2. Platz beim 27. Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerb

Test, Test…Cinderella has left the building von Frank Schliedermann

 

Das mit dem Mikro funktioniert nicht. Habe ich doch gleich gesagt. Aber niemand wollte es hören. Ich müsse nur näher ran, hat Robs gemeint. Da müsse nachher Lippenstift dran sein. Das hätte er wohl gern.

Im Saal wird es unruhig. 300 geladene Gäste, viele bekannte Gesichter sind dabei, die meisten längst besoffen, abgedunkelt, wie die schweren Kronleuchter unter der Stuckrosette. Da sitzt sie, die Crème de la Crème der Branche: die Hamburger, die Berliner, die Düsseldorfer, dieser eingeschworene Haufen, ihr Tisch ein einziges Schlachtfeld aus Körpern, Flecken, Scherben und Schaum. Selbst die Tischtücher leuchten in der CI-Farbe des Veranstalters. Robs sitzt auf dem Schoß einer drallen Blondine und gibt mir fröhlich Regieanweisungen, führt eine Flasche Pommery zum Mund, imitiert einen lahmen Blowjob. Ganz nah ran, ich hab’s kapiert!

Vor meinen Augen verschwimmt alles. Ich muss mich auf das Mikro konzentrieren. Da ist ja schon Lippenstift dran! Überall! Die Kleine von der Texterschmiede, die sich vorhin irgendeinen Nachwuchspreis abgeholt hat, muss das Ding komplett in den Mund genommen haben, als sie ihrem Team dankte, ihren Dozenten. Sogar ihren Eltern hat sie gedankt. Reg dich ab, Mädchen, haben alle gedacht. Du bist hier nicht bei den Oscars.

Flaschen werden entkorkt, Handys klingeln quer durch den Saal. Das Gequassel reißt erst ab, als ich mich steif wie eine Straßenlaterne nach vorn beuge. Kalt schmeckt das Metall an meinen Lippen. Man hört das Koks in meiner Stimme.

„Na, ihr Hoden!“

Jemand brüllt „Woohoo!. Wahrscheinlich Robs. Er war schon breit, als wir hier ankamen. Um ein Haar hätte er hinten in den Shuttle-Skoda gekotzt. Oder auf den roten Teppich. Böhmermann vor die Füße.

Wir alle lieben solche Preisverleihungen. Sie sind wie Klassentreffen, bei denen die Langweiler ausgeladen und durch Prominente ersetzt wurden. Klar, ist das alles verlogen, der Smalltalk, die Selfies, meine goldenen Pumps. Dieser Waschlappen vom RBB macht keinen Hehl daraus, was er von Veranstaltungen wie dieser hält. Angewidert führt er durch den Abend, ruft „Bühne frei“ oder „Film ab“, als moderiere er eine Karibikkreuzfahrt. Vorhin, während des Video-Einspielers „Who the fuck is Josephine?“ checkte er gelangweilt seine Mails — Netto-Botschaft: I’m better than that.

Verpasst hat er nichts. Die Laudatio, ein Zusammenschnitt kurzer Videobotschaften ehemaliger Chefs und Kollegen, bedeutet nicht einmal mir etwas. All die Besiegten, Vergrätzten und Zurückgebliebenen, wie sie sich abmühen, etwas Originelles zu sagen, etwas das noch nicht jeder weiß, über mich, die erste Frau, die diesen Preis erhält, der bis vor einigen Jahren noch Agenturmann des Jahres hieß. Die Wahrheit ist: Sie können mich nicht leiden, nicht mehr. Meine Art, meine Ideen – sie würden es gern, sie sagen, dass man jemanden wie mich einfach lieben müsse. Sie imitieren mich, machen Witze und Anspielungen, sie feiern sich selbst, für ihre Lockerheit, für die neue Aufgeschlossenheit. Bei den Männern hat das etwas Gönnerhaftes. Bei den Frauen nicht mal das.

Dabei ist der Preis gar nicht das Problem. Es liegt an Helen und Bo. Daran, dass ich es trotzdem geschafft habe. Das gehe gar nicht, haben alle gesagt, als ich vor fünfzehn Jahren schwanger wurde und zwei Jahre später gleich noch einmal. Nicht in dieser Agentur, in dieser Branche. Nicht in diesem Leben. „Was macht eigentlich dein Mann?“, war die zweithäufigste Frage, die mir in all den Jahren gestellt wurde, direkt nach „Was? Du bist Mutter?!?“

Mein Mann sei Schriftteller, antworte ich immer, obwohl Anatol seit Jahren nichts veröffentlicht hat. Und auch davor war ihm das immer ein wenig unangenehm. Ein Schriftsteller lebe schließlich von seinen Büchern, nicht von seiner Frau. Sagt er ja selbst. Anfangs klang das noch wie ein Versprechen.

Meine Arbeit in der Agentur hat er immer ein wenig belächelt. Die vielen Preise, die es dauernd zu gewinnen gibt, die fetten Bonuszahlungen — er hat das nie wirklich ernst genommen, selbst dann nicht, als ich ihm ein neues MacBook gekauft habe. Werbung — das war ihm immer egal, wie übrigens allen Menschen, die nicht ihr Geld damit verdienen. Es ist ja auch schräg: eine Million Etat, drei Monate Überstunden, eine Woche Kapstadt – für 30 Sekunden Nahaufnahme eines Naturjoghurts. Ich weiß noch, wie er mich angesehen hat. Linksdrehende Milchsäurebakterien? Er hat gelacht, hat gedacht, dass sei nur vorübergehend, zum Geldverdienen, bis mir was Besseres einfallen würde. Mir ist aber nichts Besseres eingefallen.

Die Geschäftsführung um Alexander von Worries strahlt mich an. Sie erwarten, dass ich etwas Unbequemes sage, was Politisches, über Equal Pay und Equal Chances. Nur deshalb haben sie mir diesen Preis verliehen. Um es an die große Glocke zu hängen: Seht her, die Quotenbitch! Hat Kinder und Beruf unter einen Hut gekriegt, hat in Teilzeit gearbeitet und trotzdem Karriere gemacht. Dabei ist sie noch nicht mal hübsch. Nicht mehr.

Aber ich denke gar nicht daran, mich zu beklagen, über Seilschaften, Alphatiere und dumme Sprüche. Ich bin eine von euch. Warum sollte ich mich plötzlich auf die Seite der Verlierer schlagen? Mich zerfleischen lassen, wie eine Schulschönheit, die sich darüber beschwert, dass es immer nur ums Aussehen geht? Brav danke ich Freunden und Förderern, zähle Personen auf, die es gar nicht gibt, um die, die an dieser Stelle immer ganz genau zuhören, ein bisschen zu ärgern. Als nächstes lobe ich meine Kunden für ihr Vertrauen, ihren Mut und ihren Riecher. Sie wissen selbst am besten, dass nichts davon jemals existiert hat.

Vielleicht sollte ich einfach sagen, wie es ist: Ich habe niemandem etwas zu verdanken. Ich habe es selbst geschafft, ganz allein. Ich habe Tag und Nacht dafür gearbeitet, ohne Rücksicht auf Verluste, auf Verabredungen oder auf die Stundenpläne meiner Kinder. Selbst an dem Tag, als ich von Anatols kleiner Freundin erfahren habe, als ich Helens Post-it mit den traurigen Emojis unten rechts am Rand auf meinem Rechner fand, bin ich in die Agentur gefahren, bin nach Stuttgart geflogen, wegen dieses läppischen Etats, Social Media für Gewürzgurken — dafür machen die gleich eine Vorstandspräsentation. Aber gewonnen ist gewonnen. Deswegen mache ich diesen Job. Deswegen stehe ich hier oben. Deswegen will mein Mann mich jetzt verlassen. Er habe es einfach nicht mehr ausgehalten, sagt er. Dabei hat er längst eine Neue. Tessa heißt sie, ist 26 und studiert noch. Bei Instagram hält sie einem gleich ihre Titten ins Gesicht. Das sei ihm einfach so passiert, behauptet er. Er glaube nicht an Zufälle. Außerdem wären unsere Kinder inzwischen alt genug. Sie kämen auch ganz gut allein zu Recht.

In der Agentur weiß niemand davon. Nicht einmal Robs. Dabei lieben sie solche Geschichten, von gescheiterten Beziehungen, von Problemen zuhause, von endlosen Vorhaltungen und Streits am Telefon. Sie gefallen sich darin, unersetzbar zu sein. Sie geben damit an, setzen sich gegenseitig unter Druck, mit grotesk teuren Versöhnungsgeschenken, mit abfälligen Witzen über ihre herumnörgelnden Ehefrauen. Am Ende kommen sie sowieso wieder zurück.

Was Anatol angeht, bin ich mir da nicht so sicher. Offenbar geht das schon eine ganze Weile so. Gut möglich, dass Tessa nicht die Erste ist. Da waren diese absurden SMS, die er nach einem Klassentreffen — 25 Jahre Abi ’93 — von einer ehemaligen Mitschülerin bekommen hatte: „War schön dich wiederzusehen. Melde dich doch, wenn du mal in Köln bist!“ Ihre wahllos eingestreuten Emojis diffundierten eine so niedrigschwellige Geilheit, es war offensichtlich, wie der Abend verlaufen war. Auch wie sich Anatol danach um Kopf und Kragen redete, dass Sonja oder Sandra früher eher das hässliche Entlein gewesen sei. Dass er sie zuerst gar nicht erkannt habe. Dass sie jetzt als Kieferorthopädin arbeite.

Vielleicht habe ich deshalb niemandem davon erzählt. Weil ich ihm das habe durchgehen lassen. Dabei hätte ich es wissen müssen. Spätestens an jenem Abend, als Anatol mit diesen erstaunlich präzisen Prognosen zum Staffelfinale von Bodyguard um die Ecke kam. Respekt, dachte ich noch. Schriftsteller müsste man sein. Dass sich in seinen hellsichtigen Vorhersagen bereits unser eigenes Staffelfinale ankündigte, dass Anatol die Scheißserie längst gesehen hatte, habe ich damals, mit den Füßen auf dem Samthocker und der Hand im Jumbomix Colorado, nicht mal ansatzweise geahnt. 

Ich kann mir schon vorstellen, was Tessa an ihm findet. Anatol sieht aus wie ein Musiker, hat aber Humor. Ein charmanter Loser, mit Grübchen am Kinn und widerspenstigem Haar. Die Jahre draußen, auf Spielplätzen und Schulhöfen haben ihn kantiger werden lassen. Seine tiefsitzende Wut und Enttäuschung, sein Misstrauen gegenüber allem, was mit Geld und Erfolg zu tun hat – auf jüngere Frauen wirkt das unangepasst. Idealistisch. Zehn Jahre später zucken sie deswegen höchstens noch mit den Schultern. Oder lächeln irritiert, wie einst Grazia von Worries.

Ich weiß noch damals, dieser Abend beim Chef, Anatol mit seinem kräftigen Händedruck, ich in dem Kleid für Gehaltserhöhungen, in das ich kaum noch hineinpasste. Grazia hatte ganz schön einen sitzen und fragte Anatol geradeheraus, was er denn so schreibe. Allen am Tisch war die Frage unangenehm. Während Anatol tapfer von dem kleinen Tübinger Verlag erzählte, von Beiträgen in Anthologien und Literaturzeitschriften, krempelte sich Alexander von Worries minutenlang die Hemdsärmel hoch und begann schließlich, den Tisch abzuräumen. Das kluge, glatt rasierte Gesicht wurde ganz schmal. Drei Monate später stieg ich in die Geschäftsführung auf. In der Agentur nennen sie Anatol seitdem Joachim Sauer.

Natürlich gibt er mir die Schuld an allem, wenn er sich jetzt von Tessas tätowiertem Hardbody herunterrollt. Mir und meinem grenzenlosen Ehrgeiz. Er hätte sich öfter dagegen wehren müssen, gegen meinen Terminplan und das fünfstellige Monatsgehalt. Gegen das schlechte Gewissen, das ihn oft beschlich, auf Reisen, auf Wohnungssuche. Jedes Mal, wenn der Kellner die Rechnung brachte. Viel zu lange hat er sich abspeisen lassen, mit ein bisschen Freizeit, einem eigenen Büro zum Schreiben oder der Suite im Hessischen Hof während der Buchmesse. Im Grunde hat er sich wie ein Flittchen behandeln lassen. Wie so ein Hochglanz-Wegwerfprodukt à la Grazia von Worries.

Schreib ihn schnell auf, Anatol, diesen wertlosen Gedanken, in die Kladde, die ich dir zu deinem 30. Geburtstag geschenkt habe, für Geistesblitze wie diesen. Blättere ruhig zurück, bis an den Anfang, bis Paris, bis Barcelona, bis Tel Aviv und Lissabon, bis zu dem kleinen Gedicht, über meine riesigen Schritte, meine kräftigen Beine. „Immer bereit zum Sprung.“ Heute findest du sie stämmig, nicht wahr? Und auch alles andere, was du je geschrieben hast, erscheint dir falsch und lächerlich. Eigentlich müsstest DU am Boden zerstört sein. Aber stattdessen fängst du nochmal von vorn an, neues Leben, neues Publikum. Eins, das dich wieder ernst nimmt, mit festeren Brüsten, ohne Wechseljahre und Personalverantwortung.

Wie konnte ich nur so bescheuert sein? Nach allem was Frauen wie ich im Laufe ihres Lebens lernen mussten: auf Partys, im Bett, in der Straßenbahn, bei der Arbeit, bei Tinder, beim Fußball gucken, auf Reisen, auf Messen, auf Elternabenden. Auf jeder x-beliebigen Firmenfeier, wenn der Chef, der dir gerade erst das Du angeboten hat, von hinten seinen Arm um dich legt, um den Teamspirit zu stärken, um allen am nächsten Tag freizugeben und — ganz nebenbei — deine Brüste abzuchecken. Wenn gestandene Kolleginnen anschließend den Kopf einziehen, während er es wagt, einen Witz über Hängetitten zu machen.

Ich hätte es wissen müssen, Anatol, schon als ich dir zum ersten Mal begegnete, auf diesem klapprigen Damenrad, das in Schlangenlinien vor mir herfuhr. Als du mich angesehen und dich über meinen Nachnamen amüsiert hast. Als du dich später geweigert hast, ihn anzunehmen. Wenn du mir leidgetan hast und ich trotzdem stolz auf dich war. Als du in Höhere Gewalt meine Hand genommen hast, auch wenn wir uns anschließend gestritten haben, wie nach so vielen Filmen, insbesondere wenn Michelle Williams darin mitspielte. Als du Ja! gesagt hast, und Helen und Bo, oder Purple Rain auf die Frage, welchen Song du am liebsten hören würdest, während du stirbst. Allein, wie sich deine Augen seither immer ein wenig weiteten, jedes Mal, wenn plötzlich von irgendwoher Prince zu hören war, im Autoradio, in einem Supermarkt, in einem Strandcafé in Scheveningen oder in einem Secondhandladen in Kreuzberg. Jedes Mal, wenn ich mich in dir getäuscht habe.

Ich bin am Ende. Es hört ohnehin niemand mehr zu. Dabei war meine Rede nicht mal halb so lang wie vorgesehen, auch nur halb so witzig und nur halb so eine Genugtuung, wie ich gedacht hatte.

„Wir werden nie enttäuscht werden“, rufe ich zum Abschied in die Menge. Der Leitspruch der Agentur, die vielleicht größte Lüge an diesem Abend. Von Worries applaudiert, als wäre er Peter Graf. Fehlt nur noch, dass ich gleich anfange, zu heulen. An meinem großen Abend. Auf dem Höhepunkt meiner Karriere. Es gibt Rinderfilet und Fritz-Cola. Sponsoren sind nun mal Sponsoren. Auf der Treppe nach unten wäre ich fast gestolpert. Ein goldener Schuh liegt verlassen auf den Stufen. Jeder im Saal denkt, ich hätte ihn mit Absicht verloren.

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