3. Platz beim 27. Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerb (und Jurypreis)

Strahlen von Leszek Stalewski

 

Großvater konnte es nicht fassen, doch der Geigerzähler log nicht, das Schwein war verstrahlt. Der Keiler hing vom Fleischerhaken. Das Einschussloch schimmerte dunkelrot, wirkte beinahe schwarz in der Herbstdämmerung. Ein verkrusteter Pfad aus Blut führte vom Schädel zur Schnauze. Eine kleine rote Lache hatte sich am Boden unter seiner Zunge gebildet. Sie glänzte feucht. Die Wolken hingen tief, und trotz der Dämmerung war es dunkel. Wacek hielt den Geigerzähler.

„Ja, so gut 7000 Becquerel“, sagte er.

Wacek trug eine gefütterte Polyesterjacke und dicke Brille mit Goldrand. Seine Augen zeichneten sich nur schemenhaft hinter den Gläsern ab.

„Der muss leider in den Sondermüll, Ryszard“, sagte er.

„Trifft’s doch der Schlag“, resignierte Großvater.

Er hatte seit einem Jahrzehnt nicht mehr gejagt und gleich beim ersten Mal diesen Wildeber geschossen. Wacek würde nicht lügen. Sie kannten sich schon lange. Ende der 60er saßen sie zusammen in einem Funkwagen, rauchten Zigaretten und tranken Roggenkaffee, als sie für die UB, die polnische Stasi, den späteren Papst Johannes Paul II. beschatteten, der damals noch Jan Karol Wojtyla hieß.

„Wie viele Jahre ist das her mit Tschernobyl?“, fragte Großvater.

„Sieben“, sagte Wacek trocken.

„Sieben Jahre und die Pilze sind wirklich… trifft’s doch der Schlag … so ein Exemplar, schau ihn dir an … ach …“ Großvater stammelte vor sich hin. „Ach … wie spät ist es?“

„Sechs Uhr“, sagte Wacek.

Großvater legte die Flinte über die Schulter. „Komm, wir gehen. Kazia macht sich jetzt fertig, und ich muss sie noch nach Jelenia Góra bringen.“

„Geht sie zum Markt?“, fragte Wacek.

„Jaja, wir haben wieder Lumpen bekommen, und sie hat dort einen Platz für heute.“ Großmutter würde gebrauchte Klamotten aus Deutschland auf dem Markt verkaufen.

„Komm’“, sagte Großvater zu mir, wartete, bis ich losging, und trat hinter mir aus der Garage. „Willst du mit nach Jelenia Góra?“

Ich sagte Ja, ich wollte eine Videokassette mitbringen.

„So ein Eber … was man nicht hätte … eine Pastete … ach …“ Großvater murmelte mehr zu sich als zu mir, denn ich hasste Leberpasteten, und das wusste er, aber den Wildschweinbraten hätte ich sehr gerne probiert.

Wir gingen über den verschlammten Vorplatz zum alten Daihatsu. Der rote Kleinwagen stand etwas schief auf einer Grasböschung.

Wir fuhren die einzige und holprige Asphaltstraße hinauf, bogen hinab in zwei Traktorrinnen zu einer schmalen Schlucht, in der das Haus meiner Großeltern stand: ein deutsches Fachwerkhaus aus dem 19. Jh. Es brauchte Pflege, aber es gab kein Geld. Das Haus war klein, hatte ein Stockwerk, einen Erker und kam gerade mal auf vier Zimmer, von denen zwei kaum Platz für ein Bett boten. Großmutter stand in der Küche und goss Tee-Essenz in eine Thermoskanne. Der Wasserkessel würde gleich aufheulen.

„Was geschossen?“, fragte sie beifällig.

Sie war geschminkt, trug dicke Ohrclips und über dem weißen Pullover eine Wollweste.

„Ach, soll es doch der Schlag …“, sagte Großvater und ging wieder raus.

Großmutter sah mich mit großen Augen an.

„Na, das Schwein war verstrahlt“, sagte ich, sie brach in Gelächter aus, und der Wasserkocher heulte auf.

„Was?!“ Großmutter lachte bis zu ihren fehlenden Backenzähnen.

„Wacek hat mit dem Geigerzähler …“, sagte ich und begann auch zu lachen, wusste aber nicht warum.

Noch vor drei Stunden gingen wir mit Taschenlampen durchs hohe Gras zur Rehjagd. Es gab einen schönen Stand, auf den wir wollten, um das Einsetzen der Dämmerung abzuwarten: Tee trinken und auf Hasen und Rehe schießen. Zwölf Patronen hatte Großvater eingesteckt. Nicht zu gierig sein, sagte er. Nach nur einer halben Stunde Wanderung sagte Großvater abrupt, ich solle still sein, mich genau hinter ihn stellen, in die Knie gehen, rennen, wenn er ruft. Wir löschten die Lampen. Ein Wildschwein war kein Grund zur Freude. Sein Erlegen konnte überlebenswichtig sein. Großvater spannte die Flinte und zielte ins finstere hohe Gras. Allmählich hörte auch ich das Schnaufen eines Tieres. Die Dämmerung lag noch weit vor uns. Es war dunkel. Dann pausierte die Atmung der Bestie, und das Schnaufen wurde forschender. Sie witterte nach uns. Wenige Schnaufer prusteten durch die fette Schnauze des Viechs. Schließlich hatte es gewittert, in welcher Richtung sich die Eindringlinge befanden. Großvater behielt die Flinte im Anschlag. Er soll ein guter Schütze gewesen sein, als er noch bei der UB war. Aber gesehen, wie er schießt, hatte ich noch nie. Plötzlich riss das Schnaufen ab, und das Vieh hechelte los. Die schweren Klauen des Ebers brachten den Schlammboden beinah zum Beben, dann fiel ein Schuss. Reines Glück. Genau zwischen die Augen. Ein Schuss, den man kaum im Leben schafft. Das hatte zumindest Wacek gesagt, als wir, zwei Stunden und eine abenteuerliche Verladeaktion später, das Wildschwein am Haken in seiner Garage hochzogen. Dann der Geigerzähler.

Großmutter lachte nicht mehr. Nachdem ich ihr alles erzählt hatte, lief sie wütend zu Großvater und machte ihm eine Szene, dass sie doch gesagt hatte, er solle nicht mit mir zur Jagd gehen. Der Schlag solle ihn treffen, um ein Haar hätte uns das Schwein niedergemäht oder noch Schlimmeres. Sie setzte sich für einen Augenblick auf den Stuhl, zitterte. Der Steinboden in der Küche war kalt. Der Kessel dampfte noch von der Hitze. Die Teekanne war aufgegossen. Brote für den Tag hatte sie geschmiert.

Wir fuhren nach Jelenia Góra. Es war immer noch früh am Morgen. Großmutter und Großvater schwiegen. Ich saß gequetscht auf der Rückbank neben zwei großen Lumpensäcken. Der Kofferraum war auch gestopft voll. Mein Vater hatte alles mitgebracht, als er mich zu den Herbstferien bei den Großeltern ablud. Wir kurvten über die Landstraße, als uns ein BMW schnitt und fast von der Straße drängte, Großvater zuckte und trat auf die Bremse.

„Verrückter!“, rief Großmutter.

„Und wie!“, sagte Großvater.

Sie schwiegen wieder, aber es wog nicht mehr so schwer.

„Woher hat Wacek einen Geigerzähler?“, fragte Großmutter.

„Weiß nicht. Von den Russen abgekauft?“

Über Tschernobyl wurde in Polen zu Zeiten der Volksrepublik kaum berichtet, so richtig erreicht hatte es meine Großeltern erst zwei Jahre später, als wieder Wałęsa da war. Dann einige Wochen vor der Jagd, wieder fünf Jahre später, schürten die Medien Panik über verstrahlte Pilze und die Wildschweine, die sie essen würden.

„Im Leben hätte ich nicht gedacht, dass es hier sein könnte. Bist du dir absolut sicher?“, fragte Oma.

„Ja natürlich! Wacek hatte doch den Geigerzähler!“

„Ich habe Wacek nie gemocht“, sagte sie.

„Es ist ja nicht seine Schuld“, sagte Großvater.

„Das hast du damals auch gesagt“, sagte sie.

„Damals?“, fragte Großvater.

„Na, als er die Fotos abgeben musste“, sagte sie.

„Das war doch eine andere Sache“, winkte Großvater ab, „da musste er ja.“

„Was für Fotos?“, fragte ich.

„Na, sie haben Wojtyla, den Papst, in Badehose am Strand fotografiert und die Fotos behalten, aber Wacek hat sie der Partei zurückgegeben, behauptete er“, sagte Großmutter. „Jetzt wäre das bestimmt was wert.“

„Ja, er war schon immer sehr pflichtbewusst“, sagte Großvater.

Großmutter schwieg bedeutungsschwanger, aber wir fuhren bereits am Busbahnhof vorbei. Frauen und Männer standen gedrängt vor den noch kommunistischen Bussen, die nach Legnica, Wrocław und Wałbrzych abfuhren. Der Daihatsu hielt am offenen Gittertor des Marktes. Ein Mann mit Lederjacke winkte uns zu, schob seine Wollmütze etwas zurück.

„Grüß dich, Kazia. Deinen Platz habe ich noch frei gehalten. Fahrt langsam, hier ist schon viel los.“

Tatsächlich war schon viel los. Immer mehr Händler kamen immer früher zum Markt. Die Menschen öffneten einen Korridor für den Kleinwagen, der über den Schlamm schlitterte. Wir blieben an einem Holztisch stehen und luden die fünf Säcke darauf ab. Großmutter schickte uns fort. Großvater und ich stellten das Auto draußen ab, schlenderten danach zurück zum Markt. Wir stoppten an Jureks Stand mit Videokassetten. Großvater kannte ihn. Die meisten der abgefilmten Raubkopien von Kinofilmen hatte ich schon gesehen, aber Batman Returns noch nicht. Großvater erzählte vom Schwein.

„Ach, was erzählst du da“, sagte Jurek, „was für ein Tschernobyl. Hier? Ach wo! Mein Cousin sagt, das sind Märchen, die wollen nicht, dass wir in den Wäldern jagen und lieber ihr Plastikfleisch und die Hitler-Pilze aus dem Supermarkt kaufen. Da war auch nichts hier, nur irgendwo in Bayern, wo es dann geregnet hat und bei Warschau oder Krakau, ich weiß nicht mehr, aber nicht hier! Der hat dir Unsinn erzählt! Geigerzähler! Dass ich nicht lache, kann ich auch so ein Piepser hier kaufen. Geh da zu Marek, der hat ein Nachtsichtgerät!“

Ich zeigte ihm die JVC-Kassette mit dem Titel in Schreibmaschinenschrift. Jurek winkte ab, schenkte sie mir, und ich behielt sie in der Hand. Noch beim Reden holte Jurek eine neue JVC heraus und schob sie in die Leerstelle. Großvater aber sah besorgt aus. Wir gingen zurück zu Großmutter. Sie hatte schon alles ausgepackt. Wir wollten helfen, aber sie schlug uns auf die Pfoten, also fuhren wir vorerst heim.

Großvater schwieg auf der Fahrt, doch sein Kiefer mahlte. Statt links über Wleń zurückzufahren, fuhren wir weiter nach Lwówek, ein kurzer Umweg. Großvater machte das oft, wenn noch was fehlte, aber er fuhr weiter entlang der Bahnstrecke und nicht in die Stadt hinein. Kohledunst hing in der Luft und legte sich auf meine Zunge.

„Wo fahren wir hin?“, fragte ich.

„Ach, nur so… ich muss…“ Wir fuhren vor ein Verwaltungsgebäude. Die rote Plakette mit dem polnischen Adler war bereits erneuert. Ruß und Staub ließen sie dennoch alt wirken: Veterinärkrematorium und Entsorgungsanlage.

Großvater wirkte unsicher. Der PVC-Belag löste sich vom Boden ab. Der alte Kleber knisterte, als wir an das Fenster der Anmeldung herantraten.

„Ja, ich wollte fragen…“ Großvater stotterte fast.

„Was!“, bellte jemand.

„Na, ich wollte fragen…“

„Moment, kann nich’ fliegen.“ Ich konnte nicht erkennen, wer da sprach, das Fenster war verhangen. Nur durch ein rundes Sprechtürchen blickte man in den Empfang. Es roch nach Tee und altem Rauch.

„Was is’ so…?“, fragte die Stimme. Ein dicker Mann trat ans Türchen.

„Habt ihr ein Schwein reinbekommen?“

Der Mann schnaubte. „Ein Schwein?“

„Na, ein verstrahltes von Wacek.“

„Was für ein Wacek, was für ein Schwein?“

„Na, der Förster bei Marczów?“

„Was für ein Förster? Der hat sich vor drei Jahren in Przeździedza erhängt, und seitdem ist der Oberförster aus Bolesławiec dafür zuständig, den hab ich aber noch nie gesehen.“

„Und das Schwein…“

„Na, was für ein Schwein?“

„Ein verstrahltes!“

„Was hier? Was für Märchen! Das erzählen die uns nur, damit wir im Supermarkt einkaufen, die gibt’s in Deutschland bei den Hitleristen, aber hier doch nich’, was sind der Herr betrunken oder was?“ Der Dicke wendete sich zu mir. „Was hat der Opa getrunken?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich trinke doch nicht!“, rief Opa laut und rannte aus der Behörde.

Der Mann drängte sich an die Öffnung, unbeeindruckt stand sein Mund etwas offen. „Und du? Worauf wartest du? Zieh ab!“

Ich rannte los.

Opa fuhr mit fast 80 über die Straße. Das war tatsächlich schnell. Die Landstraße war voller Schlaglöcher, und in dieser Jahreszeit versank alles im Zwielicht. Wir fuhren nach Hause, und er stürmte ins Haus. Er kam mit der Flinte zurück, und wir fuhren wieder los zu Wacek. Der Daihatsu hielt mit einem Ruck auf Waceks Hof. Großvater stürmte mit dem Gewehr aus dem Wagen. Ich lief ihm hinterher, obwohl ich glaubte, dass er mich ganz vergessen hatte.

Wir traten in die Garage, aber der Eber war weg. Wacek trat durch eine Seitentür ein und blickte ertappt.

„Ach, Rysiu…“, sagte er.

„Rysiu hier nicht rum. Wo ist mein Schwein! Du hast mich angeschwindelt, Wacek! 40 Jahre kennen wir uns und DU …“

„Was nein! Das Schwein war verstrahlt. Ich sag’s dir doch!“

„Erzähl keinen Unsinn, ich war im Veterinärskommissariat! Du bist nicht mal Förster, du hast nur Märchen erzählt!“

Großvater nahm die Flinte hoch und drückte ab. Die Kugel schlug nur einen Meter neben Wacek ein und grub ein tiefes Loch ins Mauerwerk. Mein Herz raste.

„Wo ist das Schwein?“ Großvater sprach knapp.

„Hab’s verkauft.“ Wacek war erstarrt.

„Du mieser Lump!“ Großvaters Stimme brach. Plötzlich knallte es erneut, und aus dem Einschussloch schoss ein Wasserstrahl.

„Ach, die Wasserleitung hast du mir zerschossen, du Gauner!“, schrie Wacek.

„Geschieht dir recht!“, schrie Großvater und ging aus der Garage.

Großvater stand am Daihatsu. Die Flinte hing nicht mehr um seine Schulter. Er wischte sich mit einem Tuch über Stirn und Augen.

„Ach, dass der Mensch so…“, sagte er, „ach… und wofür…“ und warf die Flinte in den Kofferraum.

Wir fuhren heim. Er kochte Tee, war benommen, schaltete das Radio an, ein Lied ratterte und brach jäh ab. Es piepte drei Mal, und die Stimme des Nachrichtensprechers ertönte. Wir hörten nicht hin.

„Schade ums Schwein“, sagte ich.

„Ja schade, aber so ist das… die Fotos hat er bestimmt auch verkauft“, sagte Großvater.

„Welche Fotos?“, fragte ich und beim Fragen fiel es mir wieder ein.

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