26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Gabriele Petricek

Am Steg 

Hubschrauberrotieren. Gelb. ÖAMTC. Nervenschlagend das Knattern von Christophorus 9. Vertreibt den Spirit sommerlicher Leichtigkeit. Die Riesenlibelle laut überm Wasser. Ertrank jemand? Unterm Wasserspiegel schon. Das Ereignis nicht bemerkt. Schlüpfte aus dem Hubschrauberbauch ein Seil hervor? Kentert wer und fällt ins Wasser, so ufernah zumal, bleibt das festgewirkte Tau im Rettungslibellenbauch aufgerollt. 

Was, wenn jemand einfach untergeht. Wie Lena. Geräuschlos ohne Hilferuf. Irgendwann dann in dieser unüberbrückbaren Zeitspanne, die sich später nicht mehr definieren lässt, sofern darüber niemand akribisch Aufzeichnung führt, Dauer, in der passiert was Schicksal und Fakt hernach, ein augenfälliger Beobachter eingreifen hätte müssen. Irgendwann drallte das nervöse Helikoptergesuch überm Schrebergartendichtgebiet wo kein Landeplatz. No go. Am nahen Tennisplatz hätte der rotorgewirbelte Sand das Fluggerät jedenfalls verstört auch ohne Netz. In die Wiese gesetzt beim Tausenderbaum zu weit weg vom Unglücksort verbliebene späte Möglichkeit hasteten Arzt und Sanitäter mit Notfallkoffern die Uferpromenade lang in den Freitag Nachmittag, womit Pfingsten 2011 an der Unteren Alten Donau folgenschweren Anlauf genommen. 

Am Steg. In der Sonne liegend, am selben Steg in der Sonne liegend an welchem die Gruppe sich immer getroffen. Zwei, drei Wochen danach hörte ich davon. Völlig ergeben meinen Körper der Wärme hingeliefert dem Holz des Stegs seinen typischen Geruchsmolekülen die mir den Sommer gaukeln, Pappelblättergeflirre, zogen sonnencremedurchmischte Schwaden lau über meine Haut und in einem Glas zerteilte eine Gabel synkopisch Gurkensalat. Zufriedengebügelt liefen mir Wellen endlos zu, variantenreich lockend verdrehte mir das Sonnensprenkeln Augen und verschaukelte mir den Verstand, der mir glucksend murmelnd flüsterte, hell aufglucksend zuweilen vor Glück in Entenbrabbeln fiel, aufs Handtuch speichelte, wo unterm Horizont meiner Armbeuge Schwäne entlang Revierlinien spurten, wassertretend stiegen und spritzend wasserten, Sommergeräusche. Die Taktkommandos und Ruderschläge der Sportboote würden erst am Abend ihren Einsatz haben, am Nachmittag ans andere Ufer rüber schwimmen hatte Zeit. Dieser sommerprallen Kulisse selig ausgeliefert fluteten erst unbemerkt bedenkliche Gesprächsfetzen an, drangen durchs alerte Gefunkel, verfingen sich, dösten und kamen wieder auf und wiederholten sich, bis ich mit Fragen begann. Irritiert.

Was ist passiert? Hier? Wann? Da vorn? Ertrunken? Wer?

Dort, an dieser Stelle dort, wo das Wasser eben glitzert, so stark gleißt jetzt, als ob, also man könnte meinen, sie sende von dort unten her ein Zeichen noch rauf. Lebenszeichen. Doch. Sie hat überlebt, sage ich, frage ich.  

Überlebt? Er habe keine Ahnung, ob sie überlebt habe, er sei nicht dabei gewesen, aber ja, er habe sie gekannt, ihre Kameradinnen auch, waren immer da in den Ferien, zwölf, dreizehn Jahre alt, Kinder noch, Halbwüchsige, und ihre Familie, die einen Garten an der Promenade habe.

Der Tag stählte seine Brust wolkenlos als wäre nichts vorgefallen. Ich sah ins blitzende Wasser. Flach rollende Wellen blendeten ölig, trugen keine Spitzen zur Schau wie wenn Wind aufbrist. Mir war heiß. Ich schwamm einfach los, getrieben, fünf- oder sechshundert Meter ans andere Ufer. Schneller als sonst, zügig, wie gejagt beinah. Drüben außer Atem im Bojenseil des Strandbads hängend, erleichtert davon aufgefangen und geborgen, fragte ich mich zum ersten Mal in diesem Sommer, zum ersten Mal überhaupt in all diesen Sommern, die ich hier verschwamm, wie ich rüber, also zurück wieder rüber an den Steg kommen sollte. Ich erinnerte mich plötzlich doch an das Mädchen, mehr an ihren Namen als ihr Gesicht oder ihre Physis – Lena, den Namen hatte ich rufen gehört. Hatte sie bei meinen regelmäßigen Stegbesuchen wohl gesehen und ihre Familie auch. Erinnerte mich vage. Über Jahre hatte sich eine Art Steggesellschaft gebildet, divergent und verbunden nur an diesem Platz, der eine Ruhe hat und einander fremde Menschen zum Grüßen bringt, zuweilen zum Reden, zu losen Freundschaften sogar, die sommers steggebunden stets wiederauflebten, ich fragte mich, ob Lena eine gute Schwimmerin und war beunruhigt, eine so weite Strecke wieder zurück schwimmen zu müssen. Lena war zwei, drei Meter vom Steg entfernt einfach untergegangen. Niemand hatte das bemerkt.

Dann doch. Dann war das Mädchen der fröhlichen Gruppe aus Freunden und Familie doch abgegangen, die sich gemeinsam kurz abkühlen wollte vorm Mittagessen. Da hatten dann welche nach ihr ausgeschaut, sie gerufen, keine Antwort, sie nicht gesehen, die anderen angerufen, ob sie an den Steg zurück, dort hingeschaut und sie dort nicht gesehen, lauter nach ihr gerufen, übers Wasser hin ihren Namen geworfen, war vielleicht weiter weg geschwommen, rüber oder hinterm Steg, unterm Steg, oder im kleinen Schilfgürtel am Ufer sich versteckt aus Jux und Übermut, hatten sie einander noch versichert, solche Streiche gingen doch zu weit, während der Vater schon runtertauchte, einer schieren Ahnung folgend, die jemand vom Steg her ihm bestätigte, der übers Wasser hinrief, ihm vor komme, da sei ein Kind nicht mehr aufgetaucht, da vorn, und selbst gleich nachsprang, paar Kraulzüge vom Steg weg tief Luft nahm und runtertauchte.  

Hatten sie ihr Fehlen bemerkt in der Minute schon nach ihrem Untergehen oder Minuten später erst? Zurückschwimmend keimte mir Angst, als Schlingpflanzen meinen Bauch streiften, deren Streicheln ich bislang als Poseidons Gruß an eine stille Schwimmerin gedeutet, einer Schwimmerin, der bloß aus Versehen keine Schwimmhäute gewachsen waren, und wurden mir meine Füße, meine Beine nun auf einmal nervös, verschluckte mich die Schwimmdistanz die sich seltsam weitete, Querung, die ich jahrzehntlang bedenkenlos aufgenommen, mehrmals am Tag manchmal, war erleichtert nun, meine Zehen der veralgten untersten Treppe des Stegs wieder sicher und meine Finger des morschenden Geländerholzes habhaft wieder. Der Badegast, der mir erzählt hatte was er wusste, war weiteren Fragen ausgewichen, hatte den Steg verlassen.  

So also war das wirklich am Pfingstwochenende 2011. Freitag nachmittag. Die Stege, die Gärten an der Unteren Alten Donau voll frühsommerlicher Ausgelassenheit. Über aller Leichtigkeit ein Unheil schon, manifest im Auftauchen des Helikopters knapp über dem Wasserspiegel, blieb den meisten am Strand das Rotorknattern erst noch im Hintergrund und wurde im unbeirrten Herannahen lästiger, brach ein in die Steggeschwätzigkeit und unterbrach jede Tätigkeit, übertönte die Freizeit bis Neugierige innehielten, hinschauten, die Stege, eine einzige Mutmaßung des Einsatzgrundes, entlang der Frage, über welcher Stelle das Einsatzgerät verharren würde, abwartend, wie sich der Fluss der Freizeitbewegung unterbrach von Steg zu Steg ein Erstarren, und als das gelbe Helikoptertier zackig abdrehte, bis sein Rotorlärm erneut penetrant wieder aufkreuzte. Der Heli stand tief und peitschte einen tiefen Wirbel, bevor das Fluggerät hochging und gegen den Tausenderbaum hin sein Geknatter unterging im Trubel des fortgesetzten Badetags. 

Ich stelle mir vor wie das kam an diesem Tag und male es mir weiter aus mit Details die nicht gesagt oder nicht bemerkt wurden, kenne den Vorfall nur vom Hörensagen. Jeden Sommer kommen solche Einsätze mehrere Male vor. Jede Saison ertrinken Badende. Kurz nur bringen die Hubschrauber Unruhe in den Rausch und das Rauschen der brillanten Sommertage, eine Störung, die darin rasch untergeht und im Grund verblasst wie die Unrettbaren.

Nicht so tief war es an dieser Stelle, vielleicht zwei, drei Meter, sonst hätte er sie nicht sehen können da wo sie drunten lag, das Wasser trüb eher, sagte der Badegast mit dem gemütlichen Bauchüberhang überm Badehosenrand, dem ich so einen spontanen Tauchgang nie zugetraut hätte, und seine Ehefrau nickte. Wochen später Septemberanfang, Altweibersommer. Tatsächlich war ihr Mann gleich reingesprungen, nachdem ein anderer vom Steg aus der Freundesgruppe übers Wasser hin zugerufen hatte, es sei da jemand nicht mehr aufgetaucht, erzählte seine Ehefrau. Ich saß am Steg fröstelnd und fragte, ob die Untergegangene überlebt – niemand wusste das. Ein anderes Paar mischte sich ein, Mutmaßungen, in die hinein eine neu Hinzukommende klarstellte. Lena ist gestorben. 

Sie wisse das genau. Nein, sie habe sie nicht gekannt, habe gar nichts davon gewusst bis jetzt. Jetzt eben diese Gewissheit erst, ein fehlender Mosaikstein, sei ihr klar, es war dieser Unfall, dieses Kind, ein Mädchen, es war wohl Lena, über die jener Arzt, Kollege am Allgemeinen Krankenhaus, wo sie als Physiotherapeutin, der damals in ihr Praxiszimmer platzte, statt ins Männerklo daneben, verzweifelt, übernächtigt und an sich zweifelnd vom nach Tagen auf der Intensivstation doch verlorenen Kampf um ein in der Alten Donau untergegangenes Mädchen, sich ausweinte, sich unfähig bezichtigte, es sei umsonst alles gewesen, so ein schönes Kind, aus dem Hubschrauber raus Reflexe noch, hoffnungsvoll zuerst noch, dann plötzlich nichts mehr. Organe noch. Kurzzeitig schwieg der Steg.  

Schwieg, bis der mit dem gemütlichen Bauch, der zuerst nach ihr getaucht, sagte, und er habe sie liegen sehen am Grund, habe sie so gesehen, sie nicht erreicht, wollte sie hochziehen, mehrmals versucht, habe nicht tauchen können so tief, habe sie liegen sehen unten am Grund, friedlich und blass und entfernt unerreichbar schon, rasch habe es von Berufstauchern, Equipment und Zuspielern am Steg gewimmelt, das Mädchen sei hochgebracht, versorgt und zum Helikopter mit Blaulicht die Promenade zum Tausenderbaum gebracht worden. Höre das und frage mich, warum nicht mit diesem Rettungswagen zum nahen Donauspital.

Hätte ich ihm erzählen sollen von meiner Panikattacke, als ich das Überschwimmen der Alten Donau vom Steg an dieser Stelle, wo sie sehr breit ist, wieder einmal hinüber zum Strandbad geschafft hatte, im Bojenseil wieder rastete, als ein stures Lüftchen aufkam und Wellen gegeneinander aufbrachte und spitzkräuselte, sie sich nachliefen, türmten und übersprangen, lächerlich wenig hoch zwar, aber gegeneinander preschten und klatschten, hochspritzten, dass der Wind darob jammerte und mir mehrmals nass ins Gesicht schrammte und mir meine Courage ausblies. Ich stieß mich vom Seil ab erst als er abgeflaut, die Vertauungen der Segelboote drüben im kleinen Yachthafen nicht mehr heftig klimperten und schwamm mutschöpfend los, kältebibbernd schon und die kreuzenden Segler sehr beschäftigt mit Manövern zischten mir über die Nase fast, blieb achtsam, sie würden mich Schwimmerin leicht übersehen. Auch die Ausflugsboote strebten Ziele an, ruderten oder pedalten heftiger, und ich tat das auch, und da stießen meine tempifassenden Füße in einen Wald aus Schlingpflanzen, der mich anfasste, mich umstriff an Bauch, Flanken und Beinen, er zog mich tief, Schwall um Schwallen überschnitten mich Schwalle trafen mich offenmund hart am Atemrand  

wer will mich vom grund hochzerren, auf den ich grad abgesunken, lasst mich, ich in dieser zeitlupe, lasst mich los, nein, ich will nicht zurück, lasst mich hier, denn was ich da höre ist raunen der fische und das gewog’ne säuseln der hydrophyte, der blauen algenfarne, der aquatischen makrophyten, schwebpflanzen wie ich, die meine wächsernen lenden bevölkern werden, wie alles, was hier unten west und schwimmt und haust, wie die steine und der sand, die mich überleben, ich bin ins wasser gesprungen als ein fisch flutschend schon aus eigner hand ins element gesprungen wie mein herz, mein herz, mein fehlerherz wie’s mich hinabflutet, mich überholt mein ganzes kurzes leben schon so todbereit ohne gelegenheit die jetzt einmalig zu nutzen war und nutzen wird meine lunge nur, mein herz nicht, wartet droben schon ein junge auf meine lunge schön, schönes kind, weiß es nur heut noch nicht, vor allem aber sehe ich jetzt noch euch hobbytaucher, sonntagsschwimmer mit dicken bäuchen, wie ihr sucht mich zu erreichen und zu retten, ihr verzweifelten, die aufgeben werden und auch die professionellen die meinen körper zwar heben vom grund, sachte sachte, bis ein helfer vor lauter erster hilfe mir die rippen bricht, ach, lasst es bleiben, warum bloß taucht ihr meinem herz nach dem vorgeburtlich ein loch gewachsen wo keins sein darf und mein fehlerherz sein pumpen eingestellt und mich der gewissheit des ozeans vermählt schon der kühlt und hüllt mich leibumsprudelt, kein zurück ein hinüber will ich schlürfend dem fischschwarm beifolgen, trudeln sauerstoffumwirbelt tauchergestalten herab begrapschen mich werden meiner rettung habhaft verwundert nur da ich mich ihrer wehre und ihre augenfurcht mich nicht rühren kann, nein, ich will nicht mehr, aber sie mich nicht lassen, nicht mehr ablassen, mich fassen, aufgreifen, wegreißen, und entrissen steigen wir und sie verkörpern mich sickernd ins andre Medium wieder dort oben hinsinkend wieder einem schlappen, doch wenigstens lungenvoll phytengestreiftem tod, dieser tod besser jetzt, als ein langes leben lang mitgeschwommen im mittelmaß, ein sprung ins wasser nur und hochgetaucht und —

als ich daraus schnappend hervor ein nahes Ruderboot anrief, ja, ich konnte rufen noch, schreien, wo doch alle sagen, es würde, derart in Bedrängnis gebracht, der Kehldeckel sich unwillkürlich schließen, Ertrinken ein stiller unauffälliger Tod, stimmversagend dem Ersticken ähnlich, rief ich laut die Leute im Boot ihren Begleitschutz fordernd, sie mussten in meiner Not rüber zum Steg als Beiboot bis ich dankend abwinkte, wellengeglättet plätschert die Alte Donau beim Steg fast wieder und beschämt derart im Luftlos gewesen, ein Schrecken, diese Scham. 

Bin nicht wieder hinüber geschwommen und zur faden Randschwimmerin verkommen, zur Auf- und Abschwimmerin mutiert entlang der Ufernähe und in diesen Bahnen von Neptuns derben Scherzen verschont, seiner neckischen Aufmerksamkeit entzog ich mich, safety first, und doch befallen mich regelmäßig Herzschlagaussetzer seither, Herzflimmergejammer, Arythmien der Angst, die mir im Nacken hockt, wenn ich nur dran denke rauszuschwimmen ins Weite oder die Alte Donau rüber nur, einerlei ob ein flotter Wellentanz leicht aufbrist, ein Algengeschwader lässig dahinwellt oder ein neugieriger kaum fingerlanger Fisch mir Zehen küsst während meine Beine vom Steg ins Wasser hängen. Nächsten Sommer lege ich mir eine Schwimmhilfe zu, sage ich mir dann, aufblasbar unterm Badeanzug unsichtbar, vergesse es von Saison zu Saison. 

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