26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Michael Bertleff

so ein holler

So spät der Herbst schon

Die roten Hagebutten

An kahlen Ästen

leben ist grenzwertig, die letzte grenze markiert der tod. er hat an meine türe geklopft. was ihn davon abhielt einzutreten, darüber kann ich nur spekulieren, denn jedes ende ergibt sich von anfang an aus einer verkettung von zufälligkeiten.

ich bin ein fetischist, wenn man so möchte. was ist das, ein fetisch? ein schelm, wer da sofort an lack, leder und handschellen denkt. ja, ich bin auch ein schelm. bin ich auch, aber darüber will ich hier nicht berichten. fetischismus ist der glaube an übernatürliche geister, unpersönliche mächte, die in bestimmten gegenständen wohnen. meine heimstatt ist übervoll mit fetischen. statuen, relikte, bilder, größtenteils von freunden. ein großformatiges ölbild gemalt von einer schizophrenen freundin, das den farbenprächtigen irrsinn der bipolarität erahnen lässt. ein gegenstand, dem zweifellos eine unpersönliche macht, die des wahnsinns, innewohnt, also ein fetisch. daneben eine druckgraphik, die eher in die kategorie lack, leder gehört, darunter eine goldglänzende ikone (jesus und die jünger). ist das ein fetisch? ein franziskuskreuz, ein alchemistenkreuz (die wahre alchemie wollte den menschen veredeln, nicht metall), ein ankh. eine ikone maria magdalenas (die die frau des mannes aus nazareth war. man hat sich nur entschlossen, eine andere geschichte zu erzählen). die salbende hure maria, ein fetisch?

indonesische masken von bizarren hinduistischen dämonen, die in ihnen wohnen (oder auch nicht, wer weiß).  ein ujama, in einen ebenholzstamm gemeißelte feine menschenfiguren, die verschiedene tätigkeiten ausüben. baumstamm und stammbaum. kifwebe masken aus dem kongo, tiergeister darstellend, die dem tänzer der die maske trägt, die kraft eines elephanten, die macht eines löwen oder die list einer maus verleihen sollen, ahnenfiguren aus sansibar (ich finde es beruhigend, einige ahnenfiguren um mich zu scharen).

eigentlich hatte ich nie kopfschmerzen, außer vielleicht nach einer durchzechten nacht, was mir nicht weiter bedenklich erschien.

als ich plötzlich an unerklärlichem kopfschmerz leide, versucht meine hausärztin, wie allgemeinmediziner das so tun, ihm durch schmerzmittel und antibiotika erfolglos beizukommen. eine neurologische untersuchung bringt keinerlei auffälligkeiten zutage.

bis ein aufmerksamer halsnasenohrenarzt eine “raumforderung”, wie er es nennt, in meinem rachen bemerkt, die meinen trigeminus reizt.

meine wohnhöhle beherbergt auch einige schnitzereien aus ostafrika, shetanis. skurrile figuren mit verzerrten gliedmaßen. in tanzania erklärt mir ein makonde, dass er beim schnitzen keine bildliche vorstellung hat, sondern den geist, der im holz wohnt, zu finden sucht und dass ich mir keinen shetani ausgesucht hätte, sondern dieser den weg zu mir gefunden hat.

nach einer biopsie und einer quälend langen wartezeit, eröffnet der otolaryngologe die befundbesprechung mit den worten: “wir brauchen gar nicht lange herumzureden”. da weiß ich sofort, was es geschlagen hat. ohne weitere erklärungen abzuwarten, frage ich “volles programm – chemo, bestrahlung?” ein klares “ja” seinerseits.  soweit die befundbesprechung.

in meinem hals wird ein fünf mal fünf zentimeter großes gewächs bösartiger zellen lokalisiert. “epipharynkskarzinom” (in der lautmalerischen sprache der weißmäntel). dieses etwas frisst sich gleichzeitig in meine wirbelsäule und in den schädelknochen. meine chancen sind grenzwertig. 

die seltsame figur eines kopfes aus schwerem ebenholz, circa vierzig zentimeter hoch, ein faltiges, grotesk lang gezogenes gesicht mit, wie bei einem stummen schrei aufgerissenem mund. markante zähne, die schwarze zunge herausgereckt, weite, hervortretende augen. ein kopf, der auf einem überlangen, immer dünner werdenden hals sitzt. ohne oberkörper, ohne schultern, nur ein langer, gebogener, wie abgeschnürt wirkender hals. dieser shetani begleitet mich seit jahrzehnten, steht immer an einem zentralen punkt in meinen (allzuvielen) wohnzimmern. jahrelang hatte sich mir die bedeutung, die dieser fetisch für mich hat, nicht erschlossen, bis zu diesem punkt.

“ich sehe, sie haben flöhe und läuse”, meint der onkologe trocken, als sich herausstellt, dass mir nicht nur ein tumor im rachen, der meinen schädel perforiert, zu schaffen macht, sondern, unabhängig davon, zusätzlich noch ein blutkrebs, “morbus hodgkin”, den der launige professor als “ein schoßhündchen der onkologie” abtut. “das ist routine”. vielleicht für ihn, für mich ist es das nicht. 

das karzinom in meinem nasenrachen scheint ihm da eine weit interessantere herausforderung zu sein. also steckt man mir fürs erste einen strohhalm in jedes nasenloch und übergießt mich mit flüssigem plastik, um einen abdruck meines kopfes und oberkörpers anzufertigen. alles nur routine. ich habe noch nie panik gehabt, nie. bis zu diesem moment.

monatelang werden daraufhin meinem körper, in wiederkehrenden zyklen chemotherapie, so viele gifte zugeführt, dass die, die ich mir in den jahren davor selbst reingezogen habe, daneben wie ein kindergeburtstag wirken.

in einer tonnenschweren, brummenden, futuristisch anmutenden maschine bekomme ich mehr radioaktive strahlung ab als drei friedliche bauern in tschernobyl zusammen. festgeschnallt unter einer hartplastikschale, die über meiner nase zwei kleine löcher zum atmen offen lässt, kämpfe ich gegen die aufkeimende panik und atemnot mit autogenem training an (oder dem, was ich dafür halte). auch wenn ich mir nur schnell ein buch über diese technik angelesen habe, funktioniert das überraschend gut.              

um die sache rund zu machen, habe ich mir zusätzlich noch einen multiresistenten krankenhauskeim eingefangen. was mir, ehrlich gesagt, nicht ungelegen kommt, weil ich in ein einzelzimmer verlegt werde.  wenn man schon selbst mehr als genug probleme hat, ist es nicht hilfreich, zu allem überfluss noch das gefühl zu haben, sich um drei weitere zimmergenossen kümmern zu müssen, deren zustand bemitleidenswert bedenklich erscheint. nur wenige menschen dürfen mein zimmer betreten, etwas, das mir auch ganz recht ist.  jeder, der sich mir nähert, muss einen grünen papieroverall, gesichtsmaske, mützchen und papierschuhe tragen. bizarr, doch das schafft abstand, und ich kann mich auf meinen körper konzentrieren. so begünstigt der keim, der mir sonst keine weiteren probleme bereitet, entgegen der vermutung, meine heilung wahrscheinlich mehr, als er sie behindert.

ich würde nicht behaupten, dass der shetani mir das leben gerettet hat, aber wenn es jemand tut, würde ich ihm auch nicht widersprechen.

was ist eigentlich der unterschied zwischen fetischismus und naturmystik? 

draussen ist es kalt, in mir auch. die chemotherapie hat mich heute schlimmer erwischt als sonst. auch wenn mein hund besonders feinfühlig für meinen zustand ist, muss er doch in nächster zeit unbedingt mal vor die türe, also beschließe ich eine von den zigaretten, marke “bob marley”, zu rauchen. was mir, in kombination mit den medizinisch indizierten giften, die meinen körper durchströmen, eine wahrnehmungsebene eröffnet, die man als nicht vollständig alltagstauglich bezeichnen muss. besondere umstände erfordern besondere maßnahmen. das mag zwar nicht ganz legal sein, verbessert aber zumindest für die nächsten stunden erheblich meine laune, vertreibt düstere gedanken, steigert meinen appetit und erspart mir einiges an chemischen keulen, zu denen ich ganz legalen zugang habe.

mein hund spricht, wie die allermeisten tiere, nicht viel, und doch drückt er vieles auf seine art aus. er weiß mehr, als man denken sollte. obwohl er zweifellos weniger sinniert als ich, kann er meine gedanken lesen. nicht im sinne von esoterischem hokuspokus. er liest mich.

wenn ich daran denke, mit ihm spazieren zu gehen, reagiert er sofort. meist in der form, dass er aufsteht und sich streckt. ich habe mehrmals versucht, ihm den rücken zuzuwenden und an einen spaziergang zu denken. eine reaktion kommt trotzdem prompt, außer, er schläft gerade und durchlebt dramatische träume, was ich an seinem zucken, wimmern und augenrollen deutlich ablesen kann. während ich nach worten suche, um eine geschichte zu erzählen, durchlebt er wilde träume, da frage ich mich, wer eigentlich der klügere von uns beiden ist.

wenig später spazieren wir entlang des liesingbaches, die frische luft tut uns beiden gut. da ich viel trinke, um die gifte, die in meiner blutbahn zirkulieren, wieder herauszuschwemmen, meldet meine blase ein dringendes bedürfnis. ich suche einen platz hinter einem hollerbusch. nachdem ich mich erleichtert habe, packt mich das unerklärliche gefühl, dass sich um den busch und mich ein nebel bildet, der mich aufnimmt. ungläubig trete ich zwei schritte zurück und betrachte die dichte wolke, die den kleinen baum umhüllt, auch wenn ich meiner wahrnehmung in diesem zustand, nicht völlig vertraue, trete ich doch wieder hinein und atme. die gefühle, die mich in diesem moment erfüllen, kann ich kaum beschreiben.

wahrgenommen, verstanden, geprüft und angenommen. tief erleichtert trete ich irgendwann wieder aus dieser surrealen atmosphäre heraus und bin mir zum ersten mal sicher, dass ich diesen grausamen lebensabschnitt hinter mir lassen werde, weil, so seltsam es klingen mag, etwas beschlossen hat, dass es so sein soll.

mein hund begrüßt mich schwanzwedelnd, als ob ich lange fort gewesen wäre. er hat etwas verstanden, das man rational nicht verstehen kann. irgendwann habe ich laut darüber nachgedacht, als “hundeflüsterer” zu arbeiten. großes gelächter, obwohl alle in meinem umfeld wissen, dass ich mit hunden umgehen kann und sie mich lieben, gerade weil ich sie, soweit als möglich, das tun lasse, was sie möchten,

was von “hundeerziehern”, nicht zu unrecht, als “der mocht jo wos a wü” ausgelegt wird. mein hund gehorcht nicht immer, aber er weiß in welcher situation es besser für ihn ist, mir zu vertrauen.

das war mir sowohl bei der erziehung meiner kinder als auch bei der meines hundes wichtiger als “gehorsam”, und ich habe es nie bereut. ich verstoße hartnäckig gegen die leinenpflicht. leinenfreiheit für alle lebewesen (außer bergsteiger)! der mensch begann mit dem wolf zu leben, damit dieser den weg sichert, frei herum läuft, vor gefahr warnt und aufstöbert, was sich zu jagen lohnt. ob die dunkle gestalt dort hinter der ecke nur rastet oder auf mich wartet, erkennt er früher als ich und wird es mir mitteilen.

am tag nach meiner mystischen begegnung mit dem hollerbusch beginne ich nach hintergründen für mein abendliches erlebnis zu suchen. durch meine tätigkeit als fremdenführer kenne ich einige heiligengeschichten, erinnere mich, dass der hollerbusch eine wichtige rolle in der vita des ehemaligen landespatrons österreichs, dem heiligen koloman, spielt, der als irischer pilger auf der durchreise für einen böhmischen spion gehalten und an einem hollerbusch erhängt wurde, worauf dieser busch im oktober zu blühen begann. die darstellung eines blühenden hollerbusches auf altären weist meist auf diese heiligenlegende hin.

wie viele christliche symbole wurde auch dieses aus vorchristlicher zeit übernommen. die hollerblüte war bei den kelten, die um vierhundert v.chr. unseren raum besiedelten, ein symbol für frau perchta. eine muttergöttin, die die natur beherrscht und der besonders im herbst gehuldigt wurde, eine naturgottheit, die in den ländlichen perchtenläufen und in der märchenwelt als “frau holle” bis in unsere zeit überlebt hat. 

mein hund hat das intuitiv verstanden. wenn ich ihm beim schnüffeln zusehe, ahne ich, dass er das prostataproblem des alten mannes, der hier gegangen ist, genauso wahrnimmt, wie die fröhlichkeit des kindes an seiner hand, ohne auch nur irgendetwas davon benennen zu können oder zu müssen.

wenn es mir zwischen bestrahlung und chemotherapie abgrundtief schlecht geht, reagiert er sofort, erkennt, ob es im kopf,  im kreuz oder im magen zwackt und legt sich, ohne ein wort zu verlieren, an meine seite. sobald es mir besser geht, fordert er mich auf, mit ihm spazieren zu gehen. zuerst mit einem blick, dann knurrend, wenn ich immer noch nicht reagiere, mit einem fordernden bellen. recht hat er, weil es lebensnotwendig ist in diesem fragilen zustand, in dem ich mich befinde, in bewegung zu bleiben.

so ein holler. fetisch, mythos oder hirngespinnst? jedenfalls bin ich überzeugt, dass ich an jenem abend mit einer kraft der natur bekanntschaft gemacht habe, die menschen seit jahrtausenden in irgendeiner form beschäftigt. im burgenland kennt man den spruch “vurm holla ziagt man huad!” das tue ich immer wieder mal, vor einem hollerbusch am liesingbach, mit dem mich viel verbindet. 

fetische und mythen alleine machen noch keinen sommer. vor allem braucht man freunde und möglichst nicht ausschließlich menschliche.

seit dem mittelalter haben sich alle versuche der philosophie, den unterschied zwischen mensch und tier eindeutig zu definieren, als haltlos erwiesen. aristoteles bezeichnete den menschen als “anima rationalis” (denkendes tier). mein hund hält tun für eindeutig wichtiger als denken.

von ihm habe ich gelernt, dass nur fressen, kuscheln und spielen glücklich macht, auch dafür schätze ich ihn. wir sind nicht klug genug, um zu verstehen, wie klug tiere sind.

heute gelte ich als (vorerst) geheilt. nicht erlöst, nur geheilt. die erlösung schwebt über mir, wie ein damoklesschwert. das ist in wirklichkeit für jeden so, für mich vielleicht nur noch wirklicher. die wirkliche wirklichkeit ist meist zu kompliziert, um sinnvoll darüber nachdenken zu können. zeitverschwendung! time is money – angeblich. wers glaubt, wird selig. ich hab da meine zweifel.

so, jetzt muß ich schluss machen. piri stuppst mich gerade an, sie möchte nämlich wieder mal raus, und mir wird ein spaziergang auch gut tun.

Im stillen Dämmern

Das Bellen eines Hundes

Vor Jahresende.

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