Sabine Wreski

Abgepacktes

Drama war Dreifaltigkeit. Bloßstellung. Konfrontation. Widerspruch. So liebte er es. Als Zaungast im Leben Anderer war Ulrich Herzog bereit, sein Skalpell anzusetzen, um seine Pathologie zu studieren. Katastrophales nahm er hin, wie einen Temperaturanstieg der erdnahen Atmosphäre. Er suchte in seinem Inneren ein schattiges Plätzchen auf und grinste von dort aus in sich hinein. Skandale waren für ihn nichts als aufgebauschte Verlogenheiten, die er in keinerlei Verbindung zu sich selbst zu bringen gedachte. Erschütterndem verweigerte er schlicht den Zutritt zum eigenen Dasein.

Die kleine Husche von oben störte Herzog nicht, ebenso wenig der morgendliche Verkehrsstau, das Knirschen unter seinen Schritten, wenn er die Straße verließ, um in den Kiesweg einzubiegen. Er erwartete einen stinknormalen Arbeitstag. Die vertraute Weite tat wohl. Seine Augen fixierten die filigranen Türmchen des Mittelmeerhauses. Das schlanke Gebäude sah aus der Ferne wie ein Schloss ohne Hofstaat aus. Dahinter formierten sich weitere Gewächshäuser, mit einer Pflanzenvielfalt, die jährlich über eine halbe Million Besucher in Bann zog. Eingerahmt vom Sukkulentenhaus der Alten Welt und dem Florenreich Südafrikas, befand sich sein eigenes Paradies, die Neue Welt, deren Bewohner er seit Jahrzehnten pflegte.

Herzog tauschte seine Straßenschuhe gegen Gartenclogs, seine Windjacke gegen eine grasgrüne Schürze ein. Es war Frühjahr geworden. Seine winterharten Überlebenskünstler waren gewachsen. Von September bis März hatten sie genügsam von Wasserreserven aus Stämmen und Knollen gelebt. Er konnte zufrieden sein. Entspannt ging er mit ihnen einer neuen Vegetationsphase entgegen. Er würde das Wachstum seiner stacheligen Freunde behutsam anregen und die Gießmengen so steigern, dass keine seiner Kakteen, Agaven, Schopfbäume und Dickblattgewächse nasse Füße bekäme. In Zeiten des alljährlichen Übergangs würde er einer von ihnen sein.

  •  

Schirm und Smartphone hatte sie vergessen. Atemlos hastete Olivia die zugestaute Straße entlang. Ein Sonntag mit Katerstimmung lag hinter ihr.  Zeitumstellung verpeilt, ausgerechnet zum Antritt ihres Restpraktikums. Peinlich. Ausrede erfinden. Lage peilen. Das Vorstellungsgespräch mit der Direktorin war glatt gelaufen. Eine Stunde Verspätung. Na und? Bezahlung bekam sie nicht, aber den ersehnten Wisch, den sie zur Vorlage beim Imma-Büro brauchte. Zehn Wochen Vorpraktikum in der Umweltschutzorganisation ihres Vertrauens waren nicht zu toppen. Mit-Aktivistin, eingebunden in Planung und Durchführung der Logo-Schriftzug-Aktion an der Parteizentrale. Das rote C musste weg, war aber schwerer abzutransportieren als gedacht. Verstauchter rechter Arm schmerzte. Sie fiel aus. Andere rückten auf der Warteliste nach. Botanischer Garten als Notlösung. Zwei Wochen in Gewächshäusern abhängen. Alles wird  gut, dachte sie, während sie in den Kiesweg einbog. Lernen konnte man überall irgendwas.

Ohne Handy war sie der Außenwelt ausgeliefert. Gärten ähnelten einander, aber dieser kam ihr unüberschaubar vor. Sie entdeckte das japanische Teehaus, das Sie schon beim ersten Besuch cool gefunden hatte.  Schräg gegenüber musste das Viktoria-Haus sein, einer dieser Glaskästen aus dem 19. Jahrhundert, deren Stahlkonstruktionen den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden hatten, angefüllt mit jeder Menge Grünzeug. Orchideen, Farne, Palmen, Lianen. So stellte sie es sich vor. Die Welt war ein Garten, und sie ein unverzichtbarer Teil von ihm.

Ein Dreieck hatte sich konstruiert; die beiden Frauen im Winkel A und B, Herzog an der Spitze. Olivia konnte ihren Blick nicht vom Grün der Gartenschürze lösen, in deren Taschen der Leiter des Schauhauses D beide Hände verbarg. Drei Menschen positioniert im Rund einer Sukkulentenlandschaft, über ihnen Kuppelglas und mausgrauer Himmel.

Abweisend, doch irgendwie witzig fand Olivia diese stachelübersäten Igel, borstigen Knüppel, dicken Gurken und behaarten Säulen. Jede Pflanze ein unberührbares Unikat mit einzigartigem Wuchs, genügsam in staubtrockener Erde wurzelnd. Herzog verzichtete darauf, sich vorzustellen. Er verbot sich, seinem Befremden über das Erscheinen der jungen Frau Ausdruck zu verleihen. Niemand hatte für nötig gehalten, ihn zu unterrichten. Der Wortschwall seiner Vorgesetzten perlte an ihm ab. Olivias Blick blieb an einem riesigen Kugelkaktus hängen, der den Mittelpunkt einer Schaugruppe bildete.

„Schwiegermutterstuhl!“ Er sah Olivia fest in die Augen und deutete in Richtung der uralten Pflanze.  

„Trivialname – gelistet in der binären Nomenklatur. Echinocactus grandis oder Echinocactus grusonii. Du kannst ihn auch Goldkugelkaktus nennen.“

Die Direktorin schaute abwechselnd von ihrem Kollegen zu dessen neuem Schützling. Der Gedanke, ihn überrumpelt zu haben, amüsierte sie.

„Frau Kühne studiert demnächst Umwelttechnik. Schwerpunkt Regenerative Energien. Sie wird zwei Wochen ihres Praktikums bei uns absolvieren. Sicher profitiert sie von deinem Wissensschatz, Ulrich.“

Nachdem sie sich verabschiedet hatte, stand Olivia vor ihrem neuen Chef und kramte nach Worten. Sie fühlte sich unbehaglich. Trotzdem machte sie einen Schritt auf Herzog zu. Instinktiv wich er zurück.

„Wenn es mit dem Studienplatz im Sommersemester nicht klappt, reise ich nach Mexiko-Stadt.“

„ Zu schlechtes Abitur?“

„Pilotprojekt. Die Mexikaner essen Unmengen von Kakteen.  Eine neue Verwertungsanlage, die Kaktusabfälle in Biogas und dann in sauberen Strom umwandelt, interessiert mich.“

Herzog verschränkte beide Arme, die rechte Hand unter die linke Achselhöhle gepresst. 

„Sie gehören auch zu diesem Öko-Pack?“

Sie errötete. Ihr linker Fuß fühlte sich an wie eingeschlafen.

„ Ich möchte ethisch vertretbar handeln. Haben Sie ein Problem damit?“

„Nein.“

Er wandte ihr den Rücken zu. Sie bekam das Logo seines T-Shirts zu Gesicht – eine Schlingpflanze, die sich um ein Gitter rankt.

„Es wird Zeit, dass Sie sich nützlich machen, Frau Kühne. Keine Angst, wir fangen klein an.“

  •  

Kalte Feuchtigkeit kroch nach oben, drang ins Mark, arbeitete sich in Richtung Oberschenkel vor. Klamme Finger verlangten nach Wärme. Ungeduldig befreite Olivia sich von ihren Gummihandschuhen, sehnte Skiunterwäsche herbei, heißen Tee und einen funktionstüchtigen Heizlüfter. Das Thermometer zeigte 12 Grad bei einer Luftfeuchtigkeit von knapp 75 Prozent. Ihre Nase fühlte sich vereist, ihre Lunge sauerstoffunterversorgt an.

Herzog hatte auf die Polycarbonscheibe des winzigen, freistehenden Gewächshauses geklopft. 

„Hier kann man nichts kaputt machen. Alles bruchfest!“

Mit dem Versprechen, wieder vorbei zu schauen, war er in sein wohltemperiertes Sukkulentenhaus zurückgekehrt. Olivia fand sich zwischen Paletten mit Plastiksäcken im 20-ger-Pack wieder. Klumpige Blumenerde, faseriger Torf, Bröckchen von Lavagranulat und feinkörniger Bimskies – das waren die Zutaten, aus denen sie durchlässige Sukkulentenerde im perfekten Verhältnis 30/30/20/20 mischen sollte. Mit einem Cuttermesser schlitzte sie drei der schweren Säcke auf. Sie überlegte. Torf ging gar nicht. Der gehörte ins Moor. Moorschutz war Klimaschutz. Das war wohl jedem Ignoranten klar. Viele heimische Moore waren in den letzten Jahren komplett entwässert und unwiederbringlich vernichtet worden. Sie beschloss, die 30 Prozent einzusparen und durch die anderen drei Bestandteile zu ersetzen. Ein grenzdebiler Job, den man mechanisch abhandeln und sich in andere Welten träumen konnte. Herzog war ein  Spießer, aber die Montagmorgenlaune ließ sie sich von ihm nicht vermiesen. Allmählich verlor sich ihr Zeitgefühl. Die wolkenverhangene Sonne hatte ihren Höchststand erreicht, als ihr Magen sich bemerkbar machte. Auf Insta konnte sie nicht. Sicher gab es mega viele Reaktionen auf ihr gepostetes Kaktus-Eis. Mit Gartenschaufel und Messbecher fuhr sie fort, pi mal Daumen 60 Prozent Blumenerde mit je 20 Prozent Lavagranulat und Bimskies in einer Plastikschüssel zu durchmischen. Anschließend schüttete sie die dunkle Masse in eine Holzkiste und wiederholte das Ganze.

Gefühlte hundertmal hatte sie den Vorgang abgespulte, als es klopfte. Herzog stand mit einer Harke vor der Polykarbon-Scheibe des Häuschens. Er grinste und ließ die Metallzinken seines Laubbesens wie eine winkende Hand über die Scheibe kratzen. Olivia schloss die Augen. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Als sie sie wieder aufschlug, war er verschwunden. Sie brauchte dringend einen Zuckerschock und vor allem ihre Jacke, die sie im Spind eingeschlossen hatte. Ihre Kehle verlangte nach Wasser. Kein Mensch war zu sehen. In einiger Entfernung harkte jemand Blätter zusammen. Für Sandkastenspiele war sie hier nicht angetreten. Hatte ihr ihre Fantasie einen Streich gespielt?  Sie setzte sich auf den Rand der Holzkiste. Wenn dieser Schwachsinn überstanden war, würde sie nach Mexiko fliegen. Der Studienplatz konnte warten. Raus aus der Zwangsjacke autoritärer Bevormundung. Leben und sich nicht leben lassen. Akribisch kratzte sie die schwarze Erde aus den Fingernägeln. Dann band sie ihr Haar wieder zu einem ordentlichen Knoten zusammen. Wenn sie sich gestärkt hatte, würde sie bei ihrem Chef den berechtigten Anspruch auf menschenwürdiges, studienrelevantes Lernen geltend machen.

  •  

Aus dem Lautsprecher perlten Fugen, klar und symmetrisch. Seine Freunde waren intelligent, den Tieren ebenbürtig. Er streichelte mit seinem Gartenhandschuh über die dornigen Verzweigungen eines seiner Lieblinge, einem mächtigen Kandelaberkaktus. Übers Jahr war er ein gutes Stück in die Höhe geschossen. Diese Praktikantin kam ihm in den Sinn. Im kleinen Gewächshaus hatte er sie nicht angetroffen. Sie machte ihm zu schaffen. Eine mittlere Katastrophe, mehr war sie nicht. Ihre Bewährungsprobe hatte sie in den Sand gesetzt. Er musste das Malheur ausgleichen und  verhindern, dass sie weiteren Schaden anrichtete. Wie prächtig sich sein Zaunkaktus entwickelt hatte. Die Reihenpflanzung war ihm gelungen. Sieben grüne Stämme wuchsen kerzengerade und aneinandergeschmiegt in Richtung Himmel. Einen undurchdringlicheren Weiden- oder Gartenzaun gab es auf der ganzen Welt nicht und als Kaktus des Jahres war er zur meist fotografierten Pflanze des Schauhauses D avanciert. Behutsam näherte er sich seinen grünen Schützlingen. Mit behandschuhtem Zeigefinger strich er über ihre wächserne Außenhaut.

„Hört ihr die Frequenzen? Das gefällt euch, was? Ja. Das geht euch durch die Bahnen. Molekülfutter vom Allerfeinsten.“

„Herr Herzog, kann ich Sie bitte mal sprechen?“

Er fuhr herum. Aus seinen Pupillen sprühten Stacheln. Olivia hatte sich in gebührendem Abstand und erhobenen Hauptes vor ihm aufgebaut. Sie registrierte das C-Dur Präludium von Bach, dass sie  als Schülerin passabel gespielt hatte.

„Geben Sie auf?“ fragte er.

„Ich habe eine halbe Kiste geschafft.“

„Gar nichts haben Sie!“ Mühsam hielt er seine Wut im Zaum. 

„Ich weiß nicht, Fräulein Kühne, vielleicht sollten Sie die Umweltverschmutzung anderswo wegtechnisieren, aber hier haben Sie nichts verloren. Sie haben da etwas zusammengerührt, dass man keiner intelligenten Pflanze anbieten kann.“

„Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, aber wenn es jetzt nicht passt…“

Herzogs Gesicht glühte.

„Ich glaube, Sie haben eines nicht!“

„Und das wäre?“

„Respekt vor dem Leben! Seit Jahrzehnten sorge ich dafür, dass diese Lebewesen ihre Existenz bewahren können, Wesen, die Licht verspeisen, deren Körper ein einziges Auge und ein Abbild des Lichtes selbst ist. Für diese zelluläre Leistung sind meine Gewächse auf wüstenähnliche Rahmenbedingungen angewiesen. Eine derart, mit Verlaub gesagt, schlampige Mischerei würde ihr natürliches Wachstumsverhalten in einem intolerablen Maß pervertieren!“

„Ich will nichts wegtechnisieren.“ sagte sie kleinlaut.

Ich will wissen, was hier abgeht.“

„Ich auch!“ schrie er.

Olivias Nervensystem vibrierte. Diese Tsunami-Welle der Empörung hatte sie nicht erwartet. Offenbar ging es Herzog um Leben und Tod. Soviel Leidenschaft hatte sie ihm nicht zugetraut. Es galt zu retten, was zu retten war. In dieser aufgeheizten Situation half weder eine perfekt gespielte Fuge von Bach noch eine zickige Forderung nach einer interessanteren Einführung in die Botanik. Olivia bemerkte zwei Besucher, die den Schwiegermutterstuhl bestaunten. Sie starrte entgeistert, als sich das Pärchen zu küssen begann.

 

„Hey!“

Herzog schnalzte mit den Fingern. Er winkte sie zu sich heran, wandte sich um und ging wortlos davon. Die Schlingpflanze auf seinem Rücken hielt sich am Gitter fest. Olivia folgte den beiden.

Sie gelangten in einen öffentlich unzugänglichen Bereich. Kein Mensch weit und breit. Mehrere Feigen- und Fußfesselkakteen standen verstreut auf einem Pflanztisch.
Herzog stellte sich seiner Praktikantin frontal gegenüber, während er in der Tasche seiner Gartenschürze nestelte. Er zog einen griffähnlichen Gegenstand hervor. Aus dem Schaft schleuderte sich eine blitzblanke Klinge hervor. Ein Springmesser. Olivia fixierte die schmale Blutrinne in der Mitte. Herzog schien amüsiert. Er strich mit dem nackten Zeigefinger über die Messerkante.

„Nicht allzu scharf.“ sagte er.

 Ein Klick und der Dolch war versenkt.

„Pflegefehler!“ Er deutete mit dem Griff in Richtung der braun gefleckten, schrumpeligen Säulen, die allesamt angefault waren.

„Ertränkt worden!“

Der Springmechanismus klackte. Erneut sprang die Klinge heraus. Mit einem einzigen schroffen Hieb kappte er den handtellergroßen Seitentrieb eines kranken Feigenkaktus. 

„Abschneiden, ins Substrat stecken, anwurzeln lassen. Sind Flachwurzler. Die graben sich in staubigste Wüstenböden und zwar blitzschnell.“

„Warum erzählen Sie mir das?“ fragte Olivia benommen.

„Das Wunder des Lebens entfaltet sich von allein, wenn man es in Ruhe lässt.“ 

Achtlos warf er den Seitentrieb auf den Pflanztisch zurück.

„Zweihunderttausend Tonnen Kaktusabfälle pro Jahr fürs dekadente Fleisch-Vergnügen!

So ist der Mensch, Frau Kühne, überall auf der Welt, nicht nur in Mexiko-Stadt. Und Sie wollen der unstillbaren Gier mit einer Biogas-Anlage beikommen? Die huminoide Spezies ist dabei, sich abzuschaffen. Ihre Umwelttechnik kommt zu spät, fürchte ich.“

Olivia schwieg.

„Habe ich Sie mundtot gemacht?“ fragte er vergnügt.

Er führte die Messerspitze an ihr Kinn, um die Klinge Sekunden später einschnappen zu lassen. Dann kramte er erneut in seiner Schürzentasche. Olivia war wie erstarrt. Diesmal zog er einen blütenweißen, etwas zerknitterten Briefumschlag hervor.

„Was ist das?“

„Machen Sie auf!“ 

Mit zitternden Händen zog sie einen von Hand beschriebenen Bogen Papier daraus hervor.

Sie überflog den Text. Es war die Bestätigung der erfolgreichen Teilnahme

am Vorpraktikum für den Zeitraum zweier Märzwochen ab dem heutigen Datum. Herzog hatte eigenhändig unterschrieben. Ein Stempel mit dem Motiv einer Rankenpflanze wirkte wie das glorreiche Siegel einer königlichen Depesche.

„Krass!“ entfuhr es Olivia halb bestürzt, halb erleichtert. Herzog griente mit unverhohlenem Spott. Er vergrub beide Hände in seinen grasgrünen Schürzentaschen. 

„Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise, Frau Kühne. Passen Sie auf sich auf.“

 

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