26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Uwe Krüger

Kolumbus, Clooney und Apistogramma

„Wir sind Rührer und Maurer. Erst wird gerührt und dann gemauert.“ Wenn Neptun nichts Besseres einfällt, erinnert er sich an seine Vergangenheit als Polier auf dem Bau. Jeder Neue bekommt den Spruch in die Ohren gemeißelt. Und jede Neue. Frauen dürfen gerne bei uns ran. Neptun hält viel von ihnen. „Die haben mehr Gefühl im Handgelenk und verzählen sich nicht so oft.“ Bea zieht die Nase hoch und Maia den Latexgummi über den zur Schlaufe gezwirbelten Beutelrand. Danach steckt sie den prallen Sack in die Box. Deckel drauf. Klappe zu. 

Ich stehe auf der Leiter und schiele über die Glaskante hinunter auf den Packtisch. Das ganze Pack im Blick. Meine Augen bleiben an Clooney hängen, der breitbeinig auf dem Stapler hockt und eine Runde dreht, die weder elegant noch nötig ist. Unter seinem Hintern blinkt ein rotes Licht, das andere ist defekt. Clooney bremst, das Auge leuchtet und ich weiß, dass er Maias Hände betrachtet, die geschickt mit dem Klebebandroller über das brüchige Styroporstück streichen. Seit einer Woche sind die beiden zusammen. Bea hat es mir erzählt. Ich zwinkere meine Tränen fort. 

Wir schuften in Schießscharten aus Glaswänden zwischen denen wir uns verstecken. Ich stehe auf eine Leiter, die Füße knapp über der verräterischen Querspalte und schaue. Unter mir glänzt die silbrige Oberfläche des Packtisches wie ein trüber ungeputzter Spiegel. Glas und Alu rosten nicht, Eisenherzen schon.

Die Bezahlung ist in Ordnung, aber das ist es nicht, was mich hält. Der Ort fasziniert mich: Grüngelb schimmerndes Neonlicht, tropische Wärme und immerfeuchtes Äquatorialklima nahe an der Luftsättigung und das Glitzern und Gleiten der unzähligen Flossenträger, geheimnisvolle stumme Wesen, ein Ideal der Diversifikation, Abziehbild der Welt en miniature. Als ich einmal Bea davon erzählte, hielt sie sich vor Lachen den Bauch und warnte mich vor einem Hitzeschlag, aber Maia hat es verstanden. Damals waren wir uns so nahe wie Geschwister. O sister, where art thou?

Maia kam vor einem Jahr zu uns. Am ersten Tag versuchten sie es mit „Lorelei“, aber weder Maias schwarze Haare noch ihr abweisender Blick passten zu den Vorstellungen des am Rheinfelsen kauernden Kurvenstars. Am zweiten Tag hieß sie „Black Beauty“, aber jedem, der sie so ansprach, schmetterte sie einen Tritt gegen das Schienbein, sodass zwar ein passender Name gefunden war, sich aber niemand traute, ihn zu benutzen. Am dritten Tag verhunzten sie ihren Namen zu Biene Maja, Mayday und Maia Maier. Sie testeten aus, was ihnen gerade einfiel, bis der Bogen überspannt war und die Sehne mit einem Knall riss. Ich fand sie tränenüberströmt vor einem der Becken mit den teuren Zwergbuntbarschen. Die Apistogramma elisabethae – ausgerechnet meine kleinen Namensvettern und -basen, das Tier für hundertachtzig Eus – stapelten sich mit trüber Iris auf dem tot-trockenen Glasboden. Schöne Scheiße. Wasser abgelassen und dann vergessen. Das würde nen fetten Eintrag geben mitten auf die Stirn: Elis Mörderin oder so. 

Bevor ich etwas Tröstendes sagen konnte, tauchte Neptun hinter uns auf. „Sososo“, zischelte er und kaute auf seinem Zahnstocherdreizack herum. Für mich klang das genau wie SOS … SOS. „Was ist denn hier passiert?“ Ungläubig starrte er auf das Massengrab vor seinen Augen. Der traurige Schuppenhaufen taugte nicht mal mehr als Katzenfutter. Dann dämmerte ihm das Ausmaß des finanziellen Verlustes und seine Stimme changierte ins Hysterische. „Vergessen den Hahn abzudrehn, was? Hab ich doch immer gesagt, dass ihr beim Wasserwechsel dabei bleiben müsst! Das gibt ‘nen Monatslohn Abzug!“, geiferte er. „Kannst dich schon mal drauf einstellen die nächsten Wochen umsonst zu arbeiten.“

Noch bevor mir klar wurde, was ich da eigentlich von mir ließ, rutschten die Worte heraus: „Lass gut sein, Alter, und zieh’s mir ab! Den Mist hab ich verbockt.“

Beide glotzten sie mich an, als wären mir soeben Fischflossen gewachsen. Irgendwann schüttelte Neptun den Kopf, murmelte etwas Unverständliches und verzog sich in Richtung Büro, um – wie ich annahm – seine Drohung mit der hübschen Lohnbuchhalterin zu besprechen, die ihn und seine Fischgeruch verbreitenden Besuche stoisch und mit angehaltenem Atem ertrug. Zu meiner Überraschung hat er seine Drohung nie wahr gemacht. Trotzdem habe ich Maia in dem Glauben gelassen, sie stünde in meiner Schuld. Genutzt hat es nichts. 

Meine Beine zittern. Bevor ich von der Leiter falle, klettere ich nach unten. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen spüre, schnappe ich mir meinen Lieferschein, Kochrezept für umsatzförderndes Gerühre und mache mich ans Werk. Im Nachbargang hängen Siegfried und Roy über ihren Becken und ziehen alles heraus, was sie finden können. Sie schwitzen, obwohl sie in kurzen Jeans herumlaufen und nur ein T-Shirt auf der haarigen Brust tragen. Die an den Knöcheln abgeschnittenen jägergrünen Gummistiefel wirken wie Siebenmeilenstiefel, die fertig zu stellen der schusternde Hexenmeister keine Lust mehr hatte. Ich blicke an mir hinunter und betrachte meine gebleichten Unterschenkel mit den schmerzenden Füßen, die in kaulquappenhässlichen Schuhen verschwinden. Unter der Gürtellinie sind wir alle gleich: Geklonte Wesen aus Platt- und Schweißfüßen, die mit staksigen Bewegungen an den Aquarien entlangschleichen, am Ziel lauernd Halt suchen und ihr Fangnetz reiherschnäbelnd ins Wasser stoßen.

Maia und ich wurden dicke Freundinnen und wer weiß, was noch, wenn nicht eines Tages Clooney in der Fischhalle aufgetaucht wäre. Der Typ war einfach unwiderstehlich und es störte mich überhaupt nicht, dass er in Wirklichkeit Christoph Krabschnick hieß und von allen Kollegen nur Gabelstapler-Clooney genannt wurde. Ich liebe George Clooney und habe alle seine Filme gesehen. Dass er sich ausgerechnet für mich entschied, wunderte mich deshalb nicht eine Sekunde. Schließlich war ich schon immer sein treuester Fan und heimlichste Geliebte. Wir ließen uns treiben und trieben es überall: im Heizungskeller, auf den Pritschen im Umkleideraum und nach Dienstschluss zwischen den blubbernden Becken ohne uns an den unzähligen stecknadelwinzigen Augäpfeln zu stören, die uns dabei beobachteten. Es liegt an der Luft, die wir einatmen. Sie trägt schwer an der Feuchtigkeit, vermischt sich mit dem aquatischen Kopulationsdruck der Gefangenen, so dicht, greifbar, drängend, dass sie die gläsernen Barrieren überwindet und sich durch Nasen, Ohren, Augen in unsere Köpfe zwängt, jeden Gedanken und jede Regung zu einer Sklavin von Gier und Begehrlichkeit macht.

Ich darf mich nicht ablenken lassen, dieser Kunde zählt immer nach. Jeden verfickten Schwanz! Also volle Konzentration! Noch siebentausend schimmernde zentimeterkleine Fischchen, lebende Edelsteine aus dem südamerikanischen Dschungel. Die Buntbarsche purzeln über den Rand des Fangnetzes in meine graue Plastikwanne. Millionen kleine Don Quichotes auf dem Weg in die Freiheit überqueren sie den Atlantik und verwandeln sich in schwimmende Brötchen der Zierfischbranche. Ein letztes Mal rühre ich mit dem Kescher durch das Becken. Was noch übrig ist, drängt sich in einer Ecke zusammen, aber es gibt kein Entrinnen. Zuletzt zücke ich ein Stück Kreide und male ein großes L auf das Glas. Das bedeutet „leer“, aber die meisten hier denken dabei an: Leck mich!

In der Mitte des Packtisches hängt unser Action-Sheet mit den ausgefüllten Fanglisten. Order 13 geht nach KIX: Kansai International Airport. Clooneys Name steht hinter der Unglückszahl. Ein Spaßvogel hat zwei Punkte in die Os gedrückt. Tittenkreisel und Glotzaugen, die weder sehen noch besehen werden. Clooney also. Ich umkreise den Packtisch und werfe einen Blick auf die Kopie des rosafarbenen Lieferscheines. Schöner Auftrag. Elefantenfische aus Lagos, Prachtschmerlen aus Kuala Lumpur und Stechrochen aus Manaus. Hinter dem Fischnamen der Lagerort. Das bringt mich auf einen Gedanken. Ich präge mir die Details ein und schleiche davon. Unterwegs entdecke ich Clooney beim Schmerlenzählen. Er scheint es nicht so genau zu nehmen, rammt sein Netz in den Schwarm und leert den zappelnden Inhalt in eine Schüssel, deren Boden gerade mal so mit Wasser bedeckt ist. Eines der rot beflossten Wesen springt heraus, klatscht mit einem flappenden Geräusch auf die Kacheln und katapultiert sich in wilden Sprüngen davon. Es zuckt im Würgegriff des trockenen Elements, spreizt die Kiemendeckel und öffnet das Maul zu einem stummen Schrei, bis es zitternd hinter einem Wasserschlauch zum Liegen kommt. Clooney sieht dem Flüchtling hinterher und rührt weiter im Aquarium. Ungerührt. Endlich schnappt er sich die Schüssel und schlappt mit den Fischen Richtung Packtisch. Ich verlasse mein Versteck und suche nach der kleinen Schmerle. Als ich sie finde und behutsam ins Wasser zurücksetze, ist es schon zu spät. Ziellos treibt der Körper in der Strömung, dreht sich taumelnd und sinkt in einer traurigen Schleife auf den Boden, wo der kleine Körper einen letzten Punkt unter das Fragezeichen seines kurzen Fischlebens setzt. Na warte, auch dafür wirst du büßen! Ich stampfe los und suche das Becken mit dem für die Japaner reservierten Rochen.

Als ich vor dem Aquarium stehen bleibe, nähert sich eine schwimmende Pfanne aus schwarzem Gusseisen. Der stachelbewehrte Schwanz liegt wie eine Schlinge um den Körper, bereit zur Verteidigung gegen jeden Eindringling. Schnall dich an, Bruder, es geht los! Ich schiebe die Abdeckung zur Seite, lupfe den Filterschwamm und verstaue ein Stück Seife darunter. Die Lauge wird den Rochen so verrückt machen, dass er sich in den eigenen Schwanz beißen wird. Die Lostrommel ist gefüllt und Clooneys Glückszahl die 112 des Notarztes. Der Rochen atmet schon schneller und flattert hektisch von einer Ecke in die andere, sein Schwanzbolzen kreiselt wie ein durchgedrehtes U-Boot im Wasser herum. Zufrieden verlasse ich den zukünftigen Tatort. 

Plötzlich legt sich eine schwere Hand auf meine Schulter. Ich drehe mich um und kann nicht verhindern, dass Zorn und Schuldbewusstsein mein Gesicht in eine Leuchtboje verwandeln.

Neptun steht vor mir und liest darin: Seht her, die war’s! 

„Wo hast du gesteckt?“, raunzt er mir entgegen und ich schweige, weil ich merke, dass er noch nicht fertig ist. In seiner Hand hält er ein Blatt, zweites Gesicht in rosé. Ich schlucke. Es ist Clooneys Packzettel. Neptun hält ihn wie eine Streitaxt vor meine Brust.

„Hier, rühr du den Rest zusammen! Christoph muss die Paletten mit den Salztabletten abladen, der Fahrer kann nicht länger warten“.

Er zögert, vielleicht hat er den Sonnenuntergang in meinem Gesicht bemerkt, hebt die Lefzen und knurrt. „Ist nicht viel. Nur ’n Rochen. Stehst doch auf Stecher, was?“

Wäre mein Gewissen rein, ich würde dem Arsch seinen lächerlichen Dreizack bis in den Schlund drücken, so aber grinse ich nur matt, greife nach dem Wisch und mache mich auf den Weg zurück, um meinen selbst gebauten Sprengsatz zu entschärfen. Der Rochen starrt mir entgegen, die Spritzlöcher unnatürlich geweitet, er lechzt nach frischem, unverseuchtem Wasser. Als ich die Abdeckung hochschiebe, um den Seifenklumpen wieder zu entfernen, schießt er an der Scheibe hoch, hebt den flachen Kopf weit über die Wasseroberfläche und für einen Moment erstarre ich in der sicheren Erwartung, dass mir das Tier ins Gesicht springt. Dann rutscht er wie ein fallendes Segel herab und sinkt zurück auf den Boden. Nein, um nichts in der Welt würde ich diesen Fisch jetzt noch fangen! Aber was tun unsere japanischen Kunden, wenn sie eine Box erhalten, in der ein unsichtbarer Rochen schwimmt? Natürlich: Reklamieren. Egal. Ich blicke über die Schulter und prüfe, ob die Luft rein ist. Niemand zu sehen. Ich fische die Kreide aus meiner Hosentasche und male ein dickes weißes Kreuz auf die Scheibe. Kraft meines Amtes schreibe ich dich hiermit krank! Ich trete zurück, um meine Diagnose aus der Ferne zu bestätigen und stoße mit dem Rücken an das gegenüberliegende Becken. Ärgerlich drehe ich mich um. In dem kleinen Aquarium zieht ein Schwarm glitzernder Opale seine Bahn, farbige Lichtreflexe dringen in meine Pupillen, formen Sequenzen aus Bildern, Bruchstücke meines Lebens, Erinnerungssplitter, die tief bis in das Fleisch der Gegenwart vordringen. Es sind Elisabeths Fische, die da vor mir aus den feuchten Katakomben auftauchen. Apistogramma – die „durchbrochene Linie“. Wir leben in einem Land aus gläsernen Grenzen. Zerbrechen wir die Mauern, gehen wir dabei zugrunde. Vielleicht ist es das sogar wert.

Ich schnappe mir eines der Netze, behutsam drücke ich die Maschen unter Wasser, nähere mich einem neugierigen, zitronengelben Weibchen und schon zappelt das Fischlein in meinem drahtgerahmten Maul. Ich schicke dich fünfhundert Jahre später stellvertretend für alle Entdeckerinnen, die man nicht losziehen ließ, auf die Reise in das gelobte Land! Mach es besser als der alte Genuese, der sich bis zuletzt nicht eingestehen konnte, dass er irrte! Wer weiß, wie alles gekommen wäre, wenn Christopherus bei einer jungen Haitierin geblieben wäre und ein Aussteigerleben als Inselkönig gelebt hätte. Sei unbesorgt, meine Freundin, ich setze dich in den großen Beutel, der Rochen fliegt ein andermal, der Morgensonne entgegen auf geliehenen Flügeln, das Kilo Fracht für ne Handvoll Euros, und vorbei an Indien, über das Reich der Mitte bis ins Land der ewigen Apfelblüte. Nichts ist unmöglich, mein lieber Cristoforo! Apistogramma ade! Sei tapfer, Elisabeth! Such dir einen schönen rotbäuchigen Japaner und zeuge einen Schwarm dottrig-gelber Kinder! 

Vorsichtig hebe ich die Box und trage sie wie eine Monstranz den Gang entlang bis zu unserem Altar. Neptun steht hinter dem Packtisch und winkt mir zu. 

„Los los, der Flieger wartet nicht“, blafft er.

Christoph scheint mit dem Abladen fertig zu sein, er sitzt im Sattel und wartet auf seinen nächsten Einsatz.

Ich drücke den Deckel fest und versiegle meinen Schatz mit durchsichtigem Klebeband.

„Hier ist der Rochen“, sage ich zu Neptun.

„Da hinauf!“, befiehlt er und deutet mit dem Kinn auf einen der weißen Türme.

Ganz sachte schiebe ich meine kleine Freundin in eine Lücke, stopfe das Loch.

Gabelstapler-Clooney gibt seinem Gaul die Sporen und bremst nur Zentimeter vor meinen Gummihufen ab, wendet summend und drückt seine Eisenkrallen tief in die Palette.

Ich muss niesen. Maia schielt rüber und Bea hält mir ihr Taschentuch hin. Ich nehme es ohne hinzusehen und wische mir damit übers Gesicht. Geruch nach Fisch. Natürlich. Ich stehe da und starre in das glühende Rücklicht des Gabelstaplers. Wie ein alter Riese wackelt er hinauf zur Laderampe bevor seine Zyklopenfresse im schummrigen Licht verschwindet. Mit dem Taschentuch mache ich eine letzte winkende Bewegung und für einen winzigen Moment beneide ich meine beschuppte Namensvetterin auf ihrem Weg ins gelobte Land.

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