26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Wolfang Sauer

Der Ruhesitz am Zoo in Zeiten des Coronavirus

Donnerstag, den 19.3.2020
Früh morgens um 3.30 Uhr
Ich sitze am Bettrand
Ein Fenster steht offen
Die Augen überraschend klar
Morgen ist Hölderlins 250. Geburtstag

Ich bin gerade aufgewacht und bin völlig munter. Meine Gedanken gehen hin und her, auch zu den  pausbäckigen Blasmusikern und den grell geschminkten Narren, die vor einigen Wochen beim Fasnetsumzug in Bad Waldsee im Gleichschritt  an mir vorbeimarschierten bzw. vorübertänzelten und kreisten dann lange um Hölderlins Schreibtisch, der wieder in den Tübinger Turm zurückgekehrt sei, wie in der schwäbischen Zeitung kürzlich zu lesen war, nachdem er lange Jahre irgendwo in Bregenz gestanden hätte, wie Lorenz erzählte, als wir uns bei einer Silvesterparty 2019 /2020 zufällig trafen und auf den Dichter zu sprechen kamen und er in einer Mischung aus Ergriffenheit und Wehmut rezitierte: „…trunken von Küssen tunkt ihr das Haupt…” und dann rasch das Glas erhob, um die eigene Verlegenheit über seinen ungewohnt exaltierten Auftritt mit einem großen Schluck Wein fortzuschwemmen und  beim Abschied zu meiner Überraschung, denn eigentlich kannten wir uns nur beiläufig,  spontan vorschlug,  vom eigenen Schreibtisch aus uns gegenseitig gelegentlich ein paar Zeilen zu schicken, ein Vorschlag, dem ich zustimmte, aber dann wegen der ungeheuerlichen Ereignisse vergaß, die alle Aufmerksamkeit auf sich zogen und kurz nach unserem Zusammentreffen ihren Anfang nahmen und auf die Merkel gestern Abend in einer Rede einging,  deren Ende ich gerade noch hörte, als ich nach einer Runde Skat im “Ruhesitz am Zoo”, in den ich vor vier Jahren eingezogen bin, verspätet in mein Zimmer kam und wandern weiter zu der mich merkwürdiger Weise stark beschäftigenden Frage, wo im Ruhesitz wohl das Notstromgenerator stehe, der während unseres Skatspiels eingeschaltet und auf seine Funktionsfähigkeit hin überprüft werden sollte, wobei wir auf die tags zuvor von der Verwaltung angekündigte kurze Stromunterbrechung und die dann herrschende Finsternis warteten, aber  bei guten Karten doch inständig wünschten, sie möge doch bitte noch bis zum Ende dieses Spiels  ausbleiben , so dass man noch bei Helligkeit seinen Gewinn anschreiben lassen könnte, aber zu unserer Verwunderung wurde es überhaupt nicht finster, auch nicht zum festgesetzten Zeitpunkt 21.30 Uhr, was  uns zu spöttischen Kommentaren anregte über die sich hier mal wieder  manifestierende Unfähigkeit der Verwaltung, gut zu planen und die deshalb auch heute wieder die Bewohner unnötiger Weise in Alarm versetzt habe mit der Warnung, der Wechsel vom öffentlichen Stromnetz zum eigenen Generator würde das Haus kurz in völlige Finsternis tauchen, in den Zimmern evtl. unangenehm piepsende Geräusche der Rauchmelder erzeugen und auch die Ursache dafür sein, dass der Aufzug  auf seiner Fahrt möglicher Weise kurz stecken bliebe, eine Warnung, die die meisten Bewohner des Hauses, die leicht schreckhaft waren, so beunruhigte, dass sie sich schon nach dem Mittagessen in ihr Zimmer zurückzogen und auch nicht mehr zum Nachmittagskaffee um 15 Uhr kamen, weil sie sich irrtümlich einbildeten, die Hausleitung habe das eventuelle Stocken des Aufzugs schon für die Zeit der nachmittäglichen Kaffeerunde angekündigt, kurzum, während wir beim Skat unserem Spott über die Verwaltung freien Lauf ließen, trat  eine Abordnung eben dieser Verwaltung ins Zimmer, schaute sich um, bemerkte nickend, auch hier sei alles in Ordnung und wischte unseren Einwand, wir hätten weder eine Finsternis noch ein unangenehmes  Piepsen des Rauchmelders bemerkt, souverän lächelnd vom Tisch mit dem Hinweis, die Umstellung sei eben von der Hausverwaltung bestens geplant und kompetent durchgeführt worden und das Haus würde jetzt gerade, während wir hier mit einander sprächen, planmäßig und ohne die befürchteten Störungen mit Notstrom aus dem Generator versorgt, es gäbe also auch nicht den geringsten Grund zur Panik und sie wünschen uns noch viel Spaß beim Spielen, verließen wieder rasch den Raum, ohne dass ich fragen konnte, ob der Generator nun mit Gas oder Diesel angetrieben würde und wo er stehe, Fragen, die sich wieder in meine Gedankengänge einschlichen, als ich vorhin erwachte und am Bettrand sitzend zu grübeln begann und plötzlich, fast mit Schrecken, bemerkte, dass etwas in meiner Umgebung nicht mehr stimmte. Ich richtete mich auf und blickte zur langen Fensterzeile meines Zimmers, in der wie immer nachts ein Flügel offen stand und auf einmal wusste ich, was mich so stutzig gemacht hatte: Ich hörte keine Geräusche mehr,  kein Gelächter und Geschrei spät nach Hause bummelnder, angeheiterter Partybesucher, kein Kichern und Jodeln von Jugendlichen, die anders als die Alten erst in dieser frühen Stunde in ihre Clubs aufbrechen, kein Klicken und Klacken von Rollkoffern auf den  gepflasterten Gehwegen, keine Touristen, die sich über die Navigatoren ihrer Handys beugen und über die Wegrichtung zum Hotel diskutieren, keine bremsenden oder Gas gebenden PKWs, keine Lastwagen, kein Aufheulen von Motoren, wenn die Ampeln von Rot auf Grün wechseln, keine Alarmsignale von Rettungsfahrzeugen. Nichts mehr von alledem. Es herrschte vollkommene Stille in meinem Zimmer. Ich stand auf und ging zum offenen Fenster. Unter mir lag die große Kreuzung erstarrt und verlassen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Geisterhaft wechselten Verkehrsampeln ihre Farbe, aber kein Auto fuhr los, keines bremste, es herrschte völlige Bewegungslosigkeit und Totenstille. Und plötzlich stand ich nicht mehr am Fenster meines Appartements in Berlin, sondern lag in Gedanken im Schlafsaal der einsam auf einem Berg liegenden Klinik Charlottenhöhe im Schwarzwald, wohin ich als Kind wegen meiner schwachen Lunge zur Kur geschickt worden war und hörte wieder in der Stille die Schritte der “Schweren” und “Todgeweihten”, wie wir Kinder schaudernd ehrfurchtsvoll die an TB leidenden Kranken nannten, die in den rückwärtigen, uns Kindern unzugänglichen Abteilungen der Klinik untergebracht waren und von denen  sich manche an milden Abenden  unter unserem Fenster versammelten, um von dort aus über die dunklen Bergkuppeln hinweg in den Abendhimmel zu blicken und dann das Lied „Der Mond ist aufgegangen“ anzustimmen, zweistimmig,  und der schwebend fließende Gang der Melodie, der schöne Klang der Akkorde  rührten mich zu Tränen und erweckten die Sehnsucht nach meiner Mutter, meinem Vater, nach meinem Zuhause irgendwo hinter diesen Bergen in  weiter Ferne, dann fuhr langsam ein Taxi in die Kreuzung, stoppte vor der roten Ampel und wartete auf grün. Die Szenerie war wie von Dali gemalt. Ein Bildnis des Absurden. Ich stand beklommen am Fenster und blickte in diese Leere, dieses Nichts, ausgeleuchtet von einsamen Straßenlaternen und mir gegenüber, auf der anderen Straßenseite, am vielgeschossigen Neubau mit einer Fassade völlig aus Glas, stieg eine Doppelreihe von Lämpchen die Stockwerke hoch dem Himmel entgegen, strahlte und beleuchtete nichts…

Ich wollte nicht mehr ins Bett zurück, zog mich an und machte einen kurzen Rundgang um den Block herum. Die sonst so belebten Kneipen in der Andechser Straße waren dunkel, an den Türen hingen Schilder mit den neuesten Verordnungen des Senats über die Öffnungszeiten von Gaststätten, nur der Späti, der noch nicht geschlossen werden musste strahle grell und bunt in der dunklen Häuserfront auf, aber außer dem Verkäufer, der über sein Handy gebeugt auf einem Stuhl hinter dem Tresen kauerte, war kein Mensch darin zu sehen. Auch nicht auf dem Wittenbergplatz. Ein Stadtbus hielt an einer Haltestelle, niemand stieg ein und niemand stieg aus, der Zutritt zum Bus durch die vordere Tür war mit einem rot-weißen Band versperrt zum Schutz des Fahrers vor der Ansteckung durch den Virus. 

Ich ging am großen, noch winterlich abgestellten Brunnen vorbei und dort sah ich tatsächlich noch einen weiteren Menschen. Er stand gebückt im leeren Becken und schien etwas zu suchen. Er musterte mich nur kurz, dann wandte er sich wieder dem Beckenboden zu. Da ich mir nicht erklären konnte, warum um Himmels Willen ein Mensch mitten in der Nacht einen trockenen Brunnenboden abtastet, verdichtete sich diese perverse Situation  in meinem Kopf zur Vorstellung, es handle sich hier um einen osteuropäischen Erntehelfer, der auf dem Beckenboden nach den Münzen sucht, die, wie ihm zu Hause erzählt wurde, Menschen in Deutschland in Brunnen werfen, weil sie glauben, das bringe ihnen Glück und der  bei dieser Suche zusätzlich noch das Bücken übt, um fit zu sein für das in den nächsten Tagen beginnende Stechen des Beelitzer Spargel.

 Ich bog in die Nürnberger Straße ein, ging an den beiden großen Hotels vorbei, blickte durch die Scheiben in die leeren Foyers, in denen sonst bis spät in die Nacht Gäste vor allem aus Osteuropa saßen, plauderten und etwas tranken. Kein Mensch war zu sehen. Dann bog ich um die Ecke in die Kurfürstenstraße und stand wieder vor der Eingangstür des Ruhesitzes. Als ich durch einen Knopfdruck den Aufzug rief, entdeckte ich die neu am Türrahmen befestigte Flasche eines Desinfektionsmittels und ein Schild mit der Aufforderung, vor dem Betreten des Aufzuges bitte die Hände gründlich zu desinfizieren….

Freitag, der 20. März 2020
Abends 23.30 Uhr 
Müdigkeit und matte Augen
Frühlingsanfang
Hölderlins 250. Geburtstag

Im Ruhesitz dürfen keine Besuche mehr empfangen werden. Die Mahlzeiten werden nicht mehr im Speisesaal serviert, sondern vom Personal auf die Zimmer getragen. Auch interne Besuche untereinander sollten vermieden werden, stattdessen könne man sich bei der Verwaltung nach den Telefonnummern der Bewohner erkundigen, mit denen man gerne ein Wort wechseln wolle. Das telefonische Gespräch sei ohnehin billiger als das direkte, weil es ohne die kaum mehr erhältlichen Atemmasken geführt werden könne.

Das Fernsehen zeigte vorhin die überfüllte Intensivstation eines italienischen Hospitals, die Panik des Pflegepersonals, das entscheiden muss, welchen der todkranken Patienten noch ein Bett angeboten werden kann und wer seinem Schicksal überlassen werden muss, dem Tod, weil die Betten nicht ausreichen. Es zeigte die Angst der Pflegenden, selbst angesteckt zu werden und schließlich die lange Kolonne olivgrüner Militärlastwagen, die die Särge der Toten auf die Friedhöfe oder zu den Krematorien fuhren. Schreckliche Bilder und nur durch sie hindurch kann ich noch die Welt erkennen. Sie schieben sich auch vor die gelben Birnen und wilden Rosen des Gedichtes, das mich fast ein ganzes Leben lang begleitet, beglückt und zum Nachdenken gebracht hatte. Einzig unverstellt und klar zu hören ist nur der Ruf: „Weh mir…”

21. März 2020
Nachrichten
Den ganzen Tag über

New York City verbarrikadiert sich. Die Metropole fürchtet um ihr Leben. Im Dreiländereck Deutschland, Frankreich, Schweiz spielen sich dramatische Szenen ab um Colmar und Mühlhausen, wo Patienten ab 75 Jahren gar nicht mehr beatmet werden können, weil es zu wenige Geräte gibt…Überall werden zusätzliche medizinische Fachkräfte gebraucht. ..Die Zahl von Italiens Coronatoten ist erschütternd hoch, 837 Menschen starben an Covid-19 zwischen Montag-  und Dienstagabend.

Mittwoch 1. April 2020
4.00 Uhr

Ich erwachte aus einem unruhigen Schlaf und während die vielen Informationen über den Virus aus den Medien mir durch den Kopf irren taste ich zum Fenster und blicke wieder hinunter auf die Kreuzung, deren vertrauter Lebenspuls unter dem Griff des Virus erloschen ist und die Vermutung quält mich, dass er den Griff erst wieder lösen und das alte, vertraute Leben wieder in die Straßen zurückströmen wird, wenn ich schon längst sein Opfer geworden bin. Ich blicke auf  die dunklen Fassaden in der Runde und spüre, wie jetzt die Krankheit in die Häuser schleicht und in die Lungen der Schlafenden schlüpft und frage, ob sie mich und die anderen Bewohner heute verschonen wird,  denn Altenheime wie unseres sollen sie ja gerne als Brutstätte zu ihrer Vermehrung wählen. Sind wir stark genug, sie abzuwehren?  Wie viele, denen wir nahestehen, werden vorher noch in entsetzlicher Isolation und Einsamkeit sterben?

Noch stehe ich am Fenster und höre mich verloren und leise die zweite Strophe von Hölderlins Gedicht “Hälfte des Lebens” in die Nacht hineinsprechen:

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter wird, die Blumen, und wo
den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt. Im  Winde
Klirren die Fahnen.

Share on TumblrEmail this to someoneShare on StumbleUponPin on PinterestShare on Facebook
Leave A Comment