig die Auslagen ab.
Ihr Mantel, sandfarben, aus regendichtem Material, hängt, sie weiß es genau, an der Garderobe im winzigen Vorflur ihrer Wohnung. Haus- und Wohnungsschlüssel, auch das weiß sie genau, stecken in der rechten Außentasche des Mantels.
Leonhard würde das nie passieren. Leonhard muss mit seiner Geburt eine Garantie erworben haben, nicht in peinliche Situationen zu geraten, weil er für peinliche Situationen eine Fehlbesetzung ist. Undenkbar, dass er von der Arbeit aufspringen und einer plötzlichen Lust auf Salziges nachgeben würde, runterrennen, rüber zum Kiosk, um sich die schärfsten Kartoffelchips zu kaufen, dazu eine Flasche Wein, ohne das Etikett zu studieren.
Sich mit Leonhard zu vergleichen, das heißt, etwas von sich selbst aufzugeben.
Der Regen nimmt zu. Ein Tropfen rollt durch eine Stirnfalte, die sie nicht mag, und bleibt am oberen Ende ihres Nasenrückens liegen.
„Hallooo!“
Im Augenblick des Schreiens presst sie die Augen zu und versucht, nichts zu spüren. Ihre Kehle schmerzt, auch die Hand, mit der sie den Flaschenhals umkrampft.
Nach einer unendlich langen Zeit erscheint auf dem Balkon das schmale Gesicht eines Jungen, etwa vierzehn Jahre alt, der Sohn der Nachbarin. Sie kennt ihn vom Sehen. Ob er ihr mal die Haustür öffnen könne. Sie fuchtelt, während sie hinaufruft, sinnlos mit den Armen. Die Musik spektakelt ungedrosselt über die Straße hinweg. Der Junge nickt, kaum merklich, herablassend, wie ihr scheint, und verschwindet wieder in der Wohnung.
Das Summen des Türöffners erfüllt sie mit tiefer Dankbarkeit. Sie wirft sich gegen die schwere Haustür, saugt den Geruch nach Reinigungsmitteln und Bratfett ein, als hätte sie ein lange vergessenes Aroma wiederentdeckt.
Oben am Treppenabsatz wartet der Junge und glotzt sie an. Sein Haar, voller Gel, steht aufrecht wie nach einem elektrischen Schlag. Hinter ihm wummern die Bässe. Bevor sie ihm erklären kann, was passiert ist und dass sie nun noch irgendwie in ihre Wohnung gelangen müsste, ist er schon wieder weg.
Zögernd folgt sie ihm. Es ist ihr unangenehm, fremde Räume zu betreten, von Leuten, die ihr nicht sympathisch sind. Die Musik peitscht auf und betäubt zugleich. Schlachthausmusik, denkt sie. Dazu läuft im Wohnzimmer ein Fernseher ohne Ton, es riecht nach kaltem Rauch.
Sie hat keinen Freund, der eine zugeschlagene Wohnungstür öffnen könnte. Leonhard mit einer Rohrzange in der Hand – was für eine lächerliche Vorstellung! Sie will ihm wenigstens Bescheid sagen, dass sie sich verspäten wird.
Als sie ihr Handy aus der Tasche zieht, sieht sie den Jungen durch das Fenster. Er steht draußen auf dem winzigen Balkon, blickt neugierig nach rechts, in die Richtung, in der ihr eigener Balkon hängt. Es hat sie oft gestört, dass die Balkone in diesem Haus so wenig Abstand haben, man könnte sich beinahe die Hand reichen, und sie sind klein, diese Balkone, kaum größer als eine Badewanne, sie fühlt sich darin eingezwängt und zugleich bedrängt, wenn die Nachbarin Wäsche aufhängt.
Der Junge scheint sich überhaupt nicht mehr für sie zu interessieren. Andere Leute interessieren ihn wohl grundsätzlich nicht. Einer von denen, denkt sie, die immer irgendetwas hantieren oder dazwischen reden oder einfach weggehen.
Plötzlich steht er auf der Balkonbrüstung. Sie läuft quer durch das Zimmer, rutscht mit ihren feuchten Schuhen beinahe auf dem Laminatboden aus. Die Tür zum Balkon steht offen. „He, was machst du denn da? Lass das!“
Der Junge hält sich mit einer Hand am rauen Putz fest, mit der anderen fuchtelt er durch die regenfeuchte Abendluft. Sie ruft noch einmal. „Lass das!“
Natürlich müsste sie ihn von der Brüstung zerren, aber sie ist vollkommen gelähmt. Sie fürchtet, dass er das Gleichgewicht verliert, wenn sie auf ihn zu stürmt. Ein Film läuft da ab, und sie weiß nicht, wie man ihn anhalten kann. All das Unverfängliche des bisherigen Geschehens scheint nur dazu gedient zu haben, sie zum Teil eines perfiden Plans werden zu lassen. Sie wirft einen Blick nach unten, über die Brüstung, es kommt ihr vor, als hingen da Dutzende von Balkonen über- und nebeneinander, weit unten die grauen Fußwegplatten. Ihr wird übel.
Der Junge blickt konzentriert hinüber zum anderen, zu ihrem Balkon. Sie nimmt seine Bewegungen in Zeitlupe wahr: Ein wenig in die Knie gehen, sich in einer leichten Drehung zurückbeugen, sich abdrücken und in einer katzenartig gebeugten Haltung auf das Ziel zufliegen. Erst sieht es ganz leicht aus, so selbstverständlich, als hätte er das in Gedanken schon oft getan. Er fliegt weit, über die unsichtbare Grenze hinweg, die irgendwo im Luftraum zwischen seinem und ihrem Balkon verläuft. Mit einem Fuß landet er auf der feuchten Balustrade, geht in die Hocke, sitzt rittlings auf, rutscht wieder ab, sein Turnschuh zappelt für unendlich lange Sekundenbruchteile im Nichts. Dann findet er Halt.
Zum ersten Mal ist eine Regung in seinem Gesicht zu erkennen. Ein etwas verspanntes Grinsen, das Gesicht eines Spielers, der mit gigantischem Einsatz einen winzigen Gewinn eingefahren hat.
Sie hat das Gefühl, dass ihr Herz ein paar Schläge ausgelassen hat. Auf der Stelle will sie den Jungen zusammenstauchen. Will losbrüllen, wie hundert Matrosen und Bauarbeiter zur gleichen Zeit. Aber der Junge, jetzt drüben auf ihrem Balkon, tappt bereits auf steifen Beinen durch die angelehnte Tür in ihr Schlafzimmer.
Sie eilt in den Hausflur. Der Junge öffnet von innen ihre Wohnungstür. Ihr Herz schlägt noch immer einen wilden Rhythmus. Sie will ihm etwas entgegenschleudern – Du bist ja vollkommen bekloppt – aber ihre Kehle ist zu trocken. Sie drängt entschlossen in ihre Wohnung, schiebt ihn zurück, die Tür fällt zu, sie sind gefangen im winzigen fensterlosen Flur. Im gelblichen Schein der Wandlampe kommt ihr der Junge vor wie eine riesige Wachspuppe.
Er blickt sie an. In seinen blauen Augen leuchtet etwas, ein seltener Moment des Triumphs. Sie kann die Maßlosigkeit seines lebensmüden Verhaltens nicht verstehen. War es das wert?, will sie ihm an den Kopf werfen. Aber im gleichen Moment wird ihr klar, dass er das nicht verstehen wird. Sie bringt es nicht fertig, sein merkwürdiges Glück zu zerstören. „Das war olympiareif“, sagt sie durch die Zähne.
Er wartet auf etwas. Sie weiß nicht, wie man Heranwachsende seines Alters belohnen kann, ohne sich lächerlich zu machen. Sie kommt sich plötzlich unendlich alt vor. Aber unbedingt will sie ihm etwas geben, um das klamme Gefühl von Dankbarkeit loszuwerden. Noch immer hält sie die Chipstüte in der einen, die Weinflasche in der anderen Hand.
„Wie heißt du denn?“
„Dennis.“
„Brigitte.“
Sie wendet sich nervös zur Seite und streift dabei den Lichtschalter. Unvermutet stehen sie im Dunkeln. Aus Versehen berührt sie seinen Arm. Noch in der Finsternis, bevor es ihr gelingt, das Licht wieder einzuschalten, nimmt er ihr die Weinflasche aus der Hand.
Zum Glück klingelt ihr Handy. Leonhards Stimme klingt süßlich. Ob sie denn pünktlich bei der Promotionsfeier sein werde. Sie glaubt, im Hintergrund das Tuscheln einer Frau zu hören. Wie immer, wenn es darauf ankommt, weicht sie aus. Sie sei vom Regen überrascht worden, sagt sie, und werde etwas später eintreffen.
Der Junge hat sich auf ihren Schreibtischstuhl gesetzt und hält die Packung mit den Räucherstäbchen in der Hand.
„Lass das bitte liegen“, sagt sie.
Er grinste und liest vor, laut, aber stockend. „Fliegender Jogi. Indische Kräutermischung. Löse deine seelischen Blockaden, lass deinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf.“
„Leg es bitte wieder hin, ja?“
Um etwas zu tun, nimmt sie ihm die Weinflasche wieder ab und holt einen Korkenzieher.
„Darfst du das?“ Sie hat keine Ahnung, was Vierzehnjährige dürfen.
Es hat aufgehört zu regnen. Sie stellt die Flasche und zwei Gläser auf dem winzigen Balkontisch ab, zerrt einen zweiten Stuhl herbei. Es ist schon fast dunkel. Von nebenan klingt noch immer die Schlachthausmusik herüber, aber es kommt ihr so vor, als wäre es nicht mehr so laut. Sie sitzen im toten Winkel der Lautsprecher. Schweigen. Der Junge trinkt kleine Schlucke. Wahrscheinlich hat er irgendwo gehört, dass man Wein in kleinen Schlucken trinkt. Sie fühlt sich müde.
„Was machst du so in deiner Freizeit?“, fragt sie. „Außer Musik hören.“
Ihr Spott kommt ihr schäbig vor. Er scheint ihn nicht zu bemerken und zuckt mit den Schultern. Erst als sie schon nicht mehr damit rechnet, antwortet er: „Manchmal kommt ein Indianer.“
Sie bereut es, ihm den Wein gegeben zu haben. Er nimmt wieder einen kleinen Schluck. „Er kommt morgens, wenn meine Mutter zur Arbeit gegangen ist. Er klettert am Regenrohr hoch, bis auf unsern Balkon. Er kann besser klettern als alle Leute, die ich kenne.“
Der Junge scheint mit dem Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu sprechen.
„Gehst du nicht zur Schule?“
„Nicht, wenn der Indianer kommt. Schule ist doch Mist.“
Wieder klingelt ihr Handy. Sie spürt, wie ihr Herz schneller schlägt. Der Wein steigt ihr zu Kopf. Alkohol verträgt sie eigentlich gar nicht.
„Willst du nicht drangehen?“, fragt er. Sie weicht seinem Blick aus. Er hat plötzlich eine Zigarettenpackung in der Hand. „Hab‘ auch Räucherstäbchen. Nicht schlecht, was?“
Als er die Asche zwischen die Blätter einer Topfblume fallen lässt, stellt sie ihm eine Untertasse hin. Sie zeigt etwas beleidigt auf das dürftige Gewächs. „Eine Feuerbohne. Gab’s auch bei den Indianern.“
Er nickt, zieht an der Zigarette und stößt den Rauch nach oben aus. „Er hat mir schon viel erzählt über das Leben drüben.“
„Drüben?“
„Na, in Amerika, wo die Indianer gelebt haben.“
„Es leben immer noch welche da“, sagt sie.
„Jaa.“ Seine Stimme klingt überlegen, fast behäbig. „Aber nicht wie früher. Mein Indianer, der ist noch so einer, wie sie früher waren. Mit Lederklamotten und einem geilen Federschmuck. Ein Kämpfer.“
„Du willst mich verarschen.“
Er verzieht den Mund. „Vielleicht.“
Sie blicken eine Weile auf den Gebäudekomplex gegenüber. Sie glaubt sich zu erinnern, dass es der Sitz einer Berufsgenossenschaft ist. Als sie merkt, dass sie mit dem Fuß zur Schlachthausmusik wippt, hört sie sofort damit auf. Der Junge tritt die Kippe auf dem Boden des Balkons aus und zündet sich eine zweite Zigarette an.
„Hast du noch Wein?“
„Einen kleinen Schluck noch, ja?“
„Mein Indianer trinkt nie Alkohol“, sagt er. „Ich will auch mal so werden wie er.“
„Wie ist er denn?“
„Er macht halt sein Ding.“
Es wird kühler. Sie erschrickt, als nebenan jemand das Licht anschaltet und die Musik abrupt verstummt. Der Junge lässt sich blitzschnell von seinem Stuhl auf den Boden gleiten. Er zwängt seinen schlaksigen Körper unter Tisch und Stühle. Auf dem Balkon nebenan erscheint eine Frau im schlabbrigen Pullover. Ihr Gesicht wirkt im kalten Licht der Straßenlaternen leichenblass. Grimmig kreist ihr besoffener Blick durch die Nacht. Als die Nachbarin Brigitte bemerkt, streicht sie sich eilig eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Haben Sie Dennis gesehen? Ich meine … meinen Sohn?“
Brigitte zwingt sich, nicht auf den Boden ihres Balkons zu blicken, und verneint.
„Wenn ich den Kerl erwische, dann kriegt er was auf die Ohren!“
Brigitte spürt etwas. Eine warme, überraschend große Hand umfasst ihr Fußgelenk. Sie erstarrt. Eine zweite Hand umfasst das andere Fußgelenk. Es ist ihr unmöglich sich zu rühren.
Die Nachbarin steht leicht schwankend auf ihrem Balkon und blickt angeekelt auf die Straße hinab. „Der Kerl wird noch genau wie sein Vater. Das Aas.“
Endlich verschwindet sie in der Wohnung. Donnernd schließt sie die Balkontür.
Der Junge könnte wieder aufstehen, ohne gesehen zu werden, aber er tut es nicht. Brigitte versucht, sich auf das nass glänzende Dach der Berufsgenossenschaft zu konzentrieren. Es sieht aus wie auf einem düsteren Ölgemälde. Um sie herum existiert nichts Wirkliches mehr, nur dieser warme Griff um ihre Fußgelenke. Er ist zu fest, um zärtlich gemeint zu sein, aber nicht fest genug, als dass sie ihn für die Umklammerung eines Ertrinkenden halten würde. Dann hört sie seine Stimme.
„Ich will heute Nacht nicht rüber.“
Sie muss schlucken. „Dein Problem, oder?“
„Bitte!“
„Ausgeschlossen!“
Die Hände um ihre Fußgelenke lassen ihre Worte härter klingen, als sie das will. Aber dann löst der Junge den Griff. Er zieht seinen schmalen Körper zusammen und rollt ein Stück nach vorn. Er liegt da wie ein viel zu großer Embryo. Sie will aufstehen. Fühlt sich betrunken.
Zum dritten Mal klingelt ihr Handy. Sie hört es kaum noch. Spürt nur etwas wie Genugtuung bei dem Gedanken, dass Leonhard sie für eine Verräterin halten wird.
Mit einer Hand pflückt sie ein Blatt von der Feuerbohne ab. Sie beugt sich vor und streicht dem Jungen mit dem Blatt über Ohr und Wange. „Manchmal ist bei mir auch ein Indianer zu Besuch“, sagt sie und horcht auf die Stille zwischen ihren Worten. „Und manchmal braucht er einen Platz zum Übernachten. Dann sage ich ihm, das geht nicht. Aber ich glaube, er liegt trotzdem die Nacht über auf meinem Sofa. Bevor ich morgens aufwache, ist er verschwunden.“