26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Michael Brepohl

Der Todeskuss.

 

Der einsetzende Straßenlärm holte sie aus finsteren Träumen zurück in eine noch unerfreulichere Wirklichkeit. Erste Erinnerungssplitter blitzten auf, doch noch verhinderte ein dumpfer Kopfschmerz, dass sie sich in Gänze an die Ereignisse der vergangenen Nacht erinnern konnte. Verfluchter Kopfschmerz. Es fühlte sich an, als wären gallige Kobolde damit beschäftigt, ihr die Augäpfel aus dem Schädel zu drücken. Sie wankte ins Bad, nahm zwei Schmerztabletten aus dem Spiegelschrank, wankte weiter in die Küche, setzte die Espressokanne auf den Herd und spülte die Tabletten mit einem Schluck Leitungswasser herunter. Neben der Biotonne standen zwei leere Flaschen, stumme Zeugen eines einsamen Bacchanals.

Mit einer Tasse frisch aufgebrühten Espresso in den noch zittrigen Händen ging es wohnzimmerwärts. Der Boden im Flur war mit den Trümmerteilen ihres Routers übersät, den sie in den frühen Morgenstunden gegen die Wand geschleudert hatte, der untaugliche Versuch, einen digitalen Scheißesturm zu stoppen. Schon seit ihrer Kindheit hatte sie sich gewünscht, eines Tages unbeseelten Gegenständen etwas von dem Schmerz zurückgeben zu können, den sie einem zugefügt hatten, vergeblich. 

Auf den Holzdielen des Wohnzimmerbodens rollte sie die Yoga-Matte aus, doch dieser Tag sollte sonnengrußlos beginnen. Noch bevor sie die Ausgangsstellung zur ersten Übung vollständig eingenommen hatte, sprudelte eine Fontäne Salzsäure ihre Speiseröhre hinauf, ein Teil des Magensafts versickerte in ihrer Luftröhre, sie ließ sich hustend auf ihre Unterlage fallen. 

Nachdem das Sodbrennen nachgelassen hatte, rief sie sich ihr Feelgood-Mantra ins Gedächtnis, eine Aufzählung von all dem Guten und Schönen, was sie geleistet hatte: 10 Jahre Vegetarierin, vier Jahre vollkommen tierfreie Ernährung, drei Jahre ohne eigenes Auto, drei Jahre privat in kein Flugzeug mehr eingecheckt. Wenn man ein guter Mensch sein will, muss man Opfer bringen. Und die brachte sie Tag für Tag. Aber was zählte das nach diesem schrecklichen Fauxpas noch? Nichts. Niente. Nada. 

Von der Straße drang ungewöhnlich viel Lärm zu ihr herauf, sie ging zum Fenster und spähte durch einen Spalt in den aus Naturfasern fair gefertigten Gardinen. Draußen hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Journalisten, Demonstranten und Gaffer warteten darauf, was sie wohl unternehmen würde. Aus dem Fenster springen? Für den Fall hatten einige von ihnen schon Kameras und Smartphones in Anschlag gebracht. Sie ging vom Fenster weg und legte sich wieder auf die Matte.

Weil das Meditieren nicht funktionierte, versuchte sie sich an ihren sicheren Ort zu flüchten. Sie hatte das mal in einem Ratgeber gelesen, wie man zur Ruhe kommt, in dem man sich an einen imaginären Ort versetzt. Ihrer war die Bucht auf einer Tropeninsel, die nur in ihren Gehirnwindungen existierte. Sie schloss die Augen, stellte sich eine warme Brise vor, die ihr sanft um die Nase wehte, den Duft von tropischen Pflanzen, das Rauschen der See, die langsam auf den weißen Sandstrand zurollte. Sie fokussierte sich auf ein paar smaragdgrüne, schaumgekrönte Wellen. Auf einer entdeckte sie einen rosafarbenen Gegenstand, der auf und ab hüpfte. Kein Zweifel, es handelte sich um eine Waschmittelflasche. Nun sah sie sich etwas genauer an ihrem Traumstrand um, der war übersät mit Plastikmüll. Am Arsch, es war einfach alles am Arsch, total am Arsch, sogar ihre Fantasie war zu einer Müllkippe verkommen. Und das alles wegen eines beschissenen Wortes, dass sich am Vorabend versehentlich durch den Zaun ihrer Zähne geschlichen hatte. In einer Talkshow im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Ein neun Buchstaben langes Todesurteil. 

Matschbrötchen! Wieso hatte sie nicht Matschbrötchen gesagt! Wie dämlich, dachte sie, rief sich aber gleich zur Raison. Dämlich ging natürlich auch nicht. Ihr aktiver Wortschatz musste dringend einer gründlichen Inventur unterzogen werden. Aber wo war dieses überlebenswichtige Wort nur gewesen, als sie es brauchte, hatte sie nicht lange nach ihrem vierzigsten Geburtstag schon ihren ersten Senior Moment gehabt? Oder war das ihr Unterbewusstsein, dass die Axt an die Karriereleiter gelegt hatte, handelte es sich hier um eine Fehlleistung im freudschen Sinne?

Das ausgerechnet ihr das passiert war. War sie es doch gewesen, die mit dem Artikel „Kinderhort des Rassismus“ gerade noch eine so wichtige Diskussion angestoßen hatte. Selbst manche rückwärtsgewandten Parteikollegen hatten gemault, weil sie gefordert hatte Jim Knopf aus dem Kanon der Vorschulen zu verbannen. Ein weißer Lokführer mit einem schwarzen Gehilfen, das konnte doch nicht wahr sein, dass people of color in den Köpfen unserer Kinder immer nur die zweite Geige spielen.

Allmählich ließ der Kopfschmerz nach. Es war Zeit, den Abend genauer zu rekonstruieren und dafür brauchte sie ihr Smartphone. Das aber musste sie erst einmal suchen, sie wusste nur noch, dass sie es an einem abseitigen Ort vor ihrem Zorn in Sicherheit gebracht hatte. Im Eisfach ihres A+++-Kühlschranks wurde sie fündig. Es dauerte dann einen Moment, bis es sich akklimatisiert hatte. Der Bildschirm war von Nachrichten übersät, eine eisiger als die andere, 34 Anrufe in Abwesenheit, 224 E-Mails und 114 WhatsApp-Nachrichten.Das alles kam ihr vor wie die Endphase von einer Tetris-Partie. Gerade war noch alles in geordneten Bahnen verlaufen und plötzlich regierte das Chaos, je verzweifelter man versuchte, die Ordnung wiederherzustellen, desto schneller war alles aus.

„Die Gewissheit der eigenen Unangreifbarkeit ist die Wurzel unserer furchtbarsten Niederlagen“. War das von Sun Tsu? Machiavelli? Von wem auch immer, in ihrem Fall traf es zu. Die Talkshow war perfekt gelaufen. Bildung, ihr Paradethema. Sie hatte die Standpunkte der Partei mit Nachdruck vertreten, hatte klar und kompetent argumentiert, ohne besserwisserisch aufzutreten, und so das Studiopublikum schnell auf ihrer Seite gehabt. Und das bestand in der Hauptsache aus reichlich verwitterten Rentnern, die normalerweise nie ihre Partei ergriffen.

Sie checkte ihren Twitter-Account. Dort hatte sie am Fuße der zweiten Flasche eine larmoyante Selbstanklage veröffentlicht, mit der sie durchaus bei einem stalinistischen Schauprozess Eindruck gemacht hätte. Dass sie sich über das patriarchalisch vergiftete Klima ihrer kleinbürgerlich geprägten Kindheit ausgelassen hatte, konnte womöglich der Grund dafür sein, dass ihr Vater nicht auf ihren Hilferuf reagierte. Als Hashtag für ihren Tweet hatte sie #BSM statt #BLM benutzt, betrunken posten war etwas, dass sie sich eigentlich schon längst verboten hatte.

Was hatte sie in ihrem von Alkohol und Panik vernebelten Kopf noch getan, etwa telefoniert? Sie hoffte, sie hätte nur in ihren Albträumen zum Hörer gegriffen, vergeblich. Ein Blick in die Anrufliste offenbarte, dass sie tatsächlich mit jemanden gesprochen hatte, nachts um 2 Uhr 33. Und das war Hartmut, der Parteivorsitzende gewesen. Es fiel ihr alles wieder ein, leider. Er hatte sie kaum zu Wort kommen lassen, er wollte, dass sie nach dem Vorfall ihr Mandat und ihre Parteiämter niederlegen sollte, nach einer angemessenen Karenzzeit könnte man darüber reden, ihr einen Job bei einer Stiftung zu geben und wenn Gras über die Sache gewachsen war, könnte man weitersehen. Als ob im digitalen Zeitalter über irgendeine Sache jemals wieder Gras wachsen würde. Das Web vergisst nichts.

Während Hartmut salbadert hatte, war ihr aufgefallen, dass jemand bei ihm war, im Hintergrund wurde eine Flasche entkorkt. Hartmuts Frau blieb gewöhnlich in ihrem Provinzkaff und kam so gut wie nie nach Berlin, da musste jemand anders die Nacht mit ihm verbringen. Und für einen kurzen Moment hatte sich der Alkoholnebel verzogen und ihr einen lichten Moment gewährt. Genau an der Stelle, wo Hartmut en passant einflocht „Barbara wird kommissarisch Deine Aufgaben übernehmen“. Da war es aus ihr herausgeplatzt, „Fickst Du mit ihr?“ Womöglich hatte sie aber am Ende des Satzes statt „ihr“ noch ein anderes F-Wort benutzt, garniert mit ausgelutschten Adjektiven. Wieso fielen die Kerle alle immer auf die Barbaras dieser Welt rein. Sie war eine karrieregeile BWLerin, die nur aus dem Grund in die Partei eingetreten war, weil sie sich da gute Aufstiegschancen ausgerechnet hatte, die programmatischen Inhalte waren ihr egal, Hauptsache die Frisur sitzt. Barbara wusste genau, wie sie mit einem Schütteln ihrer blonden Mähne jeden Hetero-Mann zum Affen machen konnte. Und wie man den anderen Stuten in der Box die Kehle durchbeißt, wenn gerade keiner guckt. Hartmut hatte mal gesagt, dass er Barbaras kokette Art enervierend fände, doch die begehrlichen Blicke, die er bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Barbaras Arsch richtete, sprachen eine andere Sprache.

Ihr Parteivorsitzender hatte nicht ein Wort des Trostes oder des Verständnisses für sie übriggehabt, der war so ein beschissener Vollblutpolitiker geworden, benutzte Floskeln aus dem Handbuch alter weißer Männer, die längst tot und begraben waren, „Schaden von der Partei abwenden“ wollte er. Und mit ihren beleidigenden Äußerungen über Barbara hätte sie endgültig die Grenze des Vertretbaren überschritten. Von einem Amt bei einer Stiftung war dann auch nicht mehr die Rede gewesen. Das Gespräch war um 2 Uhr 41 zu Ende gewesen.

Bevor sie sich jetzt auf dem Smartphone ihre Pressekritiken ansah, spielte sie noch eine Runde Quizduell, ein kleines Erfolgserlebnis sollte ihr Rückenwind für die weitere Aufarbeitung ihres Desasters geben. Nachdem sie bei dem Online-Spiel gegen Schlaubi23, gegen Eselchen und gegen Baron von Klugschiss untergegangen war, begann sie mit der Presseschau. Und zwar da, wo es am meisten wehtut: beim Boulevard. Tatsächlich hatte sie es zum ersten Mal in ihrem Leben ganz oben auf die Titelseite geschafft, man hatte sie an den Pranger gestellt, der normalerweise den Kinderschändern, Politclowns, Kriegsverbrechern und den ganzen anderen Abschaum vorbehalten war, welcher den Volkszorn am verlässlichsten zum Kochen bringt. Riesengroß sah man ihr Foto, ein Standbild aus der Talkshow, und zwar genau in dem Moment aufgenommen, als sie es gesagt hatte, da hatte sie gelächelt, zum ersten und einzigen Mal in der Sendung. RASSISMUS-BEAUFTRAGTE VERHÖHNT FARBIGE. Wie üblich stimmte nichts an dieser Schlagzeile. Das versoffene Hausfaktotum der Zeitung hatte ihr seinen täglichen Kommentar gewidmet, unter der Überschrift: Nega-Fail. Mehr musste sie nicht sehen. Noch unerträglicher wäre es ihr gewesen, Verständnis von der falschen Seite zu bekommen. In einer überregionalen Tageszeitung, die ihr normalerweise recht gewogen war, vermeldete man nur kurz: Rücktritt nach missglücktem TV-Auftritt. 

Bevor sie weiterlesen konnte, tauchte das Gesicht der gerade anrufenden Barbara auf ihrem Handy auf. Sie blockierte das Gespräch. Sekunden später kam eine Textnachricht: „Wir müssen reden, wegen der Übergabe. Gruß von der dreckigen F…., Zwinkersmiley“. Dreckig hatte sie gar nicht gesagt, dumm oder debil, vielleicht, sicher nicht dreckig.

In jedem Zombieapokalypse-Film kommt diese eine Stelle, wo das Gemetzel kurz Pause macht und ein noch Davongekommener die Frage stellt: „Was wirst Du machen, wenn das alles vorbei ist?“ Genau diese Frage stellt sie sich jetzt. Für eine Verbeamtung war sie zu alt. Dass sich die freie Wirtschaft für sie interessieren würde, war auch sehr unwahrscheinlich. Ihre frühen Artikel mit Überschriften wie: „Lasst uns den Raubtierkapitalismus einhegen“, kursierten immer noch überall im Web. Yoga-Lehrerinnen gab es mittlerweile mindestens doppelt so viele wie Yoga-Schüler. Spaßeshalber konnte sie sich auf dem Arbeitsamt für eine Umschulung bewerben, die hatten eine Reihe von Palliativ-Maßnahmen für auf der Führungsebene gescheiterte Existenzen. Da konnte sie sich dann irgendwann eine Visitenkarte drucken lassen, auf der Coach oder Scrum-Master stand, das klang immerhin besser als Harz IV-Empfänger, machte aber sonst keinen großen Unterschied.

Gerne wäre sie an die frische Luft gegangen, doch stand draußen immer noch eine Menschentraube. Jemand hielt ein Transparent hoch: „Black lives matter“.
Bei YouTube war ein Video mit der kompromittierenden Szene hochgeladen worden, 16.432 Ansichten. Die Zahl der erhobenen und gesenkten Daumen darunter hielt sich die Waage, was immer das bedeuten mochte. Sie wollte das auf keinen Fall noch einmal ansehen, doch wie von Geisterhand setzen sich die Bilder in Bewegung. 

In der Sendung war etwas passiert, was selten vorkommt, noch vor Ablauf der Sendezeit war man mit den Themen durch, und da hatte sich die Moderatorin zu einer spontanen Frage hinreißen lassen: „Reden wir doch zum Schluss mal über ihre Schulzeit, woran erinnern sie sich besonders gerne zurück?“

Wirklich gerne erinnerte sie sich an ihre vielen guten Noten. Aber sie wollte nicht so streberhaft rüberkommen, wie klug sie war, hatte sie an dem Abend schon unter Beweis gestellt, lieber wollte sie sich zum Schluss noch etwas von der menschlichen Seite präsentieren, das schien ihr in diesem verhängnisvollen Moment die beste Idee zu sein. „Ich habe mich immer wahnsinnig auf die große Pause gefreut, da habe ich mir eine Semmel gegönnt, mit einem dicken Negerkuss darauf. Das Knacken von dem Negerkuss, wenn man da reingebissen hat, göttlich.“ Und dann, dann hatte sie sich auch noch grinsend über die Lippen geleckt.

 

Ende

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