3. Platz Dt. Kurzgeschichtenwettbewerb

 

3.000 Meter von Heike Schwarze

0 m

Beim Blick aufs Wasser kommen Vera die Tränen, also setzt sie schnell die Brille auf. Nicht die bequeme Zoggs, mit der sie sonst schwimmt. Nein. Heute muss es die Schwedenbrille sein, die so eng sitzt, dass die Abdrücke noch am Abend ihre Augen umkreisen werden. Heute wird richtig geschwommen, so wie früher. Wer weiß, wann es in der Zukunft wieder geht.

75 m

Der Anfang ist immer am Schwersten. Vom Alltag müde Knochen, die keinen Meter vorwärts kommen. Die ersten 200 Meter möchte sie nur raus aus dem Wasser. Aber gleich wird es besser. Gleich wird es immer besser. Also weiter, immer weiter.

250 m

Langsam tauen ihre Arme auf. Sie zieht rechts, links, rechts, links und atmen, rechts, links, rechts, links und atmen. Es gibt nichts zu erreichen und nichts zu tun, denkt sie, wie sie es vor einigen Jahren im Achtsamkeits-Kurs gelernt hat, als es bei der Arbeit zu viel wurde. Nichts zu erreichen, nichts zu tun, nur rechts, links, rechts, links und atmen. Wer schwimmen kann, lange schwimmen kann, der braucht eigentlich keinen Achtsamkeits-Kurs. Der ist im Hier und Jetzt, bei sich. Denkt Vera zumindest. Aber heute? Ist sie das sicher nicht.

340 m

Leider ist ein Ohrwurm mit ins Becken gekommen. Sie sollte wirklich mal den Radiosender wechseln. Rechts, links, rechts, links und atmen, und I gotta take a little time, A little time to think things over. Oje. Dazu hatte Bernhard sie damals zum Tanzen aufgefordert. War natürlich nicht ernst gemeint, I want to know what love is, ha ha, I want you to show me und ein theatralischer Griff ans Herz. In seiner Hochzeitsrede hat er dann später noch ein bisschen was dazu gedichtet. In my life there’s been heartache and pain, I don’t know if I can face it again, jetzt reicht es aber, energisch stößt sie sich von der Wende ab. Andere Platte bitte, ganz schnell andere Platte. Zur Not hilft zählen, das lenkt ab. Ein Schäfchen springt über den Zaun, dann zwei, dann drei, dann vier und eins, zwei, drei, vier, eins, zwei, drei, vier, na bitte, die Arme haben den Rhythmus wieder, eins, zwei, drei, vier und atmen. Einfach alles wegatmen.

475 m

Von-von Blunck weiß noch nicht, dass sie morgen nicht zur Arbeit kommt. Nicht mal Bernhard hat sie bislang Bescheid gegeben. Dabei sind es auch seine Kinder, deren Mutter stirbt, drei, vier und atmen.

500 m

Mal langsam, Drama-Queen, schimpft sie mit sich selbst und schwimmt zur Strafe etwas schneller. Der Arzt ist zuversichtlich. Morgen die OP, dann sechs Wochen Pause, dann die Bestrahlung, Antihormontherapie, alles wieder gut. Sagt der Arzt. Wäre es nicht zum Heulen hätte sie fast gelacht: Wie der sein um Zuversicht bemühtes Gesicht neu sortieren musste. Er erklärt ihr im Detail den Behandlungsablauf und ihr rutscht, noch geschockt von der Diagnose, nur ein Aber die Freibäder haben doch gerade erst wieder aufgemacht heraus.

620 m

Rechts, links, rechts, links, sie will sich nicht die Brust auf- und die Lymphknoten aus dem Arm schneiden lassen, der linke Arm zieht jetzt schon so schwach, rechts, links, sie will nicht Markierungen auf ihrem Oberkörper für die Bestrahlung geklebt bekommen, mit denen sie nicht einmal in die Badewanne darf, geschweige denn ins Freibad, rechts, links, sie will nicht wochenlang, nein monatelang auf das Schwimmen verzichten, aber Marker eintätowieren zu lassen klingt noch schlimmer, rechts, ein Fuß kommt in Sicht, links, Mist, verschluckt. Hustend hält sie einen Moment am Beckenrand inne. Ach, scheiß auf den Vierer-Zug. Es gibt nichts zu erreichen und nichts zu tun, nur weiter, immer weiter. Bis ans Ende der Bahn und wieder zurück, ans andere Ende. Die Bahnen, sie zählt lieber die Bahnen. Bahnen ziehen, Bahnen zählen. Immer weiter, immer weiter. Bis man sich verzählt. Eins…

1.304 m

Das ist doch ein komischer Sport, sagte Bernhard mal, als sie sich noch nicht gut kannten. Wenn man neben dem Becken herlaufen würde, wäre man doch schneller.

Stimmt, hatte sie gesagt. Zweiundfünfzig. Stimmt ja auch. Aber darum geht es nicht. Dann schaltete Bernhard den Fernseher ein, um das erste Formel-1-Rennen in Bahrain zu schauen. Aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen hat sie ihn später trotzdem geheiratet. Dreiundfünfzig. Mal eine Bahn tauchen, dem Gehirn würde weniger Sauerstoff gut tun. Dann denkt es weniger.

1.560 m

Bernhard, was für ein altertümlicher Name, sagte ihre Mutter in den ersten Jahren immer. Nicht zeitgemäß, würde von-von Blunck sagen. Geregelte Arbeitszeiten, nicht zeitgemäß, Weihnachtsgeld, nicht zeitgemäß, betriebliche Altersvorsorge, nicht zeitgemäß, Frauen in Führungspositionen, nicht zeitgemäß. Zumindest nicht bei der von-von Blunck GmbH.

1.716 m

„Wir wären fast zusammengestoßen“, prustet der Mann, der laut der Beschriftung seines Schwimmbretts Matze-TSG heißt, als sie sich an der Wende die Brille richtet. „Ich habe dich erst im letzten Moment gesehen.“ So gehen Männer mit ihren Fehlern um, schreit sie ihn an, aber nur in Gedanken, wir wären fast zusammengestoßen! Statt: Ich wäre fast in Sie reingerauscht, weil ich eine derart schlechte Wasserlage habe, dass ich mich voll und ganz darauf konzentrieren muss, nicht abzusaufen und dabei nicht nach vorne schauen kann und deshalb nicht gesehen habe, dass sich da eine Person rücksichtsvoll in die äußerste Ecke der Bahn quetscht, um niemandem im Weg zu sein! Stattdessen lächelt sie Matze-TSG freundlich an, gibt einen Gluckslaut von sich, den er als Zustimmung werten kann. So gehen Frauen mit Fehlern von Männern um, denkt sie und prügelt weiter auf das Wasser ein, rechts, links, immer weiter.

1.995 m

Krebs jetzt also. Was für ein Scheiß. Eine Mutter hat sie schon beerdigt, weggefressen von Metastasen in allen erdenklich wichtigen Organen. Einen Vater hat sie schon beerdigt, denn selbst an Prostatakrebs kann man sterben. Dabei sind die Ärzte da auch immer so zuversichtlich. Ein gänzlich unwillkommener Gedanke. Lieber noch eine Bahn tauchen.

2.003 m

Um die Wut irgendwie loszuwerden schwimmt sie eine Bahn mit geballten Fäusten und dann wieder normal. Was ihre Handflächen doch für formidable Baggerschaufeln sind! Der Sadhu in der Thar-Wüste, der selbst nichts brauchte zum Leben, wollte ihr ein Geschenk mitgeben. Ein spirituelles Geschenk. Vielleicht ahnte er etwas von den Flitterwochen, jedenfalls betrachtete er lange ihre Hände. Du hast große Hände, sagte er schließlich, du wirst etwas Großes erschaffen mit deinen großen Händen. Behauptete zumindest der Übersetzer. Shukria, erwiderte sie ehrfürchtig, aber der Übersetzer schüttelte den Kopf, der Sadhu spricht kein Urdu, er lebt in einer anderen Welt. Später war sie von der Begegnung weniger beeindruckt. Vielmehr war es ihr erschienen, dass der weltabgewandte Sadhu noch nie zuvor einem 1,82 Meter langen Frauenkörper gegenüber gestanden hatte, der noch dazu um die 87 Kilo auf die Waage brachte. Etwas Großes schaffen, ha! Daran hätte von-von Blunck seine Freude gehabt.

2.005 m

You are a strong woman, flüsterte ihr der Kollege nach dem Fauxpas beim Kongress in London aufmunternd zu, was ihre Ohren in Ich will auf gar keinen Fall mit dir schlafen übersetzten. Aber da hatten sich die Ohren doch ein bisschen verhört.

2.014 m

Dieser große starke Körper. Wie hat sie ihn sich früher anders gewünscht, schlanker und zierlicher und weiblicher, einfach insgesamt schöner. Und jetzt lässt er sie so im Stich.

2.020 m

Während Arme und Beine weiter im Takt schlagen, rechts, links, dreht sie sich in einer fließenden Bewegung von der Bauch- in die Rückenlage, um einen Blick auf die Digitalanzeige zu werfen. Zwanzig nach zwölf, sie liegt gut in der Zeit. Weiter.

2.025 m

Sie weiß, dass ihr Körper im Wasser eine Eleganz erreicht, die ihm an Land fehlt und schon wieder dieser Fuß, ach, Matze-TSG ist das, dem wird sie es zeigen. Sie setzt zum Sprint an. Wie herrlich sich das anfühlt. Von außen betrachtet macht die Temposteigerung bestimmt nicht viel her, aber in ihr drin: Lipizzaner im Galopp. Sie hält auf die Wende zu, trifft die Wand perfekt und nimmt die Schwungkraft ihrer Rollwende mit in die neue Bahn. Schafft einen Tauchzug bis zur 15-Meter-Markierung und ist schon wieder fast am anderen Ende angelangt, während Matze-TSG noch dämlich auf seiner Smartwatch herumdrückt.

2.146 m

Jetzt soll sie also sterben, mit 43. Hätte sie den Brustkrebs mit Mitte 30 bekommen hätte alles auf eine verquere Art und Weise Sinn ergeben, zumindest, dass es mit dem Kinderkriegen partout nicht klappen wollte. Aber jetzt sind die Kinder da und noch so klein, verdammt! Immer diese elende Ausdauer, die es zum Leben braucht. Dafür, Karriere zu machen. Kinder zu bekommen. Bernhard endlich los zu werden. Jetzt dafür, dass die Kinder nicht nur eine gute, sondern überhaupt eine Mutter haben. Noch eine Bahn tauchen.

2.265 m

Sie hat die Kinder genommen, und Bernhard: Biggi und Paolo, die Meerschweinchen der Kinder. Jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten, denkt sie und kann sich ein gehässiges Grinsen nicht verkneifen. Wobei es auch die Tiere nicht leicht mit Bernhard haben: Biggi ist schon Version 3.0 und Paolo inzwischen eine Paola, was die Kinder niemals wissen dürfen. Aber sie sehen sich ja nur alle zwei Wochen, die Kinder, Biggi und Paolo. Und Bernhard. Rechts, links und atmen.

2.300 m

Was denn der Benefit von Gleichberechtigung sei, fragte Lindermann sie einmal im Strategiemeeting, als er gerade erst zum Senior aufgestiegen war, die kleine Pissnelke. Sie hatte ihn wortlos angestarrt, weil sie alle Kraft aufbringen musste, ihm nicht ins Gesicht zu schlagen. Und jetzt ist er ihr Vorgesetzter, mit 28. Als sie von-von Blunck zur Rede stellte, wieso er den Grünschnabel befördert und sie mal wieder übergeht, zuckte er nur mit den Achseln und sagte, dass der Kollege eben stets die Extra-Meile ginge, also übersetzt gesagt nicht Feierabend macht, wenn die Kita schließt. Aber sie hat sich dafür gerächt. Oh ja, sie hat sich richtig gut gerächt an von-von Blunck, rechts, links. Und atmen. Der Benefit vom Tumor ist, dass sie die Flachpfeifen auf der Arbeit eine Weile nicht sehen muss.

2.455 m

Und dann ihr bescheuerter Frauenarzt. Sehen Sie es doch mal positiv, hat der ernsthaft beim letzten Termin frohlockt. Wenn die Sie jetzt vorzeitig ins Klimakterium versetzen, erledigt sich die Endometriose vielleicht gleich mit. Ja, echt super: Vielleicht. Ein echter Benefit. Tauchen, SOFORT!

2.552 m

Sehr geehrter Herr von Blunck, diktiert es im Kopf, da ich mich auf unbestimmte Dauer krankmelden muss und wir uns deshalb leider, leider eine Weile nicht sehen werden, möchte ich auf diesem Wege eine Sache klären, die mich schon lange beschäftigt: Sicher fragen Sie sich, wer Ihnen nach der letzten Weihnachtsfeier den Aufkleber des Ihnen so verhassten „Underdog-Vereins“ FC St. Pauli auf das Heck Ihres Teslas geklebt hat und – oh nein, Matze-TSG ist mit Flossen und Schnorchel bewaffnet im Anmarsch…

2.625 m

Hallo Bernhard, diktiert es weiter im Kopf, ruf mich bitte mal an. Wir müssen etwas Wichtiges besprechen. PS: Und vergiss nicht, dass Biggi und Paolo täglich frisches Wasser brauchen! Bei Fressnapf Altona gibt es aktuell keine Schwarz-Braun-Gescheckten mehr!

2.680 m

Lieber Herr von Blunck, ich frage mich das nämlich auch ständig, da ich dem oder der Täterin zu diesem genialen Einfall gratulieren möchte. Was haben Sie getobt, es war eine Freude. Aber wo wir gerade dabei sind: von mir haben Sie den Ihnen ebenfalls so verhassten Spitznamen, und ich meine jetzt nicht „Montblunck“ oder „Flunkibluncki“, sondern d e n Spitznamen, den inzwischen wirklich die gesamte Belegschaft benutzt sowie auch einige Geschäftspartner…

2.700 m

Genug jetzt, nur noch ein paar Bahnen ausschwimmen. Vera dreht sich auf den Rücken, gönnt Armen und Beinen eine Pause und zieht ihre vier müden Tentakel wie eine Qualle hinter sich her. Matze-TSG, der den Tempowechsel nicht mitbekommen hat, produziert fast den nächsten Auffahrunfall. Egal. Herrlich, sich so treiben zu lassen. Es gibt nichts zu erreichen und nichts zu tun, nur die trägen, kreisenden Bewegungen der Arme und Beine. An diesem Punkt möchte sie das Wasser nie verlassen, zögert den Abschied immer weiter hinaus. Heute erst recht. Na gut, noch eine Bahn, zum Abschied. Gar nicht so schlecht heute, das Wasser. Angenehm kühl, guter Griff. Lässt sich ordentlich wegschaufeln. Und auf der Haut fühlt es sich an wie die Satinbettwäsche, in der sie und Bernhard früher ganze Wochenenden zugebracht haben, bevor es die Kinder gab. Na gut, eine Bahn noch. Rechts, links, egal.

3.000 m

Ah, wie schön.

Jetzt kommt an diesem trüben Tag doch die Sonne raus und schickt Strobo-Licht Richtung Grund, wo Vera mit Froschbeinen noch eine Bahn taucht. Sie fühlt sich, als sei sie in ein Gemälde von David Hockney gefallen. Dagegen kommt selbst die Diagnose nicht an. A bigger splash, oder nein, Portrait of an Artist, Millionen wert, unbezahlbar, aber hier umsonst, also, abgesehen von den 3,70€ für den Eintritt.

Ihre Laune hebt sich, trotz allem.

Wie könnte sie auch nicht? Alles um sie herum glitzert! So sieht Zuversicht aus, du Scheiß-Arzt! Sie hat versucht, ihm zu erklären, weshalb sie als Erstes ans Freibad denken musste, nachdem er ihr eröffnet hatte, dass da ein Tumor aus ihr herausgeschnitten werden muss. Aber wieso sie so gern schwimmen geht, wieso es richtig weh tut, wochen-, monatelang darauf verzichten zu müssen, das hat er nicht verstanden.

Ist das nicht furchtbar langweilig, immer nur die Kacheln zu zählen?

Echt mal, dieser Arzt ist fast so bräsig wie Bernhard. Und von dem soll sie sich aufschneiden lassen? Nein danke. Wie kann der nicht kapieren, wie befreiend es ist, schwerelos zu sein. Wie beglückend, Auftrieb zu haben. Wie friedlich, die Stille unter Wasser zu genießen. Nicht erreichbar zu sein für die von-von Bluncks und Lindermanns dieser Welt. Vielleicht hat der Arzt auch einfach kein Leben, von dem er ab und zu mal abtauchen muss, und keine – Moment mal, so spät schon? Ich muss los!

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