Publikumspreis Dt. Kurzgeschichtenwettbewerb 2022

 

Warmes Fleisch (von Cäcilie Weise)

Mülltrennung, das war’s. Normas Fingernägel graben sich tief in ihre Haut. Wie immer, wenn sie sich nicht im Griff hat und an ihren Vater denkt. Die Gedanken machen, dass ihre Finger kribbeln. Die scharfen Kanten sind das schmerzhafteste, was sie an ihrem eigenen Körper finden kann, denn beißen möchte sie sich nicht. Der Zug setzt sich zögerlich in Bewegung, er lässt sich Zeit, Berlin abzustreifen. Sie hat knapp acht Stunden klebrige Fahrt vor sich, wer wird sich so lange im Griff haben?

Es ist Jahre her, dass sie die Bahn genommen hat. Seitdem sie Geld hat, fliegt sie.

Aber der erste Flug nach Basel überschneidet sich mit einem wichtigen Call, den sie auch etwa fünfzehn Minuten eher verlassen muss, wenn sie rechtzeitig in der Kirche sein will. Normas Vater wird beerdigt. Also mit der Bahn, Norma hasst Bahnfahren.

 Grauslich einsam verendet, so die Worte der Nachbarin.

Sie hat ein kleines Sechserabteil nur für sich, hallelujah, dem Himmel sei Dank. Pulsierende Menschenkörper, fremde Unterhaltungen, Kindergeschrei, das alles macht ihr Angst. Der einzige Mensch, den sie in echt toleriert, ist der Mann, der ihr das Sushi bringt.

Sie sitzt alleine mit ihren Gedanken am Fensterplatz in Fahrtrichtung. Draußen ziehen hässliche Vororte und drinnen ziehen Erinnerungen als flüchtige Fetzen vorbei. Ihr letztes Gespräch, der Streit vor sieben Jahren. Sein bärtiges Gesicht will einfach nicht mehr vor ihrem inneren Auge erscheinen. Acht Stunden Fahrt und sie hat nichts zu tun, außer den verbotenen Gedanken mit Fingernägeln weh zu tun und sich zu schämen.

In dem Tischmülleimer liegt eine Bananenschale in einem Plastikjoghurtbecher. Man kann die Klappe nicht mehr zumachen, sie klafft wie eine offene Wunde. Dieser würgende Eimer und ich, wir haben was gemeinsam, denkt sie.

Die Tür geht auf und ein Fremder platzt ungefragt in ihre Gedanken. Da war ganz sicher keine Reservierung mehr. Das ist ihr Zimmer.

“Ist hier noch frei?”, fragt er nonchalant und setzt sich an ihr Fenster, obwohl der Rest des Abteils frei ist. Völlig krankes Verhalten. Jeder normale Mensch würde sich an den Gang setzen und den größtmöglichen Abstand zu anderen lassen.

Der Typ sitzt ihr jetzt konfrontativ bis aggressiv gegenüber. Ein großer Stapel Bücher landet auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen und belegt ihre Tischhälfte.

Was ein Arsch.

Er hat ein fleischiges Gesicht unter durchsichtiger Haut, blutunterlaufene Augen. Fettiger Pferdeschwanz, ausgebeulter Norwegerpulli und eine abgewetzte Papiermappe unterm Arm. Mit dieser Sorte Mensch möchte sie nichts zu tun haben. Aber diese Sorte Mensch bleibt da sitzen und sie kann nichts dagegen tun.

Die atomaren Einzelteile seines Körpers sind den atomaren Einzelteilen ihres Körpers plötzlich erschreckend nah. Sie schließt die Augen, er soll nicht laut atmen, nicht riechen und sie um Himmels willen nicht ansprechen. Er möge sich bitte einfach in Luft auflösen.

“Gehst du auf eine Beerdigung?”, fragt der Typ mit einer nervigen Pädagogenstimme. Sie trägt schwarz, wie immer. Diese Unterhaltung muss im Keim erstickt werden. Kundenerziehung nennt man das bei ihr in der Agentur. Man zeigt dem Kunden direkt am Anfang vom Projekt, welche Linie man fährt, dass man sich nicht rumschubsen lässt.

Fressen oder gefressen werden.

„Ja.” Ihre Augen bleiben geschlossen.

„Das tut mir leid. Jemand, der dir nahe stand?“

Sie wird nicht noch einmal antworten. Seine Frage hängt kurz unangenehm und sperrig in der Luft, bevor sie im Abteil verfliegt.

Es tut ihr leid, das muss sie sich eingestehen.

Sie hat sich oft ihren eigenen Tod vorgestellt, und wie ihr Vater bei ihrer Beerdigung heulen und alles bereuen würde. Sie leid es ihm alles tun würde. Ein primitiver aber geiler Trick.

Mülltrennung, das war’s. Der letzte große Streit rollt in grellen Filmszenen vor ihren Augen ab. Hochrote Köpfe, schreiende Münder, Speichelfetzen in slow-motion durch die Luft. Er hatte Nespresso-Kapseln in den Komposteimer getan. Mülltrennung, Veganismus, Lebensentwurf, sie haben über alles gestritten. Er hat sich geweigert, sie zu verstehen und ihr vorgeworfen, sie würde nicht richtig leben, sie solle mal einen Freund haben und ihre Jugend genießen. Wie sie ihre Scheißjugend genießen soll, wenn alle Fische Plastik fressen, du scheiß Boomer, hat sie zurückgeschrien.

Der letzte Ausdruck ihrer Liebe, an den sie sich erinnern kann. Der Körper gegenüber riecht nach Bioladen und Ziegenstall. Ihr Magen knurrt sie aus ihren Gedanken.

„Da hat aber jemand Hunger“

Ihre Augen bleiben fest geschlossen. Sie fragt sich, ob sie ihn jetzt noch fragen kann, ihr seine Platzreservierung zu zeigen.

„Magst du?“

Sie kann nicht sehen, was er ihr anbietet, aber sie kann es riechen.

22 Jahre vegan, aber sie kann noch immer jedes Fleisch der Welt am Geruch erkennen, hat jedes rauchige Steak und jede nussige Lammhüfte abends in seinen warmen Armen erschnüffelt. Ihr Vater ist Metzger. War Metzger.

Der Typ hat ein Mettbrot auf ihren Tisch gelegt.

Sie öffnet die Augen, da liegt tatsächlich eine offene Brotdose. Darin zwei Brötchenhälften mit rohem, gewolftem Schwein und Zwiebelstückchen.

Ihre Finger fangen wieder an zu kribbeln und sie drückt ihre Nägel in die unschuldigen Kuppen. Sie darf die Kontrolle nicht verlieren. Sie hat sich fest vorgenommen, nicht an ihn zu denken. Sie schafft für gewöhnlich alles, was sie sich vornimmt, so wie sie sich vorgenommen hatte, nicht mehr mit ihm zu sprechen. Das ging sieben Jahre lang.

„Danke, ich esse kein Fleisch“

„Warum das?“ Er zuckt mit den Schultern und beißt dann selbst in eine Brötchenhälfte.

Seine Lippen glänzen vom Schweinefett.

„It’s a long story“

„Sätt is no problem, because I have a long time.“ Er strahlt sie an und zwischen seinen schlechten Naturzahnpasta-Zähnen hängt ein Fleischfaden. Was kann sie tun, damit er geht?

Sie verlässt das Abteil fluchtartig. Blick nach links, Kinder am Boden, Blick nach rechts, ein Junggesellenabschied. Gefangen wie ein Fuchs im Fuchsbau.

Aber hier ist jetzt friss ode stirb, also sprintet sie mit angehaltenem Atem durch ein paar Abteile auf der Suche nach was zu essen. Das Bordbistrot hat zu. Erschöpft lässt sie sich im leeren Speisewagen auf einen Stuhl fallen. Draußen huschen Lichter in unregelmäßigen Abständen durch die schwarze Nacht. Als Kind hat sie Mettwurst geliebt.

Im letzten Abteil findet sie doch noch einen fiesen Heißgetränkeautomaten. Kurz kommt ihr der Gedanke, sich einfach woanders hinzusetzen, aber sie ist ja kein feiges Schwein. Sie muss den Typ irgendwie aus ihrem Abteil rausmobben. Der Tee soll ihre Waffe sein.

Das Manöver geht ganz leicht. Zurück im Abteil stolpert sie beim sich hinsetzen und schüttet den gesamten Becher mit kochendem Teewasser auf das Monster und seine Papierfestung.

“Entschuldige mich, tut mir leid, oh nein, wie konnte das passieren!”, verpiss dich, fügt sie in Gedanken hinzu.

Er beginnt, scheinbar unberührt von ihrem Angriff , seelenruhig und mit großer Sorgfältigkeit, die nassen Blätter auf dem Tisch auszubreiten.

Wird er sie nicht anschreien, angreifen, ohrfeigen? Er lässt sich zu keiner Regung hinreißen. Ratlos blicke sie hinaus in die Nacht, sieht aber nur eine hässliche Fratze im Fenster.

Sie spürt etwas Nasses an ihrem Knöchel. Vor ihr tropft der nasse Papierhaufen traurig auf den Boden. Als hätte er nur darauf gelauert, meinen Blick auf seiner Lektüre zu erwischen, schlägt er endlich zurück.

„In der Ökumene geht es um Brücken zwischen der evangelischen und der katholischen Glaubensgemeinschaft.“ sagt er ganz stolz. Und auf ihren ausdruckslosen Blick: „Drittes Lehrjahr Theologie.“

Ein fleischfressender Theologe also, ein Mett-Theologe.

Noch vier Stunden und siebenundzwanzig Minuten. Sie hat keinen Empfang und schlägt ihren Fuß mit Ausdauer gegen das Tischbein. Manchmal erwischt sie dabei auch sein Bein.

Sie will ihm wehtun, so wie er ihr wehtut, indem er ihr das Gewissen unter die Nase hält, kriegt aber nur sorgenvolle Bernhardiner-Augen zurück, die geht es dir gut? fragen, woraufhin sie den Fuß noch schneller schlägt.

Reagiert der überhaupt auf irgendetwas? Seine Augen gleiten seelenruhig von Zeile zu Zeile, auch sein Atem ist ruhig. Er wippt nicht mit dem Fuß, er zuckt nicht einmal mit dem Finger, er sitzt regungslos in den Text vertieft.

“Bist du gläubig?”, fragt er plötzlich doch, nachdem sie minutenlang ihren Fuß gegen sein Schienbein geschlagen hat. Endlich zeigt er sein wahres Gesicht.

“Oder spirituell?”, er macht Gänsefüßchen in die Luft.

„Na klar. 270 Euro spirituell nämlich, so viel kostet mein Yoga-Abo im Monat.“

Der denkt wohl, er kann hier reinkommen, seinen christlichen Scheiß auspacken, ihr sagen, wie sie ihr Leben zu leben hat und sie für schuldig erklären. Ihre Finger kribbeln unerträglich.

Das Abteil wird kleiner. Mit jeder Minute kommt es ihr enger vor. Seine Körperwärme schwappt langsam zu ihr herüber, sie kann sie auf ihren nackten Oberarmen fühlen.

Es ekelt sie, aber sie wird sich hier keinen Zentimeter wegbewegen. Das ist ihr Abteil und sie wird es mit ihrem Leben verteidigen, falls nötig.

Der Hunger kriecht ihre Speiseröhre hoch und füllt ihren Mund mit Magensäure. Ihr Blick wandert wieder zum Mettbrötchen. Mit Essen spielt man nicht, hat sie gesagt, als er den größten Quatsch mit der Mettwurst angestellt hat. Herzen aus Mett, Smileys aus Mett.

Wieso? Hat er entgegnet, ich mach totes Fleisch wieder lebendig!

“Ist biologisch-dynamisch angebaut von einem glücklichen Bio-Schwein, sagt der Mett-Theologe, ohne von seinem Text hochzuschauen. Ich fühle mich ertappt. Er holt ein Taschenmesser aus seinem Wanderrucksack und halbiert die Brötchenhälfte. Dann führt er das eine Stück zum Mund, lässt es kurz unterhalb seiner Nasenflügel schweben und beißt behutsam hinein. Sie würde ihm gerne eine reinhauen.

„Falls dir doch noch danach ist, vielleicht später irgendwann, ich lass das mal hier für dich stehen. Gute Nacht.“ Mit diesen Worten lehnt er sich zurück und schließt die Augen.

Vor ihr der schlafende Mett-Theologe und zwischen ihnen das tote Schwein.

Weihnachten 2014. Am ersten Abend Islam, am zweiten dann Mülltrennung.Sie  haben irgendwann aufgehört zu streiten. Zu anstrengend, sie würden einander niemals verstehen. Danach hatten sie nichts mehr zu sagen, die Gespräche wurden kürzer, die Telefonate seltener, sie haben sich danach nie wieder gesehen, sie hat gute Ausreden gefunden, die meistens mit Arbeit zu tun hatten.

Wäre der Mett-Theologe nicht hier, würde sie sich jetzt dafür bestrafen. Würde ihren Kopf gegen die Wand hauen oder die scharfe Kante von dem Joghurtbecher nehmen. Sie hasst ihn dafür, dass er ihr das kaputt macht.

Ihre Finger sind mittlerweile blutig, aber sie spürt noch nichts. Das Taschenmesser liegt einladend vor ihr. Wie fände er es wohl, wenn sie ihm damit einmal ganz schnell in den Finger schneiden würde?

Das war Notwehr, würde sie sagen, er hat sie in ihrem Abteil bedroht. Ist hier eingedrungen und hat ihr seine Körperwärme aufgedrängt. Sie klappt das Messer aus und fährt mit der Hand über die Klinge. Sie ist ein Feigling. Ihre Finger kribbeln unerträglich. Sie kann ihn nicht eine Sekunde länger ertragen.

Sie springt auf, zerrt ihren Koffer aus der Gepäckablage über ihr, schmeißt ihn mit voller Wucht auf ihn und schreit so laut sie kann:

„Warum bist du eigentlich so ein Arschloch? Und attackierst du mich in meinem Abteil?“

Endlich ein erstes panisches Flickern in seinen Augen, endlich erwacht da auch mal ein Monster zum Leben. Sein Pferdeschwanz hat sich gelöst und so sieht er aus wie Jesus.

„Hör mal. Ich weiß ja nicht, was gerade bei dir los ist, aber ich will mich nicht mit dir streiten, das lohnt sich nicht“, sagt Mett-Jesus ruhig.

„Das lohnt sich nicht?“, kreischt sie und kann jetzt nichts mehr zurückhalten. Sie plumpst auf ihren Sitz, vergräbt das Gesicht in den verschränkten Armen und lässt sich endgültig gehen, sie heult.

Sie haben aufgehört zu streiten, es gab nichts mehr zu sagen. Die Telefonate wurden kürzer. Wie geht es dir, ja schön bis bald. Sie gingen einander nichts mehr an.

Geht sie noch irgendwen etwas an?

„Mein – Papa, wimmert sie zwischen Schluchzern, „ist – gestorben – und – ich – hab – sieben – Jahre  – nicht – ihm – gesprochen, weil – er – den – Müll- nicht – richtig trennt“.

Da spürt sie seine Hand auf ihrem Haar, sie streichelt vorsichtig über ihren Kopf, sie ist schön warm. Die Schluchzer werden langsamer, fangen einen Rhythmus ein. Der Mett-Theologe streichelt ihren Kopf und macht „sh sh sh“, bis sie irgendwann einschläft.

Als sie aufwacht, ist der Himmel lachsrosa und sie sind in der Schweiz. Der Mett-Theologe schläft regungslos mit dem Gesicht gegen die Fensterscheibe. Sie hat Rotze im Mund und Kopfschmerzen, aber ihre Finger kribbeln nicht.

Sieben Minuten vor Basel passiert es.

Sie nimmt das Stück Mettbrötchen zaghaft, als könne er davon wach werden, aus der Brotdose, und beißt hinein. Ihr Mund füllt sich mit süßer Schärfe, Salz und weichem Fett. Sie kaut langsam und andächtig mit geschlossenen Augen. So schmeckt Erlösung.

Drei Minuten vor Basel wischt sie ihre fettigen Finger am Sitzpolster ab und lehnt sich zufrieden zurück. Gleich wird sie aus dem Zug aussteigen und für immer aus seinem Leben verschwinden.

Sie ist froh, dass er schläft. So müssen sie sich nach dem kleinen Zwischenfall nicht beschämt in die Augen schauen. Sie würde über das Mettbrötchen nicht ihr Gesicht verlieren. Mit dem Koffer in der Hand wirft sie noch einen Blick auf Armin. So heißt er, das hat sie auf seiner Arbeit gelesen. Dann zieht sie vorsichtig die Abteiltür auf, um geräuschlos zu verschwinden, da hört sie die Pädagogenstimme aus dem Hinterhalt:

„Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm.“

Ruckartig dreht sie sich um. Armin lächelt mit geschlossenen Augen.

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