26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Gertrud Scherf

Ekel

Danke, es geht. Schmerzen – ja schon, aber nicht mehr so schlimm.

Gut, also ich erzähle.

Angefangen hat alles bei der Hochzeit eines guten Freundes, aus Studienzeiten. Das Abendessen war überwältigend, protzte mit sieben Gängen. Als das Spanferkel hereingetragen wurde, ist es passiert: Mir wurde übel. Alles war dran – der Kopf samt aufgerichteten Ohren, der Körper mit den vier Beinen, sogar das Ringelschwanzl. Knusprig braun gebraten, aber mir schien es plötzlich, als wäre das Tier noch lebendig.

Nein, nein, so etwas ist mir zuvor noch nie passiert und darum war ich irritiert. Fleisch mochte ich, es gehörte zum Essen, zum Leben, in jeder Form, auch Wurst, Schinken, Leberkäs, Presssack, eigentlich die gesamte Theke. So war ich es seit meiner Kindheit gewöhnt, hab nie verstanden, wie jemand freiwillig darauf verzichten mag.

Selbstverständlich hatte ich auch bei dieser Feier im Vorfeld nicht das vegetarische Hauptgericht angekreuzt, mich nicht einmal dafür interessiert, was da angeboten wurde. Meine Übelkeit führte ich zurück auf die Torten und den Kaffee, die Suppe, die Salate, den Fisch, nicht zu vergessen den Alkohol – es war wohl einfach etwas zu viel gewesen. Das schien mir eine ausreichende Erklärung meines Zustands, aber ich konnte am Tisch nicht sitzen bleiben und mitansehen, wie das Tier zerlegt und gequält wurde.

Ja, tatsächlich, der Ausdruck „gequält“ war da. Gleich hab ich das als verrückt oder jedenfalls unangemessen empfunden. Ich entschuldigte mich bei den Sitznachbarinnen zur Rechten und Linken und ging vor das Hotel.

Ich erinnere mich, seltsam eindrücklich war das: der laue Frühsommerabend, der Blick hinunter auf den Fluss und die Stadt, die alten Gebäude, einige glänzend in der untergehenden Sonne, die frische Luft, der Duft der Lindenblüten.

Marga stellte sich zu mir. Eine frühere Freundin, lang nicht gesehen. Empört war sie über die Spanferkelpräsentation, fühlte sich als überzeugte Vegetarierin dadurch beleidigt – so sagte sie. Ich habe ihre Aufregung stark übertrieben gefunden, habe versucht, sie zu beruhigen, an ihre Toleranz appelliert. War aber vergeblich. Mein Ekel war nicht aufgrund gesundheitlicher, ökologischer oder tierschützerischer Überzeugungen entstanden – und das hab ich ihr auch gesagt, ehe ich wieder in den Saal zurückkehrte.

Dort hatten sie inzwischen das Ferkel und seine Reste abgeräumt. Aber widerlich hat es gerochen, nach gebratenem Fleisch, ein Duft, der für mich bislang meist angenehm war. Beim Nachspeisenbuffet habe ich mich großzügig bedient.

Der nächste Tag war ein Sonntag. „Spaghetti carbonara“ sollte es als Abendessen geben; Frühstück und Mittagessen waren wegen der späten Heimkehr ausgefallen. Aber, wie ich den Schinken aus dem Kühlschrank nehme, sehe ich das aufgetragene Spanferkel. Schinken wieder zurückgelegt, dann „Spaghetti carbonara“ halt ohne Schinken.

Stimmt, das hat mich schon sehr gewundert und, ja, auch etwas beunruhigt. Doch dann schien mir die Aussicht sogar verlockend, dass ich vielleicht ein wenig abnehmen könnte, wenn ich einige Tage auf Wurst und Fleisch verzichtete. Ab Donnerstag würde ich wieder normal essen – so war mein fester Vorsatz am Sonntag.

Die nächsten Tage sahen essensmäßig so aus: in der Kantine jeweils ein vegetarisches Gericht, am Abend Gemüsepizza, dann Spaghetti mit Tomatensoße, am Mittwoch ein raffiniertes Linsengericht im „Chez les deux chats“. Ich war dort mit Mia, das ist meine Freundin, und ich spürte, wie sie über meine Wahl verwundert war, dann aber keinen Kommentar abgegeben hat. Mia ist ein zurückhaltender Mensch, auf Außenstehende wirkt sie vielleicht etwas unterkühlt, unnahbar. Dass sie die ganze Zeit zu mir gestanden und mich unterstützt hat – das war einmalig. Ich glaube, ich war ihr gegenüber furchtbar unsensibel und egoistisch – vielleicht typisch Mann.

Nein, aus dem Normalessen ab Donnerstag ist nichts geworden. Beim Wochenendeinkauf hielt ich es nach wenigen Minuten an der Fleisch- und Wursttheke nicht mehr aus. Zu unangenehm, ekelerregend waren Anblick und Geruch von Wurst, Schinken, rohem und gebratenem Fleisch. Diese merkwürdigen Empfindungen konnte ich nicht verstehen, aber ich bin ein pragmatischer Mensch und so habe ich mir gesagt: Das ist jetzt halt so, ich muss mich damit abfinden, dass ich vorübergehend als Vegetarier lebe – und Eier, Milch, Joghurt und vor allem Käse gibt es ja auch noch.

Ja schon, etwas peinlich – vor mir selbst und vor anderen. Aber ich sagte mir und auch lästigen Nachfragern, dass es doch legitim ist, wenn man einmal etwas ändert im Leben, zumal im Alter unter Dreißig. Das vegetarische Angebot in der Firmenkantine ist nicht übel.

Ja, ich arbeite im Personalmanagement. Durchaus interessant.

Mein Kollege, das Gscheidhaferl, konnte es beim Mittagessen einmal nicht lassen. Mit der Gabel samt aufgespießtem Stück Nackensteak hat er auf meinen Spinat-Käse-Auflauf gedeutet und mich belehrt: „Tobias, meinst du nicht, dass das ein bisschen scheinheilig ist? Wer Milchprodukte isst, muss auch akzeptieren, dass Kälber geboren, geschlachtet und verspeist werden.“

Ich gehöre wirklich nicht zu den fanatischen Tierschützern und sagte lächelnd: „Na und? Meinst du, ich weiß das nicht? Für mich kein Problem.“ Aber nach einigen Tagen widerte mich plötzlich der Käse an, wie der so fettig-glänzend und stinkend dalag. Mir fiel ein, dass in China und Japan Milchprodukte nicht besonders geschätzt werden, Eier dagegen schon. Auch ich mochte Eier in jeder Form – aber da war plötzlich das Bild: befruchtetes Ei, Embryo, der liegt auf dem Löffel und ich esse ihn. Ich hab mich gewehrt gegen die neuen Einschränkungen und mich einige Tage gezwungen, Käse und andere Milchprodukte und auch Eier zu essen. Bald ist mir aber der Kampf gegen den Ekel zu stressig geworden. Da hab ich halt beschlossen, Veganer zu werden.

Doch schon, diesen Begriff habe ich gekannt, im Kollegen- und Freundeskreis gibt es Veganer.

Jetzt wurde es etwas schwierig. Nicht nur, dass ich mich zu einer Ernährungsweise bekennen musste, die ich bisher abgelehnt hatte, es wurde auch rein praktisch kompliziert. Ich kaufte ein Buch mit Rezepten und Einkaufsempfehlungen, stöberte im Internet, aber mich langweilte das alles, ich hatte gar keine Lust, Essen und Ernährung zu einem großen Thema zu machen Schließlich habe ich mich Mia anvertraut, obwohl ich das eigentlich hatte vermeiden wollen. Sie stellte mir Mangelerscheinungen in Aussicht, sie wies auf die ökologisch ungünstigen Soja-Monokulturen hin, die Regenwald-Abholzung und auf Hofläden, Biomärkte, Gemüsekiste, und so weiter.

„Mir geht es nicht um Ethik, auch nicht um Ökologie oder Gesundheitsgetue“, sagte ich.

„Ja, worum geht es dir dann?“, fragte Mia und war sichtlich verstört.

„Ich kann das ganze Zeug einfach nicht mehr sehen und schon gar nicht mehr essen. Punkt. Mehr kann ich dir nicht sagen, weil ich selbst nicht mehr dazu weiß.“

Der Wochenendbesuch bei meiner Mutter. Den konnte ich jetzt nicht mehr länger aufschieben.

Doch, ich komme mit meiner Mutter meist gut zurecht.

Auf den Anruf hatte ich mich vorbereitet. Sie freute sich, und ähnlich wie ich es erwartet hatte, fragte sie: „Also, was magst, Rinderrouladen mit Blaukraut oder Kalbsrahmbraten mit selbstgemachten Nudeln oder lieber Fleischpflanzerl mit Kartoffel-Gurken-Salat? Ach ja, einen knusprigen Schweinsbraten, den hast doch immer so mögen.“

Mir war klar, dass ich nicht vollständig davonkommen würde, arbeitete aber auf eine Art Kompromiss hin: „Ach, Mam, mach doch amal wieder so alte Sachen von der Oma, Bruckbaam mit Kraut, Majoran-Erdäpfel oder sowas.“

„O mei, das hab ich doch alles schon vergessen – nein, nein, natürlich nicht vergessen, sowas vergisst man nicht, aber was willst dazu – Fleischpflanzerl, Bratwürst, Leberkäs, Schnitzel?“

„Weißt Mam, ich mach grad so eine Art Fastenkur. Das heißt, ich esse kein Fleisch.“

„Jesus Maria, Bua, wirst jetzt so gspinnert wie dei Schwester. Wie die in der 7. Klass war, wollts auf amal kein Fleisch und keine Wurst mehr essen. Zum Glück war das Ganze schnell wieder vorbei. – Also gut, wenn du es unbedingt so magst, gibts halt fleischlos.“

Dass Bruckbaam mit Ei zusammengehalten werden, fiel mir ein, aber mit Ei-Ersatz wollte ich meiner Mutter dann doch nicht kommen. Selbstverständlich stellte sie zusätzlich zu Bruckbaam und Majorankartoffeln noch Schinken und Käse auf den Tisch. Als ich erklärte, dass ich derzeit auch keinen Käse esse, war meine Mutter vollends irritiert.

Nach einem etwas unbehaglichen Schweigen zwischen uns sagte sie: „Unser Herr Jesus Christus hat Fleisch gegessen – Fische aus dem See Genezareth, das Osterlamm. Wenn fleischlos leben richtig wäre, hätte er so gelebt. Wär doch für ihn eine Kleinigkeit gewesen im Vergleich zu allem anderem, was er sich angetan hat.“

„Mei, Mam“, sagte ich, „was auch immer er getan oder nicht getan hat oder getan haben soll – das spielt für mich, ehrlich gesagt, keine so große Rolle.“

Mutter schwieg und ich dachte, ich hätte sie gekränkt. Aber nach einigen Minuten hob sie den Kopf, strahlte mich an und machte Vorschläge, wie wir den Rest des Tages verbringen könnten. Es war schon immer ihre Lebensstrategie gewesen, sich mit Unabänderlichem abzufinden, das Beste aus Situationen zu machen. Das Essenthema wurde nicht mehr angesprochen.

Mia war rücksichtsvoll, aß bei mir die veganen Gerichte, die ich eher unwillig produzierte, sie kochte vegan und ging mit mir in die entsprechenden Lokale. An einem Abend hatte sie eine große Rohkostplatte  vorbereitet – Blattsalat, Tomaten, Champignons, Zwiebelringe, Karotten, Gurkenstücke und noch einiges andere. Dazu gab es knusprige Baguette und einen Merlot. Mir hat es geschmeckt, wie schon länger nicht mehr. Aber mitten im Essen schaltete sich plötzlich das Bild der Salatköpfe ein, Salatköpfe, die mit einem Messer abgeschnitten werden. Ich sah Mutters Gemüsegarten vor mir, sah die Hand Zwiebeln und Karotten herausreißen. Möglichst ruhig legte ich Messer und Gabel hin, aber meine Hände zitterten. Nach einem Schluck Wein sagte ich, mir wäre nicht gut, vielleicht eine Grippe, ich würde besser gehen, um Ansteckung zu vermeiden.

Natürlich hat sie gefragt. Ich bin wütend geworden, eigentlich auf mich, meinen Körper, mein Gehirn, aber Mia war das Opfer. Abrupt bin ich aufgestanden, das Weinglas fiel um, der Rotwein ergoss sich über den Tisch und tropfte auf den Boden. Als Mia die Hand austreckte, um mich zu beruhigen, stieß ich sie heftig zurück. Ich schämte mich, habe aber trotzdem dummes Zeug geschrien, dass sie mich in Ruhe lassen soll und mich nicht ständig mit ihren spießigen Vorstellungen bedrängen.

Auf dem Heimweg bin ich spontan ins „Goldene Kalb“. Nicht länger wollte ich dem Tyrannen in mir die Regie über mein Leben überlassen. Jetzt war endgültig Schluss, ich würde es ihm zeigen. Ich bestellte Schweineschnitzel mit Salat und Pommes. Den Bratengeruch im Lokal versuchte ich zu ignorieren. Schlimmer wurde es, als der Teller vor mir stand. Das „Guten Appetit“ des Kellners klang höhnisch. Ich aß ein paar Pommes. Leichenartig lag das riesige Schnitzel da. Ich schnitt ein kleines Stück ab, spießte es auf die Gabel, schloss die Augen, steckte es in den Mund. Das Fleisch war vollständig durchgebraten, das hatte ich gesehen, aber beim Kauen kam metallischer Blutgeschmack. Noch wollte ich nicht aufgeben. Ich schluckte, schnitt ein weiteres Stück ab, kaute, schluckte. Dann ging nichts mehr. Ich rief den Keller, murmelte, mir sei nicht gut, bat um die Rechnung, gab ein üppiges Trinkgeld und stürzte hinaus.

Kaum daheim, musste ich mich übergeben. Mias Salat, die Pommes und Schnitzelstücke landeten im WC. Ich ging ins Bett, konnte nicht einschlafen, wusste nicht, wie es mit mir weitergehen sollte.

Sie haben Recht – weitergegangen ist es, aber halt nicht gut, sonst wäre ich nicht hier.

Am nächsten Vormittag rief ich Mia an und entschuldigte mich. Schonungslos schilderte ich, wie es um mich stand. Sie reagierte verständnisvoll, liebevoll – aber dann hat sie, vorsichtig, die Möglichkeit einer psychotherapeutischen Beratung erwähnt. Alles in mir hat sich gesträubt, ich bestand darauf, nicht verrückt zu sein. Eine Weile war Schweigen zwischen uns, dann sagte sie: „Versuch es halt mit Früchten – also Äpfel, Himbeeren, Nüsse, Ananas, Bananen, Tomaten, Getreideprodukte und so. Die Frutarier argumentieren, dass bei dieser Ernährung die Mutterpflanze am Leben bleiben kann.“

Abrupt beendete ich das Gespräch. Mag ja sein, dachte ich, dass Leute, die aus Überzeugung diese Ernährung gewählt haben, sich gut fühlen. Aber ich will das Ganze ja nicht. – Eine Woche Urlaub oder besser zwei, viel schlafen, spazieren gehen, abends ein Gläschen Wein oder zwei – könnte doch sein, dass sich so der Spuk vertreiben lässt? Neue Zuversicht war da, zumal sich mein Chef auf die Urlaubsanfrage freundlich und verständnisvoll geäußert hatte. Stimmte ja, die vergangenen Monate waren arbeitsmäßig wirklich etwas stressig gewesen. Am Abend schaute ich bei Mia vorbei. Bat sie, mir Näheres zu den Frutariern zu erläutern, Wir googelten, fanden auch ein Buch zum Thema.

„Ich mach das nur vorübergehend“, sagte ich, „Wenn ich mich erholt habe, bin ich wieder normal.“ Mit vorsichtigem Enthusiasmus kreierten wir einen Speiseplan für die nächsten zwei Wochen. Frühstück jeweils Müsli mit Haferflocken, Beeren und Mandelmilch. Kaffee, Vollkornsemmeln mit Olivenölaufstrich und Himbeermarmelade. Ansonsten Sachen wie Grünkernsuppe, Nudeln mit Tomatensoße, Obstsalate, Linsen- oder Bohneneintopf mit Räuchertofu, Brot und Wein.

An einem Abend in der zweiten Urlaubswoche, auf der Heimfahrt, klatschten Insekten an die Windschutzscheibe – ganz normal an einem warmen Abend. Bislang hatte ich nicht weiter darauf geachtet, mich nur manchmal über die verdreckte Scheibe geärgert. Diesmal war es anders. Überlaut klangen die Aufprallgeräusche, taten mir körperlich weh. Die Tiefgarage war schmutzig, das trübe Licht flackerte. Ich schaltete den Motor aus und schaute auf das Massaker. In der Scheibenmitte war ein dicker brauner Fleck, eine dunkelrote Spur zog sich nach unten.

Ich floh aus dem Wagen, fuhr mit dem Lift in den dritten Stock, konnte vor lauter Zittern kaum die Wohnungstür aufsperren. Ich bin ins Bad gewankt und habe widerlich stinkendes Zeug erbrochen. Schwitzend und frierend saß ich auf der Bettkante, bin dann aufgestanden, habe die Balkontür geöffnet, bin hinaus auf den Balkon, Auf die Stadt hab ich geschaut und in den Himmel. So hell waren die Sterne. Ich bin über das Geländer gestiegen und gesprungen.

An das Fallen kann ich mich erinnern – aber nicht an den Aufprall und nicht an das, was dann geschehen ist.

Ja, weil unten der Rosenstrauch ist, hab ich überlebt. Ob das ein Glück ist, wie Sie sagen, weiß ich noch nicht.

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