26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Bernhard Horwatitsch

Amelie

Der Leib  wird aufgelöst in Tränen, zum zweiten Grabe wird die Welt, in das, verzehrt von bangem Sehnen, das Herz als Asche niederfällt.

Es ist lange her. Seit jener Zeit verschlang er die Frauenherzen. Sie flogen ihm zu, als wäre er Incubus persönlich. Doch er erlebte dabei nichts. Dass das Herz für sich eine Welt ist, davon weiß ich. Aber diese Welt war für ihn erloschen. Das Herz wurde sein persönliches Uqbar. Er verschlang die Frauenherzen wie ein gefühlloser Kannibale. Suchte er dabei nach einer verlorenen Welt, einer Lebenshaut, die ihm genommen wurde? Nein, seiner eigenen Aussage nach suchte er nichts mehr. Diese Welt war für Simon Friedberger verschwunden wie jene Türschwelle, die andauerte solange ein Bettler sie aufsuchte; doch nach seinem Tod wurde sie nicht mehr gesehen. Was ihm geschehen ist, lässt sich in Worte vermutlich nicht fassen. Ein ums andere Mal schrieb er es dennoch auf. Deren Fassungen so zahlreich und voller Widersprüche, er konnte es nicht. Es klang ihm zu profan und er sah sich selbst als einen Bettler, was die Sprache betrifft. Ihn trieb nichts mehr um, gar nichts mehr, als zu ergründen, was in jener Nacht geschah, die seine Welt ganz wurde. 

Fassung letzter Hand – herausgegeben von Dr. Haffner

Es war eine laue Sommernacht. Da ich mich gut fühlte, und das noch etwas genießen wollte, ging ich zu Fuß über den Stadtpark nach Hause. Zuvor hatte ich mich mit Haffner getroffen. Wir hatten uns länger nicht mehr gesehen, und daher war es ein anregender Abend geworden. Der Stadtpark war menschenleer, leicht beleuchtet von dem halben Mond am Himmel. Es war eine sternenklare Nacht. Ich schlenderte in Gedanken dahin, als ich plötzlich ein Wimmern hörte. Abrupt blieb ich stehen, schaute mich um, konnte aber nichts entdecken. Es war etwas zwischen Wimmern und Schluchzen  gewesen. Ein leichter Wind raschelte jetzt in den Blättern. Ansonsten war es ruhig. Vielleicht hatte ich mich ja getäuscht? Ich lauschte noch ein wenig und ging dann langsam weiter, versuchte, wieder in meine Gedanken zu kommen. Oreaden und Dryaden bliesen weiter mit gespitzten Lippen. Säuselnd. Da riss mich erneut ein – diesmal heftiges – Geräusch heraus. Es war ein widerliches, unangenehmes Geräusch, eines, wie ich es noch nie in meinem Leben gehört hatte. Sofort blieb ich stehen. Angewurzelt. Trotz der Wärme spürte ich, wie ein eiskalter Schauer mir den Rücken herunter lief. Am ehesten hatte es so geklungen, als würde man zwei Metallblöcke mit rauer Oberfläche aneinander reiben, nur lauter. Die Stille danach war nicht mehr die gleiche, wie mir schien, während ich stand und wieder angespannt lauschte. Wieder raschelte der Wind durch die Blätter und ich hörte mein Atmen. Einen Augenblick blieb ich noch stehen, sah mich ein paar Mal um. Konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Dann nahm ich meine Schritte wieder auf. Es knirschte auf dem Kies. Und dann hörte ich es wieder wimmern! Ich war kein ängstlicher Mensch. Dennoch hatte ich die Neigung, Konflikte für falsche Ansprüche zu halten, suchte eher die Harmonie, das harmonische Funktionieren. Ich war Psychologe von Beruf und vermutlich war mein Harmoniestreben eine Berufskrankheit. Unerklärliches machte mir keine Angst, es machte mir Sorge. Und Sorgen stören die Harmonie. Das Wimmern konnte ich nicht ignorieren. Ich blickte mich erneut um, ging ein paar Schritte zurück. Da sah ich eine junge Frau auf einer Parkbank sitzen. Seltsam. Denn ich musste sie übersehen haben. Gerade eben war ich an dieser Parkbank doch vorbei gegangen. Die junge Frau weinte. Sie schluchzte. Sie trug ein Kleid, so cremefarben wie der halbe Mond. Ich ging auf sie zu.
„Fehlt Ihnen etwas?“, fragte ich sie.  Sie schluchzte auf, schüttelte ein wenig, aber nicht überzeugend, den Kopf. „Liebeskummer?“ Das zumindest erschien mir naheliegend. Eine junge Frau, in einem leichten Sommerkleid, nachts im Park, weinend. Was sollte es sonst sein? Sie blickte kurz auf. Ihre Wangen glänzten feucht. Das machte sie besonders hübsch, anziehend. Ich setzte mich neben sie. Ich weiß nicht warum. Ich hätte auch gehen können. Aber ich fühlte mich gut, hatte einen angenehmen Abend gehabt und da erschien es mir nur gerecht, zu versuchen, etwas davon zu spenden an jemand, dem es gerade nicht so gut geht. Die junge Frau sah mich nun direkt an. „Wenn Sie reden wollen, keine Angst.“ Das betonte ich, denn mein Hilfsangebot könnte auch missverstanden werden.
Sie lächelte ein wenig. „Ich habe doch keine Angst“, sagte sie, „wie heißt du?“, duzte sie mich.
„Simon“, sagte ich, „und du?“
„Amelie.“
„Schöner Name.“
„Schöner Name“, äffte sie mich nach. Dann lehnte sie überraschend ihren Kopf an meine Schulter und sah von der Seite mit großen Augen zu mir hoch. Dann deutete sie mit gestrecktem Arm Richtung Mond. Ein Schleier, oder eine Art Umhang aus beleuchteten Wolken, ließ den Mond wie ein lebendiges Wesen aussehen, das da eben seine üblichen Erkundungsflüge macht.
Ich wollte Amelie gerade fragen, ob sie das Geräusch auch gehört hatte, um einen Anknüpfungspunkt zu haben, da presste sie ihre Lippen auf meine Lippen, nahm meinen Kopf in beide Hände. Ich spürte ihre Zunge, öffnete meine Lippen und unsere Zungen berührten sich. Lange küsste sie mich. Dann ließ sie von mir ab. „Ich muss gehen“, sagte sie, sprang auf, winkte mir und wollte davon gehen.
„Warte“, sagte ich, sprang auf und nestelte in meiner Hosentasche. Ich gab ihr meine Visitenkarte. Auch hier weiß ich nicht warum. Der Kuss hatte mich durcheinander gebracht. Es war schön, aber es entsprach nicht meinem Harmoniestreben. Ich wollte nicht durcheinander sein. Harmonisch funktionieren. Da braucht man einen klaren Kopf. Die Visitenkarte, so erkläre ich mir das heute, war vielleicht ein Stück Realität und Funktion. Amelie nahm die Karte, lächelte kurz und ging dann recht schnell davon. Ohne sich umzublicken. Ich setzte mich noch einmal auf die Parkbank. Da saß ich, nachts im Stadtpark auf einer Bank, wahrscheinlich noch mit offenem Mund, völlig übertölpelt und mit einem emotionalen Konzert im Herzen. Verwirrung, Freude, Verliebtheit, Abwehrhaltung und gleichzeitig auch Angst. Ja. Angst auch, denn immer noch hallte auch dieses schreckliche Geräusch in mir nach.
Was war das denn? Das emotionale Konzert hielt durchaus ein paar Tage an. Ich richtete es ein, auch wenn es Umwege bedeutete, abends durch den Stadtpark zu gehen. Ich hätte Amelie gerne wieder gesehen. Womöglich hätte das etwas entmystifizierend gewirkt und mir geholfen, das emotionale Konzert in mir abzustellen. Aber ich traf sie nicht mehr. Einige Wochen vergingen und allmählich legten sich die Ereignisse anderer Tage auf dieses Ereignis. Der moderne Mensch macht oft viele Sachen gleichzeitig, um mehr in seinem Leben unterzubringen. Und er macht alles sehr schnell. Dann bleibt ihm Zeit für noch mehr Dinge. Es gibt keine großen Erzählungen mehr, weiß die Postmoderne. Also wird jedes Leben zu einer Sammlung von Kurzprosa. Wir haben keine Klammer mehr für unser Leben, sondern nur noch Schichten. Wir sind eine Art Baumkuchen, oder wie die Österreicher sagen: Prügelkrapfen.
Unter den Schichten der Ereignisse wusste ich irgendwann nicht mehr so genau, nicht mit letzter Sicherheit, ob das Ereignis im Stadtpark wirklich stattgefunden hatte, oder einfach nur ein sehr intensiver Traum gewesen war. Die emotionale Intensität des Ereignisses sprach sogar eher für einen Traum. Etwas von ganz unten, aus den vulkanischen Meerestiefen meines Ichs. Und so beruhigte ich mich allmählich wieder, wobei die Gefühle nie ganz abebbten. Vor allem diese Sehnsucht blieb. Wobei ich ihr Gesicht nur noch fabelnd rekonstruieren konnte. Die glänzenden Wangen im Mondlicht. Das klang schon nicht besonders real.
So saß ich eines Abends an meinem Schreibtisch, als es bei mir läutete. Vielleicht Sandra, dachte ich, eine Ex-Kollegin, die ab und zu spontan bei mir vorbei schaute. Alle anderen, Haffner, oder Carlos, Meller oder Andrea, sie alle riefen mich vorher an. Denn offiziell mochte ich keine Überraschungen. Überraschungen stören das harmonische Gleichgewicht. Aber Sandra hatte sich durchgesetzt, und ein Monopol erarbeitet. Sie konnte, durfte vorbeikommen – und tat es auch – wann immer sie wollte. Und es fühlte sich dann gar nicht wie eine Überraschung an. Denn es war ja Sandra.
Ich stand auf und ging zur Tür um den Türsummer zu drücken, ließ die Wohnungstür angelehnt und setzte mich wieder an den Schreibtisch, um den Absatz in dem Buch fertigzulesen, das ich gerade las. Ich wohnte im vierten Stock ohne Aufzug und ganz am Ende des Ganges. Also dauert es ein wenig, bis Sandra oben ist, dachte ich. Sie würde kurz klopfen, ich würde sagen komm rein, und wir würden uns kurz umarmen um dann ein bisschen über unsere Patienten zu plaudern. So las ich den Absatz – wie gesagt – zu Ende. Nichts geschah. Kein Klopfen. Also drehte ich mich um, um aufzustehen und nachzusehen.
Ich setzte mich rittlings wieder in den Drehstuhl, plumpste geradezu in ihn hinein. Mitten im Wohnzimmer stand Amelie. Sie war noch schöner, als damals in dem Park. Ihre langen blonden Haare, ihre vollen Lippen, die Grübchen um die Nase, Sommersprossen. Sie trug eine helle Flanellhose und ein Top, das ihre Figur betonte. Sie stand nur da und lächelte und ich wusste erst nicht, was ich sagen sollte und schwieg daher. Sie sah sich ein wenig um. Sie schien gar nicht verunsichert von meinem abwehrenden Verhalten. Sie sah den Raumteiler, einen grauen Vorhang, schob ihn zur Seite und setzte sich auf das Bett. Ich saß nur da und starrte sie an.

Genau weiß ich nicht mehr, wie es kam, dass ich dann neben ihr auf dem Bett saß, wie es kam, dass sie erst mich auszog und dann sich selbst. Es ging einerseits schnell, andererseits dauerte es ewig. Es geschah nicht in irgendeiner Zeit. So kommt es mir heute vor. Ich hatte nicht damit gerechnet, noch darauf gehofft, noch erschien es mir besonders erstrebenswert. Ich war ein Mensch, der seine persönliche Erfüllung nicht in sexueller Ausschweifung suchte, sondern eher in geistiger Ausschweifung. Wenn überhaupt, dann musste ich mich bremsen zu denken. Das andere erschien mir eher eine Utopie der anderen. Sehnsucht flackert manchmal (durch Musik evoziert) auf und dann spürt man als erfahrener Mensch, dass sie sich nicht erfüllen lässt und dann weiß man, alles Leben ist nur Ablenkung. Man reißt sich zusammen und lenkt sich ab und dann schieben sich die Dinge und die Handlungen, das Wissen über die Sehnsucht drüber. Und dann im Dunkeln, begraben unter einem Stapel meist unbrauchbarer Dinge, Spielzeug für Erwachsene, liegt die Sehnsucht, ungenutzt, ein winziger Diamant, funkelnd vor lauter Versprechungen. Auch nur ein Ding, etwas abstrakter als die anderen Dinge, schwerer begreifbar, schwerer anzufassen. Deshalb verärgert es einen, wenn man es mühsam ausgräbt, wenn man extra in den Keller geht. Man kann es nicht lange halten und es hält nicht, was es verspricht. Sehnsucht ist nicht das Problem, das mich seither umtreibt. Ich stille weder ein Verlangen, noch versuche ich ein Verlangen zu stillen. Himeros, das süße Verlangen das den Eros begleitet? Kein liebliches Lakedämon für mich.

 
Wo sie wohnte? In einer WG. Wo sie her käme? Aus Prag. Was sie hier mache? Studieren. Das war schon alles, was ich in dieser einzigen Nacht mit Amelie erfahren hatte. Dieser unglaublichen, allerletzten dunklen Nacht. Danach sah ich sie nie mehr wieder. Und mein Bedürfnis, ihr meine Geschichte zu erzählen, meine Wunden, meine Hoffnungen, meine Welt, dieses Bedürfnis wurde nicht gestillt. Und will nie mehr gestillt werden. Der levitierende Zauber dieser Nacht endete in tiefster Dunkelheit. Irgendwann erwachte ich mit einem Schrei. Oder einem gedachten Schrei. Ich weiß nicht, ob ich wirklich geschrien habe. Aber der Schmerz war unerträglich. Und er war begleitet von einem Geräusch. Einem Geräusch, das den Schmerz sozusagen mit koppelte. Wie kann man einen körperlichen Schmerz und ein Geräusch nicht nur gleichzeitig, sondern miteinander gekoppelt empfinden. Nicht nur miteinander gekoppelt, sondern wie eine Einheit! Besser kann ich es nicht beschreiben. Schmerz und Geräusch waren so heftig, dass ich glaubte, man wollte mir mit der bloßen Hand die Brust zerreißen und das Herz herausnehmen. Ich weiß, das klingt pathetisch. Aber so oder so ähnlich fühlte ich es. Amelie war verschwunden und ist bis heute verschwunden geblieben.
Sie kam nie mehr. Ein Tag, zwei Tage, drei Tage. Der Schmerz hörte nicht auf, schien sich sogar zu verstärken. Es war das Herz! Ein vergleichsweise schlichtes Organ, das pumpt und versagt, man kann es auskultieren, man kann es katheterisieren und inzwischen sogar transplantieren. Aber das Cor, das singt, lacht, jubelt, weint, erwacht, erblüht, klagt, bebt, zerspringt, blutet, schmachtet oder bricht. Es wird geschenkt, ausgeschüttet und geht verloren. Mal ist es treu dieses Cor, dann wieder trotzig, es kann ganz falsch sein oder abgründig. Dem einen sitzt es am rechten Fleck, dann rutscht es in die Hose oder zittert, hüpft im Leib. Das Herz ist lediglich ein Muskel der zwei bis drei Tonnen Blut täglich durch den Organismus pumpt, ein faustgroßer Muskel, der wie ein umgedrehter Kegel in der Mitte Brust sitzt und sich leicht nach links neigt. Mein Herz litt nicht mehr. Es war noch da. Es arbeitete einwandfrei, trieb seine elektrischen Impulse durch die Muskelzellen. Mein Blut schoss mit fünfzig Zentimeter in der Sekunde in die großen Gefäße und dann langsamer, zwei bis drei Zentimeter pro Minute, breitete es sich in allen Arterien und Venen meines Körpers aus. Immerhin neunzigtausend Kilometer! Aber das Cor! Es fehlte. Amelie hatte mir das Cor herausgenommen und das Herz allein zurückgelassen.
Sandra lachte über meine unbeholfene Poesie. „Das findet sich schon wieder“, meinte sie, schenkte mir ein Glas Wein nach und strich mir gutmütig über den Kopf. Amelie hielt sie eher für eine Projektion. Und ich konnte nicht einmal mit letzter Gewissheit sagen, ob Sandra sogar Recht hatte damit. Was war real an Amelie, was war Ergebnis eines von Euphorie in den Wahn getriebenen Geistes. Gegenüber Haffner ließ ich die Poesie weg. Danach klang es nach gar nichts mehr. Nur wie ein verworrener Traum, den ein Schulkind seinem beschäftigten Lehrer erzählt. Es war eine Mondnacht, beleuchtete Wolken, dann dieser Kuss. Dann diese Nacht in seiner Körperlichkeit. Der Schrei, dieser ebenso körperliche Schrei der diese dunkle Nacht der Seele durchschnitt, als hätte Johannes vom Kreuz persönlich mein Cor von meinem Herzen getrennt. Meine Nächte werden seitdem nie mehr ganz dunkel. Aber auch nie mehr so tief. Als hätte Amelie mich durch etwas hindurch gestoßen, etwas Enges, das mir die Lebenshaut vom Herzen gerissen hat. Ich kann nicht mehr zurück. Der Durchgang ist verschlossen und ich bleibe auf der hellen Seite. Nüchtern. Zur Nüchternheit verflucht. Ein Herzen verschlingender Vampir. Andere wären trunken davon. Kein Herzblut der Welt kann mich noch berauschen, kann je die Dunkelheit jener Nacht zurückbringen. Auf ewig hell.

Nachtrag:
Nachtrag:
Vorliegende Fassung letzter Hand, redigiert von Dr. Haffner, Nachlassverwalter von Simon Friedberger.
Trotz der extremen Eskapaden blieb er bis zum Ende sein Freund. Möge der Leser Herzenstrost erfahren, wie wilde Minze, oder wie es im Liede heißt: „Das Blümli, das ich meine, das ist rosinenrot, ist Herzenstrost genennet.“
In Memoriam Friedberger

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