Jurypreis Dt. Kurzgeschichtenwettbewerb

 

Thorsten N. Siche: Bei Kerbers nebenan

 

I

Sobald es wieder losgeht, bin ich beinahe erleichtert. Ich krieche an der Wand entlang, reibe meine Stirn an der rauen Struktur der Tapete, mit angehaltenem Atem hocke ich so auf allen Vieren.

Alle Lichter sind gelöscht, die Vorhänge zugezogen. Ich will nicht gesehen, keinesfalls möchte ich als die erkannt werden, die ich möglicherweise bin. Ohne es zu wollen, geht mein Blick immer wieder zur Tür, die nur angelehnt ist. Natürlich bin ich allein, trotzdem spüre ich dieses Kribbeln im Nacken, als könnte ich jeden Moment dort gepackt werden und ertappt worden sein.

Jetzt bist du dran, jetzt vergeht Dir dein Getue, dein gezuckertes Gerede.

So fängt es meistens an. Ich kann die Erregung in seiner Stimme hören, auch ihr Wimmern ist nicht frei davon.  

Ich beiße auf meinen Lippen herum, krieche weiter an der Wand entlang, bis kurz vor die Kommode, hier bin ich von der Tür aus kaum noch zu sehen, hier fühle ich mich am wohlsten, beinahe geborgen, nahezu beschützt.

Die Frau japst, er flüstert einen Fluch, sie schreit auf. Das ist keine Angst, sage ich mir. Sie hat das gerne, sie genießt es so behandelt zu werden.

Du hast es so gewollt. Du hast es nicht anders verdient.

Ich drücke mein Gesicht fester an die Tapete. Gleich ist es vorbei, sage ich mir, gleich haben wir es wieder geschafft.

Seit vier Monaten wohne ich hier, Wand an Wand mit Paul und Nicoletta Kerber. Ich habe mich beim Einzug nicht vorgestellt, wie es sich gehören sollte und sie haben mich nicht begrüßt, wie ich es erwartet habe. Anfangs war ich irritiert, vielleicht ein wenig verletzt, jetzt bin ich dankbar noch nie ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben.

Hinter der Wand kracht es, etwas Schweres ist umgefallen. Nicoletta schreit erneut auf. Dann kommen sie auf mich zu, von einer Seite des Zimmer auf die andere, dabei werden sie immer lauter, auch ich atme jetzt stoßweise.

Hinterher flüstern sie miteinander, ängstlich, verstohlen, Kinder, die ein Geheimnis teilen, dünne, verschwitzte Stimmen. Manchmal weint er, dann muss sie ihn trösten, an diesen Tagen dauert es besonders lange, bis einer von beiden wieder zu lachen wagt.

 

Das Haus ist nicht besonders groß, fünf Stockwerke, zwei Parteien pro Stock, eine Arztpraxis, eine Werbeagentur, im ersten Stock wohnen die Studenten. Die meisten grüßen mich nicht, kaum einer hier kennt mein Gesicht und das ist nichts, was ich nicht zu schätzen wüsste. Die meiste Zeit bin ich glücklich so zu sein, wie ich bin. Nur manchmal bekomme ich Sehnsucht, manchmal kann ich nicht anders, dann mache ich eine Ausnahme.

 

Von draußen ist zartes Vogelzwitschern zu hören, das erste Sonnenlicht kriecht über den Fußboden. Die Vorhänge bewegen sich sachte im Wind.

Ich halte den Atem an, ich lausche in die Stille des Morgens, keine Geräusche von nebenan, kein Stöhnen, kein Körper, der von Wand zu Wand gestoßen wird. Ich bin erleichtert, ich könnte heulen vor Glück. Denn jetzt beginnt der beste Teil des Tages.

Ich krieche tiefer unter die Decke, ich verliere mich in dem Geruch der letzten Nacht, in der Wärme, die geblieben ist. Seine Haut ist klebrig, sein Haar glänzt, ein schmaler Flaum läuft von seinem Nacken hinab zwischen die Schulterblätter. Ich habe Lust daran herum zu zupfen, aber natürlich reiße ich mich zusammen. Ich will den Moment nicht zerstören. Noch sind wir zusammen. Noch gehört er mir.

Ein Schmetterling kratzt in meiner Kehle, er flattert panisch, er sucht einen Weg hinaus ins Licht.

 

Die Studenten im ersten Stock sind freundliche Leute, immer wenn es laut werden wird, sagen sie einen Tag vorher Bescheid. Dann liegt ein Zettel auf meiner Fußmatte und daneben ein kleines Geschenk.

Eigentlich würden sie gerne persönlich mit mir sprechen, von Angesicht zu Angesicht um Verständnis bitten, aber ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht nicht mehr zur Tür zu gehen, wenn es klingelt. Auch gestern war es wieder soweit, ein Zettel und ein Geschenk, diesmal war es ein Glas Honig, den irgendein Elternteil im Schwarzwald in seiner Freizeit produziert. Die übliche Bitte um Verständnis, liebe Grüße und das Angebot gerne einmal vorbeizuschauen.  

Mühelos lässt er sich auf den Rücken drehen, vorsichtig schiebe ich meinen Kopf in die Kuhle zwischen Brust und Schulter, er schmatzt im Schlaf, ich höre auf seinen Herzschlag.

Lukas heißt er. Flaumy, Knuddel, Kuschelkopf, flüstere ich in sein Ohr, aber er reagiert nicht. Noch ist er zu erschöpft, noch gehört er mir, ganz sachte schiebe ich meinen Zeigefinger seine Leiste entlang, sein Geruch wird mir bleiben, am Finger, im Laken alles wird noch tagelang nach ihm duften, der Schmetterling in meinem Mund klebt an meinen Zähnen, gleich werde ich ihn ausspucken müssen.

 

Drei Stunden stand ich gestern im Treppenhaus, ich war geduldig, ich bin es gewohnt zu warten. Es war keine große Feier. Zwanzig Leute vielleicht, einige sind schon um zwei gegangen, doch erst um vier wurde es dann wirklich interessant, dann kamen die ersten Einsamen. Diejenigen, die keiner haben will.

Die meisten streunen noch ein wenig vor dem Haus herum. Verloren, gedankenlos, in der Hoffnung auf was auch immer.

Dann kommt mein Auftritt. Das Lächeln eine Einladung, der Augenaufschlag ein Versprechen. So war es gestern. So wird es immer sein. In der Regel sind die Streuner überrascht. Niemand von ihnen versteht, woher ich komme und wohin ich will. Manche sind misstrauisch, einigen kriecht sogar die Angst ins Gesicht.

Lukas war anders, ich brauchte nicht lange, um ihn zu überreden.

Jetzt liegt er neben mir, Stoppeln um die Brustwarzen und Sonne im Gesicht. Es ist nur noch eine Frage von Minuten, bis er aufwachen wird.

Ich nehme meine Hand nicht weg, ich lasse sie den Schenkel hinab gleiten und den Po hinauf. Ich nehme Abschied, denn gleich wird es soweit sein. Er wird aufwachen. Ich dagegen werde die Augen schließen und so tun, als würde ich noch schlafen.

Er wird eine Weile brauchen, um zu begreifen wo und mit wem er zusammen ist. Er wird mich nicht wecken. Er wird nicht den Versuch unternehmen mich erneut zu berühren. Das hat bisher noch keiner getan. Die wenigsten nehmen sich die Zeit für einen Blick zurück. Ich wäre bereit, aber aufdrängen werde ich mich nicht.

Lukas wird gehen wie die anderen gegangen sind.

Er ist nicht der erste, er wird nicht der letzte sein.

 

II

Als es klingelt, bin ich vollkommen arglos. Gerade wollte ich mir die Milch für mein Müsli warm machen, aber das muss ich jetzt auf später verschieben. Lautlos stelle ich die Schale ab.

Die Studenten, denke ich, aber andererseits ist heute Dienstag, die zweite Party innerhalb von vier Tagen, das wäre mehr als ungewöhnlich, so etwas ist noch nie vorgekommen. Dennoch verhalte ich mich wie immer, ich bin ganz still, kein Ton dringt aus meiner Wohnung heraus, nichts was irgendwen zu irgendetwas ermutigen könnte. Trotzdem klingelt es ein zweites Mal, ich glaube ein Räuspern zu hören, aber sicher bin ich mir nicht.

Auf Zehenspitze gehe ich zwei Schritte näher an die Tür heran. Es ist dieses Räuspern, das mich lockt, schwer zu sagen, ob es ein Mann ist oder eine Frau. Plötzlich denke ich an Lukas, an den Flaum in seinem Nacken, der Gedanke macht mir Angst. Noch nie ist einer zurückgekommen. Noch nie hat einer sich um mich bemüht.  

Bitte machen sie auf. Bitte! Ich möchte mit ihnen reden.  

Natürlich erkenne ich ihre Stimme. Sie ist erstaunlich fest, klar und samtig. Nur wenig erinnert an das Wimmern hinter der Wand. Dennoch erkenne ich sie.

Ich wusste, dass dieser Moment irgendwann kommen würde. Man kann sich nicht endlos aus dem Weg gehen. Aber jetzt hier ihre Stimme vor meiner Wohnungstür zu hören ist mehr als seltsam. Eine Überraschung, eine Zumutung, ich sollte so tun, als hätte ich nichts gehört, mich in meine Wohnung zurückschleichen und warten, bis Nicoletta Kerber aufgibt.

Aber ich kann nicht. Etwas drängt mich ihr ins Gesicht zu sehen Es ist, als könnte ich etwas wieder gut machen, als hätte ich das Gefühl ihr das schuldig zu sein.

Sie ist breiter, als ich gedacht habe, ein wenig größer als ich, weiche Formen, ein freundliches Gesicht.

Unsere Blicke treffen sich. Sie weiß es, denke ich. Sie weiß, was ich weiß. Unser Geheimnis, kein Zweifel, sie hat mich hinter der Wand gespürt. Sofort werde ich rot, ich kann nichts dagegen tun.

Wir kennen uns noch nicht, beginnt sie das Gespräch, das ich nicht führen will.

Wir sind die von nebenan, sie versucht es mit einem Lächeln.

Ich hätte eine Bitte.

Sie nickt hinüber in Richtung der angelehnten Tür.

Ich weiß, es muss ihnen komisch vorkommen. Es ist nur-

Sie holt Luft, ihr Blick fängt mich ein. Ein Abgrund. Unwillkürlich mache ich einen Schritt zurück.

Ich habe sonst niemand, den ich fragen könnte.

Sie beugt sich vor, ihre Stimme schmilzt zu einem Flüstern.

Diesen Donnerstag fahren wir übers Wochenende ans Meer. Nichts Großes, nur zum Durchatmen. Sie zwinkert verlegen. Ich versuche ein interessiertes Gesicht zu machen.

Es wäre schön, wenn sie vielleicht mal nachschauen könnten. Nur einmal durch die Wohnung. Frische Luft rein lassen, den Briefkasten leeren, solche Sachen…

Ich halte den Atem an, weil ich mir sicher bin, da kommt noch etwas. Aber sie legt nur den Kopf schräg, offenbar in Erwartung meiner Antwort.

Haben sie Tiere?, frage ich vorsichtig, weil das Ganze für mich keinen Sinn ergibt.

Sie schüttelt den Kopf. Ihr Gesicht bleibt ernst.

Keine Katze, keinen Hund, nicht einmal Fische, sie lacht ein unpassendes Lachen, fängt sich aber schnell wieder, nur die Pflanzen, wenn sie die vielleicht gießen würden, vor allem bei uns im Schlafzimmer stehen ein paar, die brauchen fast täglich Wasser.

Sie beißt sich auf die Lippen.

Das wäre wirklich nett, dafür wäre ich ihnen ewig dankbar.

Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Vorhin wäre ich vor Scham fast in die Knie gegangen, jetzt fühle ich mich nur peinlich berührt.

Offenbar missversteht sie mein Schweigen, denn sie macht einen Schritt auf mich zu, packt meine Hand und drückt ihren Schlüssel hinein.

Donnerstagabend, fügt sie hinzu und ihr Blick wird dunkler, gegen sechs sind wir weg.

Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und verschwindet durch den Türspalt. Ich bleibe noch einen Moment auf der Schwelle stehen, weil ich nicht weiß, was ich davon halten soll, nur mit Mühe widerstehe ich dem Impuls ihr hinterher zu stürzen, irgendeine Ausrede sollte mir schon einfallen, doch dann reiße ich mich zusammen, ich bin albern, kindisch und lächerlich. Immerhin sind wir Nachbarn, sage ich mir, die Blumen zu gießen sollte eine Selbstverständlichkeit sein.  

 

III

Sobald ich die Tür hinter mir zugezogen habe, traue ich mich nicht weiter. Es ist, als wäre ich nicht alleine, als würde irgendwo im Halbdunkel der Wohnung etwas auf mich lauern.

Die letzten Tage ist es nebenan ausgesprochen ruhig geblieben. Kein Geschrei hinter der Wand, keine Körper, die von einer Seite des Zimmers auf die andere bewegt wurden. Nichts.

Alles blieb still, als wüsste die Wohnung, dass ich komme, als hielte sie deshalb den Atem an.

Das Licht im Flur ist kaputt, der Teppich abgetreten, überall auf den Leisten liegt Staub. Würde ich meine Wohnung für eine Fremde öffnen, hätte ich vorher sicher geputzt. Aber vielleicht ist Nicoletta ein nachlässiger Mensch oder ein vielbeschäftigter, ich weiß nichts über sie außer dem, was ich durch die Wand erfahren musste. 

Weder an der Garderobe noch in der Küche finde ich einen Zettel mit Grüßen oder Instruktionen. Keine Flasche Wasser oder eine Tafel Schokolade als Dankeschön. Nichts hier deutet daraufhin, dass ich erwartet werde.  

Zwei Meter zu meiner Linken ist ihr Schafzimmer, die Tür steht halb offen, ich kann einen Ausschnitt des Fensters sehen, nachtblaue Vorhänge und die Ecke einer wuchtigen Schrankwand.

Ich komme jetzt rein, sage ich halblaut, als sei ich nicht alleine in der Wohnung.  

Ein großes King-Size-Bett dominiert den Raum, an der Wand gegenüber steht ein kleiner Tisch mit einem Blütenpotpourri sonst nichts.  Ich lasse meinen Blick von Wand zu Wand schweifen, ein beeindruckendes Bett, ein künstlicher Duft, alles wirkt ausgesprochen unspektakulär, kein Ort für große Gefühle, denke ich noch, dann endlich fällt mir auf, was mich gleich hätte stutzig machen sollen. Es gibt keine Pflanzen, nirgendwo ist eine Blume zu sehen, kein Kaktus, kein bisschen grün.

Mit pochendem Herzen bewege ich mich durch die Wohnung, Zimmer für Zimmer, Fensterbank für Fensterbank, doch da ist nichts, nirgendwo, keine Blüte, kein Zweig, kein Krümel Erde. Ein Schluchzen sitzt in meiner Kehle fest. Ich zwinge mich ins Schlafzimmer zurück, vielleicht habe ich etwas übersehen, möglicherweise war ich einfach zu unaufmerksam.

Ich schaue auf dem Schrank nach und hinter den Vorhängen, aber da ist nichts. Schwer atmend bleibe ich am Fenster stehen. Natürlich haben Kerbers und ich fast den gleichen Ausblick, der Wohnblock gegenüber, die Tankstelle daneben und unten der Innenhof mit der Fahrradwerkstatt. Werbeblättchen werden von einer Seite zur anderen geweht und bleiben im Immergrün der Brandmauer hängen. 

Ein Pärchen steht Hand in Hand neben einem Kinderanhänger der Schlagseite hat, eine Elster fliegt knapp über ihre Köpfe hinweg um auf einer der halb geöffneten Mülltonnen zu landen. Da sehe ich ihn. Er steht halb verdeckt zwischen einem Fahrradständer mit Werbebanner und der großen Papiermülltonne, er streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickt nach oben direkt zu mir oder zumindest direkt zu meiner Wohnung hoch, es ist Lukas, ganz klar.

Sofort stürze ich vom Fenster weg, durch den Flur aus Kerbers Wohnung raus und in meine rein, das Ganze hat keine zwanzig Sekunden gedauert, aber als ich erwartungsvoll von meinem Fenster in den Hof blicke, ist Lukas verschwunden.

Ich warte zehn Minuten mit angehaltenem Atem, im Hof werden die Lichter angeschaltet, einer der Angestellten der Werkstatt beginnt damit die nicht abgeholten Räder in den Schuppen zu schieben. 

Lukas kommt nicht zurück, auch auf der anderen Seite meiner Wohnung gehe ich von Fenster zu Fenster, doch Lukas ist auch hier nirgendwo zu entdecken, weder bei den Parkplätzen noch hinter den Mülltonnen, nicht auf der anderen Straßenseite und auch nicht in einem der Hauseingänge versteckt.

Wieder zurück in Kerbers Schlafzimmer beginne ich meine Suche von vorne, das fahle Licht der Hofbeleuchtung lässt die Wand zu meiner Wohnung schimmern, im Halblicht sehen die Blätter des Potpourris aus wie Asche. Irgendwo dort muss die Lösung sein, denke ich. Die Wand ist unsere Verbindung, der Grund warum sie mich gefragt hat und niemand anderen. Ich bin ihr etwas schuldig, ich habe die Pflicht etwas für sie zu tun.

Ich gehe auf die Knie, lege meine Stirn an die Tapete, schiebe den Tisch mit dem Potpourri ein Stück zur Seite und da sehe ich es, ein winziges Päckchen mit Tesafilm an einem der hinteren Tischbeine befestigt. Noch bevor ich es losgelöst habe, weiß ich, was es ist, ein Schlüssel und eine Adresse, die mir nichts sagt.

Ich spüre ein Flattern in der Kehle, scharfkantige Flügel, schnell und unnachgiebig, nichts, was sich hinunterschlucken oder ausspucken lässt. Noch könnte ich zurück auf die andere Seite der Wand, noch könnte ich vorgeben, ich hätte nichts gefunden und alles sei wie immer. Eine Party am Wochenende, ein Betrunkener in meinem Bett und Nachbarn hinter der Wand, die ich nicht grüßen muss.

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