26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Julia Dankers

Königsberger Klopse

Gleißendes Licht wärmt mein Gesicht. Sommergeräusche werden vom Wind ins winzige Zimmer getragen. Im Biergarten der Kneipe gegenüber klirren Gläser und Türen schlagen laut. 

Mein Herz aber schlägt leise, ein wenig aus dem Takt vielleicht, wie so oft an einem Sonntag, wenn in der Nacht zuvor die Welt ein klitzekleines bisschen aus den Fugen geraten ist. Samstagnachts tut sie das gerne, zumindest in meinem Universum, in dem ich eine zu viel arbeitende, unterbezahlte Managerin in einem Pharmakonzern bin. Karriereorientiert und machtgeil würden manche mich nennen. Unausgeglichen und einsam die anderen. 

Eine feste Tagesstruktur von früh morgens bis spät abends gönnt mir Sicherheit, der ich nur an ausgewählten Samstagabenden zu entkommen wage. Uferlos treibe ich in solchen Nächten durch meine ehemalige Heimatstadt – mit einem Drink in der Hand auf der Suche nach dem Glück. 

Das eine oder andere Gläschen zu viel rumort in meinen Eingeweiden und die Müdigkeit hält mich fest. Schwer wie Blei drückt mich mein durchschnittliches Gewicht ins Nachtlager.

Schäfchenwolken schwofen vor dem offenen Fenster durch den hellblauen Himmel. 

Ganz in meiner Nähe schnarcht jemand ohrenbetäubend laut.

Mein Blick streift eine Fliege, die sich auf meiner Hand niedergelassen hat. Merkwürdig verdreht liegt diese Hand dort, halb verdeckt von der Bettdecke. Taub fühlt sie sich an. Es kann gar nicht meine Hand sein, es sei denn, ich besäße derer seit gestern drei. 

Ich schlage lieber nicht nach dem Insekt, streiche stattdessen sittsam über das Muster der Raufasertapete am Kopfende.

Das Schnarchen verebbt zu einem Brummen.

Ein Streifen Nachthemd in zartrosa lugt zwischen den Laken hervor, umgeben vom Weichspülerduft. Auf der Straße riecht es nach Spaghetti Bolognese.

Dumpf und hohlwangig läutet die Kirchturmglocke in die zwölfte Stunde des Tages hinein.

Beinahe scheint es, als wolle sie auch die letzten Ruhenden nach ihren durchzechten Nächten wachrütteln. Wer ist schon so verrückt und lässt sein Fenster an einem Sonntagvormittag sperrangelweit offen, wenn er schräg gegenüber des Kirchturms wohnt?

Die jähe Stille nach dem Geläut macht mich nervös. Als ich den Kopf ein kleines bisschen nach rechts drehe, erblicke ich stahlblaue Augen in einem aristokratisch wirkenden Gesicht.

Ich bin tatsächlich im Schlafzimmer, aber die Frau neben mir bin nicht ich.  

Eine dunkle, heisere Stimme wie von zu viel Zigarettenrauch fragt mich nach meinem Befinden. Mein Gewissen ist es nicht. 

Stumm strampele ich die zerknüllten Decken ans Fußende. Dort hat es sich eine Horde Tauben gemütlich gemacht, die gurrend auseinanderfliegt. 

Zum Glück geht ihre Reise zum geöffneten Fenster hinaus. Dabei hinterlassen sie einige Federn auf der Bettdecke. Der graublaue Haufen erinnert mich an einen sehr staubigen Indianerschmuck.

„Huch, hast du Haustiere? Das habe ich gestern gar nicht bemerkt.“ Die gutaussehende Frau streckt ihre Arme aus. Sie hat schlanke, lange Gliedmaßen, die dem Schönheitsideal der westlichen Welt entsprechen. Zwei silberne Armreifen klimpern um ihr Handgelenk, als sie eine Strähne meines Haares wie beiläufig aus meiner Stirn streicht. 

„Nein, eigentlich nicht – zumindest nicht, dass ich wüsste… Im Keller ist ein Wespennest“, fällt mir ein.

Meine Bettnachbarin gähnt, während zwei bis drei Tauben ihrem Kotdrang auf dem Sims nachgeben.

„Und die Nachbarhunde werden immer ´gassi´ in den Hinterhof gelassen“, krächze ich.

„Na ja, ist auch nicht so wichtig. Hast du Kaffee da?“

Energisch schnappen zwei warme, weiche Lippen nach meinem rechten Ohrläppchen. Sanft aber bestimmt gleitet ihre Zunge daran entlang.

Meine Beine werden augenblicklich schwach, während in meiner Magengegend drei bis vier Dutzend verrückt gewordene Schmetterlinge zum Tanz aufspielen. 

Heißer Atem fährt meinen Hals herab bis zu der kleinen Mulde direkt unter dem Schlüsselbein – und weiter. Abrupt graben sich meine Zehen in die Matratze, als spitze Fingernägel fünf schmale Schneisen in meinen Rücken kratzen.

Stahlhart und seidenweich zugleich schreiten durchtrainierte Beine zwischen meine, brechen Schranken auf und lassen die Schwerkraft dastehen wie ein altes Waschweib.

Im Fahrtwind der Zugvögel, die gen Süden fliegen, klappert der Fensterladen. Zitternd kralle ich mich an der Unbekannten fest. Ihre Haut ist so weich wie der zweite Frühling.

Am Ende eines viel zu kurzen, ewigen Moments ersticke ich einen leisen Schrei im Kopfkissen. Klammheimlich stiehlt sich eine mausgraue Taube unter dem Bett hervor.

„Gurr, gurr“, flüstert sie und verschwindet in der Morgenluft.

Erschöpft wälze ich mich aus der Hitze fremder Arme.

„Kaffee hab´ ich – und brauch ich“, nuschele ich mit geschlossenen Augen in ihr Elfenhaar. 

„Genau das hatte ich gehofft.“ Mein Gast zwinkert und schiebt mich Richtung Küche.

Sie kennt sich bestens aus.

„Wie trinkst du deinen Kaffee am liebsten?“, frage ich blechern. Mein Hals ist trocken wie ein Vulkankrater in den Jahren zwischen zwei Ausbrüchen.

„Schwarz wie die Nacht.“ Sehr bestimmt legt sie ihre Hände für einen Moment auf meinen Po, bevor sie einen forschen Kuss auf meinem verrutschten Lächeln hinterlässt, um kurz darauf im Bad zu verschwinden. 

Mit wackligen Knien bleibe ich in der Küche zurück und blicke gedankenverloren hinaus. Gerade war noch Nacht, so schwarz wie der Instantkaffee neben mir auf der Fensterbank. 

Einige schmutziggraue Tauben spielen auf der ausgeblichenen Platte zwischen den Mülltonnen im Nachbargarten Tischtennis mit Tannenzapfen und Brötchenkrümeln. Ein viertelstündiges Turnier zwischen Schlaf und Wach. 

Ich bin nie ein großer Sportler gewesen. Alles in allem schätze ich Angeln und Schach. Das allerdings auch nur, weil man still dasitzen und seine Gedanken schweifen lassen kann, ohne hinterher verschwitzt zu sein. Seit einer halben Ewigkeit verzichte ich darauf, Tiere zu essen, die ich nicht selbst geschlachtet habe. Da ich kein Blut sehen kann, verspeise ich gar keine. Kochendheißer Kaffee tropft aus meiner Tasse auf meine im Takt der Pingpongbälle tanzenden Zehen, als ich jäh aus der Lethargie gerissen werde. 

Im Kleiderschrankspiegel beobachte ich die hochgewachsene Gestalt, die sich zielstrebig nähert, um nach dem schwärzesten aller Kaffeebecher zu greifen und ein Mäuseschlückchen daraus zu nippen. Kräutershampooduft umgibt sie wie eine schlechte Aura. 

Unsanft stellt sie den Becher auf dem Sims ab. Einige Tropfen des bitteren Gebräus landen auf meinem nackten Oberschenkel, von wo aus sie langsam wie in Zeitlupe gen Hölle rodeln. Schmunzelnd hockt die Dame von Welt sich nieder, um die Schererei fortzulecken. Ihre raue Zunge erinnert mich urplötzlich an die einer alten Katze. Ähnlich weich wie Haustierfell fühlt sich ihr Haar nach der Dusche an.

„Heiß!“ Hektisch springe ich von einem Bein auf das andere, als sie sich überheblich grinsend aufrichtet. Vielleicht ist das auch nur ihr typischer Gesichtsausdruck, festgetackert mit Botox und schreiend guter Laune. 

„Danke für den Kaffee … und alles. Ich bin dann mal weg. Mein Mann kocht heut Königsberger Klopse zum Mittag.“ Erwartungsvoll fährt ihre Zunge über ihre hungrigen Lippen. Unsere Augen treffen sich erneut im Spiegel, während sie sich im Moonwalkstil rückwärts zur Tür bewegt. Ihr Blick hält den meinen fest wie einen unbeugsamen Kriegsgefangenen. In der Liebe und im Krieg sei alles erlaubt, sagt man. Ich bin mir nicht sicher, welches der beiden Szenarien gerade stattfindet. In keinem bin ich sonderlich bewandert – zumindest in den letzten eineinhalb Jahren nicht. 

Es könnte aber immerhin sein, dass das hier nur ein ganz gewöhnlicher Gewaltmarsch durch die Wüste ist. Durst schnürt meine Kehle zusammen und Schweißperlen hocken auf meiner Stirn.

Den nachtschwarzen Becher hinterlässt die Fremde auf dem Sims wie ein Stillleben zwischen angetrocknetem Taubenkot und den blassrosa Stringtangas der Nachbarin von gegenüber.

Die verfangen sich manchmal, wenn sie bei starkem Wind ihre Wäsche auf dem Balkon aufhängt, in den Splittern der hölzernen Fenstersimse.

Gleichgültig greift die Unbekannte im Vorübergehen nach ihrer Designerjacke, die über einem rostigen Nagel an der Wand hängt. 

„Tschüß, Süße. Ich komme dich gerne mal besuchen. Das verspreche ich dir! Nur jetzt bin ich gerade ziemlich in Eile.“ Die Worte poltern bleischwer aus ihrem Mund heraus, während sie ihre Fingernägel betrachtet. „…oder ich rufe mal an.“

Urplötzlich hebt sie den Blick und entkleidet mich mit ihren eisblauen Augen, bevor sie sich kopfschüttelnd abwendet, als würde sie keinen großen Gefallen an dem finden, was sie sieht. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihr meine Nummer gegeben zu haben. Hektisch heiß statt wohlig warm wird es mir um die Mitte, bis das Gefühl von einem leicht bitteren Geschmack auf meiner Zunge abgelöst wird. 

„Sag mal, wie heißt du eigentlich?“, fragt sie mich im Halbdunkel des Treppenhauses. Für Sekundenbruchteile legt die Unbekannte ihre Hand auf meine Wange. Sie fühlt sich so kühl an wie ein Reptil in der Winterstarre.

Kopfschmerz durchbohrt meinen Schädel beim Anblick der leeren Weinflaschen neben der Tür. Drei haben wir derer wohl getrunken. Murrend mault mein Magen mich an.

Auf dem Klingelschild steht „Lina Sophie Schmeider“. Grinsend zieht mein nächtlicher Gast sein Smartphone aus der hinteren Hosentasche und schießt ein Foto. 

„Ich finde dich bei Facebook“, kichert sie leise und scrollt sich durchs Menü. „Zur Not weiß ich ja auch, wo du wohnst. Vielleicht stehe ich eines Nachts vor deiner Tür. Es könnte auch sein, dass ich eines Abends in deinem Bett liege, wenn du von der Arbeit heimkehrst. Schließlich hast du mir letzte Nacht das Versteck deines Zweitschlüssels gezeigt.“ 

Ihr Kichern wird meckernder und legt eine Reihe ziemlich großer, gelber Zähne frei. Sie weisen reichlich Ähnlichkeit mit denen eines Rosses auf. 

Das also ist der sprichwörtliche Pferdefuß, den man viel zu hübschen Dingen oftmals nachsagt. Plötzlich muss ich auch ein bisschen lachen. Meine Bauchdecke hebt und senkt sich zögerlich, um den starken Kaffee da drinnen nicht zu provozieren. Immerhin hat er es mühelos geschafft, die verrückten Schmetterlinge im Bauch zu ertränken. 

„Komm gut nach Hause.“ Zaghaft winke ich der Fremden, die mit einer gehörigen Portion Stolz die abgetretenen Stufen hinunterschreitet. Der ausgerollte Teppich ist schäbig und nicht rot, sondern durchfallbraun.

„Ach, übrigens…“ Fast hätte ich in der Eile meine guten Manieren vergessen. „Guten Appetit! Und grüß deinen Mann von mir!“

Überrascht und beinahe ängstlich blicken graublaugesprenkelte Divenaugen zu mir herauf, während zwei scheue, aufgescheuchte Tauben sich nahezu lautlos durch die geöffnete Haustür davonstehlen.

„Gurr, gurr.“

Der penetrante Geschmack bitterer Kapern verstärkt sich auf meiner Zunge, als die Tür beinahe lautlos ins Schloss fällt. Ich hasse Königsberger Klopse. Sie erinnern mich an überdimensionale Hasenköttel – nur mit heller Soße.

Ich beschließe achselzuckend, mir die letzten Minuten des Tischtennisturniers im Nachbargarten von oben anzusehen. Ein monotones Spiel ohne Verlierer und Gewinner, herrlich sinnlos und beruhigend.

Die Tischtennisplatte zwischen den Mülltonnen zittert sacht unter den herumpickenden Tauben, während die Nachbarkinder ohne Unterlass Brötchenkrümel aus dem Fenster darauf werfen.

Als die Kirchturmglocke Applaus läutet, flattern die „Ratten der Lüfte“ vor Schreck in den hellblauen Himmel hinein und erleichtern sich noch im Flug.

Es ist viertel nach zwölf, an solch speziellen Sonntagen meine gewohnte Zeit zum Aufstehen. Seufzend löse ich mich vom Fenster und wanke ins Bad. Auf dem geschlossenen Klodeckel liegt ein Hunderteuroschein, den ich achselzuckend zerreiße und hinunterspüle. 

Lina Sophie Schmeider heißt die Frau, die mir die Wohnung für diese Nacht überlassen hat, weil ich auf der Durchreise zu einem weiter entfernten Termin bin. Ein gegenseitiger Freundschaftsdienst sei es, sagt sie. Ich würde ihre Pflanzen gießen, während sie mir großzügig Unterkunft gewährte. Sie selbst ist über das gesamte Wochenende bei Freunden auf Besuch – ehemals unseren, nun ihren – und hat mich vor eineinhalb Jahren wegen einer Jüngeren verlassen. 

Tauben hat sie nie gemocht und deshalb stets die Fenster geschlossen gehalten, erinnere ich mich später kopfschüttelnd, ein paar Federn von der Bettdecke durch meine leicht geöffneten Finger rieseln lassend. Entschlossen raffe ich die Taubenfedern zusammen und stopfe sie in Linas Kissenbezug. 

Sie wird sich freuen, weich gebettet zu liegen, wenn ein unbekannter Gast mit stahlblauen Augen eines Nachts in ihrem Bett auftaucht, das einmal unseres gewesen ist – genau wie die Liebe, bevor der Krieg begonnen hat. Diese beiden liegen stets nah beieinander, ebenso Linas goldenes Lockenhaar und die schmutzigen Federn der verhassten Taubenschar. 

Mein Herz schlägt laut und kein bisschen mehr aus dem Takt, wie an vielen anderen Sonntagen und das Lächeln auf meinen Lippen erinnert mich beinahe an das einer glücklichen Frau. 

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