26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Julia Alina Kessel

Dreimal Sterben 

Ich kotze. Die metallene Nierenschale unter meinem Mund füllt sich mit grünlichen Stückchen. Wieder und wieder würge ich einen Schwall meiner Angst heraus. Ich spüre: Das hier wird mich für immer verändern. Den Oberkörper nach vorne gebeugt, rechts und links neben meinem Kopf ragen meine Füße über die Halterungen des Stuhls hinaus. Ohne Unterhose, meine Beine gespreizt, sitze ich auf der weißen Papierabdeckung, die durch meine ruckartige Vorwärtsbewegung an manchen Stellen bereits gerissen ist. Grell strahlt das Licht des Operationssaals mir ins Gesicht und auf meine Vagina. Durch die Tabletten, die ich sechs Stunden vorher einführen musste, zieht sich mein Unterleib stechend zusammen. Die Arzthelferin hält die Schüssel und streicht kurz über meinen Rücken. In diesem Moment betritt die Ärztin den Raum, sieht mich, sagt Oh je und geht wieder hinaus. Dann liege ich endlich in der richtigen Position. Meine Arme werden von der Arzthelferin geknetet und geklopft. Das kenne ich schon, meine Venen sind zu schlecht. Sie sticht mich zwei Mal, ohne Erfolg. Beim Herausziehen der Nadel spritzt das Blut hervor. Mit einem Tupfer drücke ich auf die offene Einstichstelle. Das gibt einen großen blauen Fleck. Wir müssen auf die Ärztin warten. Die versucht es ohne Zögern, mit betonter Selbstsicherheit. Alle Augen sind auf den Tropf gerichtet. Er läuft, wenn auch zögerlich. Erleichterung, dann weise ich darauf hin, dass der Druck in meinem Arm steigt. Shit, der Arm wird dick, sagt die Ärztin. Das funktioniert nicht. Erneut wird die Nadel herausgezogen. Beim vierten Mal klappt es schließlich. Mit beruhigender Stimme erklärt mir die Arzthelferin, dass die Infusion gegen die Übelkeit und die Schmerzen helfen wird. Noch bevor diese vollständig angeschlossen ist, macht sich die Ärztin bereits an mir zu schaffen. Aua, sage ich, da ist etwas eingeklemmt. Mein Körper ist eine einzige Verkrampfung, von Entspannung keine Spur, als die Operierende mir ein großes Instrument in die Vagina schiebt und meinen Muttermund spreizt. Zumindest glaube ich, mich an die Beschreibung dieser Vorgehensweise im Rahmen meiner Vorbereitung zu erinnern. Dann endlich ist die Infusion angeschlossen. Als sie zu wirken beginnt, ist der Eingriff fast vorbei. Gleich haben Sie es geschafft. Alles Lebendige in mir wird abgesaugt. Dann darf ich zum Ausruhen einige Minuten liegenbleiben. Die Ärztin geht zur nächsten Patientin, die Arzthelferin fragt mich: Können Sie aufstehen? Danke, sage ich und weiß nicht, wofür ich mich bedanke. Dafür, dass mir keine Fragen gestellt werden, dass niemand mir Vorwürfe macht, dass diese Erfahrung so furchtbar und traurig ist, damit ich sie nie wieder erleben möchte. Mit zittrigen Beinen stehe ich auf, kirschrote Blutflecke auf dem weißen Papier und dem Linoleumboden hinterlassend. 

Du bist eine Mörderin, wirft er mir vor. Du hast aus niederen Beweggründen ein Kind getötet. Ich weine und schreie, versuche zu verdeutlichen, dass keines meiner Motive nieder war. Aber wie soll ich erklären: Ich habe das Kind um seiner selbst willen umgebracht? Wegen seiner nicht abgesicherten Zukunft, wegen Eltern, die sich zerfleischen, ihm nie vorleben, was Liebe bedeutet? Mit einer vom Vater abhängigen Mutter, ohne Geld, ohne Job. Was hätten wir ihm denn beibringen sollen, schieße ich zurück. Dass nur die Frau entscheiden darf über den Willen des Mannes hinweg, ist moralisches und ethisches Unrecht, schreit er. Warum ist das so schwierig? Wir sind doch im 21. Jahrhundert, denke ich. Es ist doch einfacher heute. Und: Ich kann ihn verstehen. Aber es ist mein Körper, der wächst und sich verändert. Es sind meine Brüste, die anschwellen und meine unablässige Müdigkeit, die mich gefangen hält. Meine Übelkeit, mein Unterleibsziehen. Es sind meine Hormone, die eine Bindung aufbauen, auch wenn die Hormone des Mannes sich ebenfalls an die bevorstehende Vaterschaft anpassen. Er darf und kann nicht über meinen Körper entscheiden. Verletzung spricht aus uns. Zumindest rede ich mir das ein. 

Die Pandemie hat nach und nach auch unsere über das letzte Jahr gewachsene Beziehung infiziert. Nicht in der Enge und Ausgangsbeschränkung haben wir uns verloren, sondern in der Weite. Bayern war streng. Wegen seiner Reise mussten wir den Lockdown an unterschiedlichen Orten verbringen. Durch die Umstände getrennt, in eine Ungewissheit verdammt, die anders war als zuvor; als Illusion enttarnte Kontrolle. Dass wir nicht die Einzigen waren, half uns wenig. Zu geben, ohne zu spüren, dass es ankommt. Nur über die leuchtende Bildschirmfläche verbunden zu sein, über Pixel und Bits und Bytes, durch die Stimme statt durch die Haut, sich nicht schmecken, nicht riechen zu können. Umso größer glänzte das Wiedersehen als zweiter Honeymoon. Aber nur kurz: Das Ergebnis davon hat jede Zuckerglasur wieder schmelzen lassen. 

Ich möchte auf ihn zugehen, aber weiß nicht mehr wie. Er blickt mich an, als erkenne er mich erst jetzt in meinem wahren Wesen. Vielleicht hat er recht damit. Wir hätten das hinbekommen. Er spricht mehr mit sich selbst als mit mir. Die letzten Wochen haben wir weniger miteinander gesprochen, als es die Situation erfordert hätte. An einem Tag war ich entschlossen, die Aufgabe anzunehmen, das Kind zu bekommen. Glücklich machte der Gedanke mich. Als ich nach Hause kam, setzte ich mich zu ihm auf das Sofa und berichtete von der Beratung bei pro familia, die mich bestärkt hatte, es schaffen zu können; trotz der widrigen Umstände. Du bist zu egozentrisch und unzuverlässig, um Mutter zu sein. Sein Satz wischte meine Zuversicht zur Seite. Sein Satz brachte mich in den darauffolgenden Wochen dazu, den Wandel zu ignorieren, den ich als Ahnung mehr und mehr in ihm wahrnahm. Seinen wachsenden Entschluss, sich auf die ungeplante Entwicklung einzulassen. Unsere Wege verliefen diametral. Je sicherer er wurde, desto zweifelnder wurde ich. Einen Tag vor dem Eingriff, als alles schon in die Wege geleitet war, versuchte er, mich davon abzuhalten. Doch ich war längst abgebogen, hatte die Kreuzung hinter mir gelassen. Wir haben uns verpasst, unsere Wut über alles gestellt. Unzuverlässig und egozentrisch. Ganz am Anfang war alles anders gewesen. Verliebt waren wir, süchtig nacheinander. Unser Zusammensein für uns beide ein unverhofftes Wunder. Ich sehe ihn an. Unsere Zärtlichkeit ist verpufft, die Bewunderung der Realität gewichen. Unter dem Brennglas der Schwangerschaft ist unser Wir zerbröckelt, das wir nach dem Lockdown gerade erst mühsam restauriert hatten. Das Virus hat unsere Unterschiede wachsen lassen. Die Distanz haben wir überlebt, die neue Nähe danach nicht. Wir haben eine Grenze überschritten, die nie wieder gelöscht werden kann. Seine Augen sind voller Verletztheit, Verständnis vermissend. Nur noch im Ungeschehenen sind wir für immer verbunden. Ich liebe ihn und weiß, dass es vorbei ist. 

Ich sitze auf der Toilette und sterbe. Mein Unterleib reißt auf, als fresse sich meine Gebärmutter selbst auf, als hätte jemand Salzsäure in sie gekippt. So muss sich sterben anfühlen. Ich weine und blute und höre nicht mehr auf damit. Noch nie habe ich so viel Blut gesehen. Mein Bauch ist wie Hermine Grangers magische Tasche, die von außen ganz klein aussieht, aber im Inneren Tausende Liter fasst. In kolikartigen Wellen krallt sich der Schmerz in mich. Meine Eltern, die mich zur Genesung zu sich geholt haben, rufen den Notarzt. In einem Stuhl werde ich ins Treppenhaus geschoben und mit dem Fahrstuhl nach unten transportiert. Im Lift weiche ich meinem eigenen Blick im Spiegel aus. Ich schäme mich und weiß nicht, wofür. Vor dem Haus ziehe ich auf die Notfallliege um. Festgeschnallt und eingepackt schwebe ich über den Hof. Sie hatten einen Abgang? Nein, antworte ich, einen Abbruch. Im Rettungswagen wird mein Blutdruck gemessen und meine Temperatur. Die Augen schließend spüre ich jeden Pflasterstein und jede Straßenbahnschiene in meiner Gebärmutter. Das ist meine Strafe, denke ich und finde mein Selbstmitleid lächerlich. Ich will nicht weinen und kann meine Tränen nicht zurückhalten. Ich habe ein Kind getötet, ich habe mein Kind getötet, ich habe unser Kind getötet. Die Rettungssanitäterin streicht mir über den Arm. Ich glaube, hinter ihrer Maske ein Lächeln zu erkennen. 

Dann bin ich wieder auf dem Operationsstuhl. Mir wird das Blut abgepumpt, das sich in meinem Gebärmutterhals gesammelt hat, weil mein Muttermund zu sehr geschlossen war. Ich fühle mich wie in Groundhog Day. So schnell sieht man sich wieder, sage ich zu der Arzthelferin. Ihr ist die Hoffnung anzusehen, dass dies das letzte Mal ist. Ich erhalte noch mehr Tabletten und weitere Binden für den Heimweg. Mein Vater bringt mich nach Hause. Die Fahrt verbringen wir stumm. 

Ich liege auf meinem Bett und habe noch immer Schmerzen. Acht Wochen. Zwei Zentimeter. Auf dem Ultraschallbild habe ich das Wachstum gesehen, sogar in diesen wenigen Wochen. Ich kann die Grenze nicht greifen zwischen Leben und Tod, zwischen Entscheidung und Unausweichlichkeit. Ich erinnere mich an die Ausstellung Körperwelten, die ich vor neun Jahren in Leipzig besucht habe. Dort war auch ein Embryo in verschiedenen Stadien zu sehen. Erst ab ungefähr der zehnten Woche sind die Organe angelegt und der Embryo wird zum Fötus. Trotzdem lässt sich an der Form bereits ein Kind, ein Lebewesen erkennen. Ich suche und suche, taste in erstickender Dunkelheit nach einer Antwort, einem Widerstand, der mir die Grenze zeigt. Wo liegt sie? Wann beginnt Leben, wann der Tod? Aus ihm gibt es kein Zurück.

Ein Abbruch bleibt straffrei, wenn der Eingriff bis zur 12. Woche und mit vorheriger Beratung stattfindet. Das Recht bietet dieses Schlupfloch, das sich als Verbot tarnt. Ausnahmeregelungen gibt es in Fällen von Vergewaltigung oder gesundheitlichen Komplikationen. Nichts davon trifft auf mich zu. Ich habe mich durch die Hintertür des Gesetzes gequetscht, Möglichkeit Realität werden lassen. 

Hat er recht mit seinem Vorwurf? Tagelang habe ich abgewogen, mir den Kopf zermartert. Argumente hin- und hergeschoben, bis überall nur noch Schwindel war. Überall habe ich im vergangenen Monat Kinder entdeckt: lachende, weinende, schreiende, hungrige, zufriedene, streitende, Sandkuchen kauende, Ball spielende, smartphonesüchtige, stürzende, plärrende, nuckelnde, jubelnde, giggelnde, freche, schüchterne, vorlaute, waghalsige, vorsichtige, rennende, schlummernde, glückliche, winzige, unbehaarte, sommersprossige, lebende. Mütter und Väter habe ich beobachtet, ihre Gedanken und Gefühle zu ergründen versucht. Es ist nichts Besonderes; seit sie existieren, gebären Frauen Nachwuchs. Ohne Fortpflanzung kein Leben, ohne Leben kein Überleben. Doch ich spiele mein eigenes Drama. 

Ich denke an den Moment der schleichenden Gewissheit. Zwei Striche. Der Becher mit Urin steht neben mir auf dem Boden des Badezimmers. Scheiße, denke ich. Scheiße. Und: Vielleicht soll es so sein, vielleicht ist es richtig so. 

Haben sie sich nicht vor Kurzem die Pille verschreiben lassen? Meine Frauenärztin ist verwundert. Ich bin es noch viel mehr. Das Ultraschallbild ist eindeutig, fährt sie fort. Danke, sage ich beim Hinausgehen und weiß nicht, wofür ich mich bedanke.

Danach sitze ich minutenlang in meinem Auto, reglos, obwohl ich mich ohnehin auf der Arbeit verspäten werde. Jede vermeintliche Wichtigkeit rückt in den Hintergrund. Das hier würde alles verändern. Ich lege meine Hand auf den Bauch wie die Schauspielerinnen in den Hollywoodfilmen und frage den winzigen Zellklumpen in mir: Willst du überhaupt hierherkommen? Macht dir all das nicht Angst – die Pandemie, das Klima, die Kriege? Bin ich ein Monster, wenn ich dich in diese Welt hole? Eine Antwort bekomme ich nicht. Ich dachte immer, sie antworten. 

Einige Wochen später spreche ich wieder zu ihm: Es tut mir leid, sage ich. Es tut mir so furchtbar leid. Ich bin ein Monster.

Egoistisch fühle ich mich, als hätte ich mein eigenes Leben gegen das des Ungeborenen getauscht. Mit nie gekannter Intensität wird sich der Konjunktiv in meinen Gedanken einnisten, ab jetzt werde ich mich immer fragen, wie es ausgesehen hätte, wie alt es jetzt würde, was aus meinem Leben geworden wäre und vor allem aus seinem.   

Über diese Entscheidung will ich mit niemandem reden und es macht mich wütend, dass es so ist. Es macht mich wütend, dass ich mich als Frau dafür schäme, auch wenn ich für den Eingriff nicht mehr in aller Heimlichkeit zu einem dubiosen Arzt oder zu einer Engelmacherin fahren oder mit einer glühend heißen Stricknadel selbst Hand anlegen musste. Noch im Januar dieses Jahres wurde Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten beim March for Life von zehntausend Abtreibungsgegnern bejubelt, die laut ihm angeblich pure, selbstlose Liebe antreibt: Every child is a precious and sacred gift from God. Ja, denke ich, aber nicht alle Eltern sind Geschenke, nicht jede Umgebung, in die ein Kind geboren wird, ist wertvoll. Welche Verantwortung ist größer; Rettung eines Lebens oder Rettung vor einem schlechten Leben? 

Womöglich wäre seines gut geworden, dieser Ungewissheit entkomme ich nie mehr. Jetzt ein Kind, in dieser Beziehung, in dieser Zeit, in dieser Welt? In einer derartigen Wahl und in deren Konsequenzen bin ich auf einmal vollkommen allein. Ich habe gewählt und begreife: Das hier hat mich nicht für immer verändert. Es hat mir gezeigt, wer ich bin und manchmal sein muss.  

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