26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Roger Ambuehl

Marlène Sokolowski 

Wäre sie nicht plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht wie ein Wanderer, der aus einer Nebelbank tritt, hätte ich vielleicht in Sorglosigkeit weiterleben können. Ich weiss nicht, wie sie es schaffte, an mich heranzukommen. 

«Du bist süss», sagte sie. 

Ich kann mich noch gut an diesen ersten Satz erinnern. Er war so harmlos, so schmeichlerisch, die Stimme lieblich, ein Versprechen. Ich war 26 Jahre alt und bereit für ein Abenteuer. Ich hatte schon vorher Frauen kennen gelernt. Es gab Susi, Monique und die kleine Mollige, ich weiss nicht mehr, wie sie hiess. 

Aber Marlène war anders. Sie sprang mich quasi an. Ich war gerade auf dem Nachhauseweg, als ich ihren Sopran hörte. An den gekrümmten Fingern meiner rechten Hand hing ein Sixpack Bier, das ich mir nach Feierband besorgt hatte. Ich erinnere mich, dass es an diesem Abend heiß war. Ich schwitze unter meinen mit eingetrockneten Farbspritzern gesprenkelten Überkleidern, aber es störte mich nicht.

«Ich mag Männer, die arbeiten können.»

Die Stimme war mir so vertraut wie die meiner Mutter. Ich fühlte mich sofort wohl.

Ich drehte den Kopf, wollte sehen, wo der Ton her kam. Doch zu meiner Überraschung war niemand da. Ich sah hinter mir nur ein Hitzeflimmern vom Asphalt aufsteigen. 

Versteckte sie sich irgendwo? 

Mein Herz begann zu pochen. Ich blickte unsicher in alle Richtungen, konnte jedoch nirgends eine Frau entdecken. Neben dem Bürgersteig stand ein altes Haus mit violetten Schindeln, deren Farbe abblätterte. Hielt sie sich hinter einem der alten Fenster verborgen? Erlaubte sich jemand einen Spass mit mir? Das Sixpack löste sich von meinen Fingern. Ich stellte es ab, um Scherben zu verhindern, rieb mir die vom Tragen steif gewordenen Fingermuskeln.

«Suchst du mich? Das ist allerliebst», hörte ich plötzlich wieder die Stimme. 

Ich wirbelte herum, als würde ich von einem Schwarm Bienen angegriffen. Ich sah auf der anderen Strassenseite eine alte Frau stehen. Sie trug einen Einkaufskorb und äugte mich an. 

«Treibst du dieses Spiel mit mir?», rief ich.

Die alte Frau erschrak. Sie drehte den verschrumpelten Kopf weg und ging weiter. Ich wurde wütend. Obwohl sonst nicht meine Art, schaute ich mit finsterem Blick in alle Richtungen. Jemand spielte mir einen üblen Streich, das war mir jetzt klar. Doch so fest ich mich auch konzentrierte, konnte ich doch nirgends eine Spur entdecken. Da war niemand.

«Bist du wirklich so blöd und erkennst mich nicht?»

Wieder wirbelte ich herum, wieder sah ich nichts. Ich begann heftig zu schwitzen. Ich bekam kalt, dann wieder warm und es schauderte mich. 

«Wo bist du?» rief ich. «Wo versteckst du dich?»

Es war kein Spiel mehr. Die ganze Lockerheit eines gewöhnlichen Feierabends war weg. Ich fühlte mich wie in einem Boxring mit Scheinwerfern, die mir in den Nacken brannten und Augen, die mich aus der Dunkelheit beobachteten. Was für ein grauenvolles Gefühl! Mein Herz pochte. Was war hier nur los?

«Hier bin ich. Ich liebe dich. Du bist der, nach dem ich schon lange gesucht habe. Der Auserwählte.»

Die Lieblichkeit der Stimme vermengte sich mit meiner Nervosität. Ich wusste nicht mehr, ob ich mich freuen oder zu Tode ängstigen sollte. 

Und dann plötzlich verstand ich. 

Ich schlug mit der flachen Hand an meine Stirn. Wieso sah ich es erst jetzt? Obwohl es nicht um Sehen im eigentlichen Sinn ging, es war Verstehen. Eine Stimme, die ich nicht erspähen konnte; ein Geist! 

Ich lächelte. Eine Art Seligkeit erfasste mich. Ein Wesen aus einer anderen Welt sprach mit mir und ich war erstaunlicherweise in der Lage, es deutlich zu vernehmen. 

«Wie heisst du?», flüsterte ich. Irgendetwas musste ich ja sagen. Und schliesslich begegnet man nicht jeden Tag einem Geist – oder besser einer Geistin. Wieder vernahm ich die zarte Stimme:

«Marlène Sokolowski.»

Es ist eine nicht alltägliche Geschichte, die an diesem Tag mit Marlène ihren Anfang nahm, sich rasch in ihrer Intensität steigerte und ein verstörendes Ende fand. Ich habe ich bis heute niemandem erzählt, was nach diesem ersten Treffen passierte. Doch Unausgesprochenes schafft eine innere Spannung, die sich wie Gase in einem Benzinkanister langsam aufbauen und auf Entlastung warten. Darum muss es jetzt raus.

Von diesem Tag an begleitete sie mich nämlich auf Schritt und Tritt. Manchmal war Marlène über ein paar Tage ruhig, aber sie kam immer wieder zurück. Und es war nicht irgendein Gebrabbel, mit dem sie mich beglückte, nein, es waren Liebesschwüre. Nicht wenige an der Zahl und sie wurde immer aufdringlicher. Marlène vereinnahmte mich. Glotzte ich zum Beispiel von einem Baugerüst auf einen tanzenden Frauenhintern hinab, meldete sie sich sofort:

«Was erlaubst du dir eigentlich du Ochse? Schaust jedem Rock hinterher, obwohl dich keine je so lieben wird wie ich!»

Was ich auf einem Baugerüst zu suchen hatte? Damals malte ich noch Wände an. Nicht Leinwände wie Künstler, sondern verputzte Mauern. Ich bezeichnete mich selbst gerne als intelligentesten Anstreicher des Landes. Meine Arbeitskollegen lachten, wenn ich das sagte. Sie glaubten, es sei ein Witz. Aber das war es keineswegs, denn ich hatte wirklich vier Semester Geschichte mit Nebenfach Germanistik studiert. Doch im Umgang mit Marlène nützten mir weder meine praktischen noch mein intellektuellen Fähigkeiten etwas. Sie nistete sich bei mir ein wie ein Hausbesetzer.

Sie war nicht nur eifersüchtig, sie bewertete auch die Menschen um mich herum. Ich hatte nicht viele Freunde zu dieser Zeit, doch die wenigen, die sich gelegentlich mit mir trafen, machte sie schlecht: «Was für eine dümmliche Frisur», «Schlaghosen, du meine Güte» oder «Sie will dir nur böses». 

So äusserte sie sich über meine Bekannten. Und es entfaltete durchaus seine Wirkung. Da sie es oft sagte, brannte es sich in mein Hirn ein und ich hatte Mühe, Beziehungen aufrecht zu erhalten und traf darum immer seltener andere Menschen. 

Obwohl ich meistens nur ihre Stimme hörte, sah ich sie manchmal auch. Es waren surreale, flüchtige Begegnungen: Sie huschte während diesen seltenen Gelegenheiten schnell durch meine Wohnung oder blinzelte hinter dem Duschvorhang hervor. Sie sah altmodisch aus, trug lange Kleider mit Unterrock und sie hatte einen strengen Gesichtsausdruck, der durch eine auffällig blasse Gesichtshaut und eine eng an den Kopf angelegte Zopffrisur noch zusätzlich verstärkt wurde. Sie erinnerte mich an eine Gouvernante. Ich erschrak jedes Mal fürchterlich, wenn sie sich mir zeigte, und ich war jeweils heilfroh, wenn sie wieder verschwand.

Ich sass in den folgenden Wochen oft in meiner Bude auf dem Boden, hielt mir die Hände an die Ohren und wünschte mir, dass sie mich in Ruhe liesse. Doch auch das hörte sie. Sie konnte meine Gedanken lesen:

«Ich soll weg. ICH? Wer tut den hier so viel für dich? Wer liebt dich so wie ich? Du Versager! Ich bin die Einzige, die dich umsorgt, wenn du dich verkriechst», sagte sie.

Manchmal schrie ich. Ich liess es raus, weil mich ihre Präsenz zu erodieren drohte. Ich brauchte ein Ventil. Die Nachbarn öffneten ihre Haustüren, fragten ob ich Hilfe nötig habe oder klopften mit Besenstielen an die Decke. Dumpf und anklagend. Zum Glück hatte ich mich jeweils nach kurzer Zeit leer geschrien und damit legte sich auch die Aufmerksamkeit in den Nebenwohnungen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Sie war ein Stalker-Geist und ich brauchte Hilfe. Dringend. Professionell. Marlène musste weg.

Ich wunderte mich schon ein bisschen, dass er mich in solch einer Bruchbude empfing. Das Haus war halb verfallen, es lagen fleckige Matratzen am Boden und er hatte zwei wackelige Holzstühle bereit gestellt.

«Das ist Teil des Prozesses», sagte er. «Das Setting ist entscheidend. Umso ungewöhnlicher, desto besser wird es uns gelingen, Ihre Probleme zu lösen.»

Marlène lachte nur. «So ein Eierkopf», sagte sie.

«Geister sind tote Seelen, die es aus irgendeinem Grund nicht geschafft haben, auf die andere Seite, in das Reich des Todes hinüber zu treten. Wenn man aber den Grund findet und ihnen hilft, verschwinden sie oft von ganz alleine», sagte er.

Er räusperte sich. Wir nahmen auf den Stühle Platz und er fügte an:

«Ich bin mir aber noch nicht sicher, ob sie wirklich ein Geist plagt.»

«Können Sie mir helfen, meinen Geist los zu werden?», sagte ich und überhörte damit seinen Einwand. Was sollte Marlène anderes sein, als ein Geist?

Das Männchen, das mir gegenüber sass, galt als eine Koryphäe der Geisteraustreibung, war spindeldürr, hatte eingefallene Wangen und sah krank aus. Seine Augen waren mit roten geplatzten Äderchen durchzogen. Es schien ihn eine Menge Energie zu kosten mit diesen Wesen zu verhandeln. Ich erinnere mich nicht, wie ich auf ihn kam, aber ich legte meine ganze Hoffnung in dieses Treffen und sein Können.

Marlène hielt sich für einen Augenblick still. Sie war wohl ebenso gespannt wie ich, was er nun tun würde. Zu meiner Überraschung sagte er:

«Darf ich Ihnen eine Story erzählen?»

Ich nickte und so begann er zu sprechen:

«Es war einmal eine junge Frau, die sich oft über andere Menschen aufregte. Sie arbeitete im Bürodienst einer Versicherung und war den ganzen Tag unglücklich. Immer wieder schimpfte sie auf ihre Kollegen, die ihrer Meinung nach die Arbeit nicht richtig machten, auf Politiker, Freunde oder sogar den Zeitungsboten. Alle waren schuld an ihrem Leid, taten dieses oder jenes zu ihrem Nachteil. Sie nahm die Menschen um sich herum als böse und unfähig war und sie wunderte sich, dass nie jemand nett zu ihr war. 

Es wird Sie kaum überraschen, dass diese Frau nur ganz selten ausging. Und wenn, dann immer nur ins gleiche Restaurant. Ein Chinesisches, in dem die Angestellten immerzu lächelten und ihre negative Ausstrahlung mit einer bewundernswerten Geduld und Freundlichkeit ertrugen. 

An einem Herbstabend, als sie wieder alleine in einer Ecke des Restaurants sass, nahm sie aus einer Laune heraus nach dem Essen einen der Glückskekse, die sie sonst immer verschmähte und brach ihn lustlos auf. Auf einem mageren Papierzettelchen stand in blass gedruckter Schrift: Deine Wirklichkeit ist eine Konstruktion deines Verstandes.

Bumm. Das sass. So verstört, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige gegeben, sass sie da und betrachtete den Spruch, der ihrem Leben eine neue Wendung geben sollte. Sie erkannte nämlich in diesem Moment, dass die ganze Boshaftigkeit und Unfähigkeit, die sie anderen unterstellte, vor allem daher kam, wie sie die Welt interpretierte. Ihre Wirklichkeit war voller Probleme, die sie selbst erschuf. 

Zum ersten Mal nahm sie wahr, wie traurig und wütend sie ihre Lebensumstände eigentlich machten und wie heftig ihr die Umwelt das spiegelte.

Diese Einsicht löste eine grosse innere Krise aus und als Folge verlor sie ihren Job. 

Aber es war auch der Anfang von etwas Neuem. Sie begann nämlich, ihre Umwelt und die Situationen, die ihr das Leben schenkte, wohlwollender oder gar nicht mehr zu bewerten. So fing sie an, sich eine neue Wirklichkeit zu erschaffen.»

Als er mit seiner Erzählung fertig war, schaute er mich mit seinen roten Augen an. Er sah müde aus, sank auf seinem Stuhl zusammen, was seine hagere Gestalt noch mehr betonte. Ihn betrachtend fragte ich mich, was die Geschichte bedeutete. Wieso sprach er von der Wirkung des Verstandes? Ich war verwirrt. Er hatte nicht von Geistern gesprochen. Ich hatte eine Austreibung wie im Film erwartet: ein Exorzist, Rauch, Kreuze und grüner Schleim. Nicht eine einfache Geschichte. Und dazu noch über eine Frau, mit der ich so gar nichts gemein hatte. Aber der Geisteraustreiber wollte mir mit seiner Schilderung bestimmt etwas mitteilen. Nur was?

Auf einmal, als wären seine Lebenssäfte neu erwacht, richtete er sich wieder in seinem Stuhl auf. Seine Blick wurde hart. Sein Ton änderte sich:

«Verstehen Sie, was ich sagen will?»

Zuerst runzelte ich nur die Stirn. Ich brauchte noch einen Moment der Stille, der Einkehr. Doch nach und nach verbreitete sich die Erkenntnis in meinem Bewusstsein wie ein Virus in einem offenen System. 

Ich sagte: «Ich glaube ansatzweise schon. Nicht alle Geister sind Seelen aus einer anderen Welt. Oft ist es besser bei sich selbst anzufangen, statt im Aussen zu suchen.» 

Ich schaute ihn an, wartete auf Bestätigung. Ruhig erwiderte er meinen Blick. Er sagte nichts, schien auf etwas von mir zu warten.

«Wollen Sie damit andeuten, Marlène entstehe in mir? Ist sie eine Stimme, die in meinem Kopf geboren ist?», sagte ich schliesslich.

Er nickte. Der Ansatz eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. Er sah irgendwie glückselig aus, als wäre er mein Vater und ich sein Kind, das gerade Laufen lernte.

Ich dachte, die Sitzung wäre damit beendet und sagte: «Vielen Dank. Ich bin sicher, Marlène wird bald verschwinden, wenn ich sie als eine innere Stimme annehme und ihre Präsenz akzeptiere. Ich freue mich, bald wieder alleine zu sein.»

Doch statt mich zu verabschieden, sagte er: 

«Von jetzt an werden Sie nie mehr alleine sein.»

Er schaute mich wieder mit diesem unheimlichen Blick an; aus diesen roten, leeren Augen. Ich spürte, wie etwas in mir hoch kroch. Etwas passierte hier. Genau jetzt. Etwas, das nicht gut war.

«Ich weiss nicht, was Sie meinen», sagte ich und blickte zu Boden.

«Dann haben Sie die Geschichte nicht wirklich kapiert.», hörte ich ihn sagen. «Nicht nur Marlène, ihre komplette Wirklichkeit ist eine Konstruktion ihres Intellekts.»

Meine Augen weiteten sich vor Verblüffung. 

Ich hob den Kopf und sah, dass der Stuhl vor mir leer war.

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