26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Ruth Kornberger

Vereinzelung – Fragmente 

Ich fläzte im Ohrensessel und schaute mir auf YouTube an, wie ein Bastler im Blendenmechanismus einer alten Nikon herumstocherte, als sich vor dem Schaufenster etwas bewegte. Laufkundschaft hatte ich kaum und schon Monate vor der Krise waren auch die Hoheiten ausgeblieben. Nachdem ich den Laden von Tante Inge übernommen hatte, kamen noch eine Weile lang glitzernde Damen und geschniegelte Herren, die nach Schmuck und Porzellan fragten. Auf die ausgezeichneten Preise gab ich zwanzig Prozent Rabatt, was angeblich auch die Tante getan hatte. Aber als ich neue Ware beschaffte, drückten die Hoheiten mich weiter, fanden Macken und falsche Steinchen. Nicht mal die Ankaufspreise bekam ich. Seitdem gehe ich auf Sperrmülltouren und es kommt nur noch Heinz. Allerdings wirft der einen größeren Schatten. Eine Garderobe versperrte mir die Sicht. Ich faltete mich auseinander und klopfte Kekskrümel von der Hose. Mein rechter Unterschenkel wachte kribbelnd auf. Vorn muss das Türglöckchen gebimmelt haben, doch in meiner Erinnerung höre ich Streicher und rieche Chanel Mademoiselle. Es war wie im Theater, letzte Vorstellung, ausverkauftes Haus, bewunderndes Raunen bei ihrem ersten Auftritt. Die Petranova durchmaß die Schneise zwischen den Kommoden und Computerschreibtischen. Ihre Füße zeigten nach außen, die Sohlen berührten den Boden kaum. Unter dem Kronleuchter blieb sie stehen, machte einen Port de Bras und endete mit einem Fingerzeig nach oben:  

»Ist das der aus dem Nussknacker?«

Ich antwortete nicht gleich. Zwar war der Leuchter das Einzige, das ich jemals in einer Vorstellung hatte unterbringen können, aber ich wollte die Pose der ersten Tänzerin noch ein wenig bewundern, das anmutig gehobene Kinn, den gestreckten Arm, lang und elegant wie ein Flügel. Lachen perlte in meinem Hals nach oben. Die Primaballerina des Landestheaters in meinem Laden!  

»Der Nussknacker, erstes Bild!«, wiederholte sie lauter. »Die Kulisse erinnere ich genau.«

»Spielzeit 16/17«, sagte ich. »Damals habe ich ein Praktikum im Bühnenbild gemacht.«

In meinen Pausen hatte ich mich beim Probesaal herumgedrückt oder in den Innenhof gelugt, wo die Petranova ihre Füße in einem Wassereimer zu kühlen pflegte und halbe Bananen aß. Anscheinend war ich ihr nicht aufgefallen. Sollte ich einen Preis für den Leuchter nennen? Zwei Originalarme fehlten. Ich hatte sie durch Attrappen aus Styropor und Aluminium ersetzt. Nur aus der Distanz des Zuschauerraums waren sie als echt durchgegangen.

»Wie kann ich helfen?«, fragte ich. »Dürfte ich Ihnen einen Kaffee –«

»16/ 17, waren gute Jahre.« Sie ließ den Arm sinken und fiel in sich zusammen wie nach dem letzten Vorhang. »Jetzt lassen sie uns nicht mehr rein.«

»Corona«, sagte ich. »Aber das geht ja irgendwann vorbei. Inzwischen muss man die Zeit sinnvoll nutzen, nicht?«

Sie warf mir einen düsteren Blick zu und brachte den Kronleuchter mit einem Stups zum schwingen. Staub schneite herunter. Die Petranova nieste in ihre Armbeuge und inspizierte das Regal, in dem ich die Elektronik ausstellte. Die Mehrheit der Geräte war defekt. Bei manchen brauchte laut Heinz nur eine Kleinigkeit getauscht zu werden, andere hatte ich zu neuen Apparaten zusammengefügt. Bisher war keiner dieser Frankensteins zum Leben erwacht.

»Sind das alles Requisiten?«, fragte die Petranova.

»Sozusagen.«

Sie nickte und schien in Gedanken zu versinken. Rasch rührte ich im Hinterzimmer zwei Instant-Cappuccinos an. In meinem Laden gab es nichts, was eine Ballerina von Weltrang hätte begehren können, aber vielleicht plauderten wir ein wenig, bevor sie wieder ging?

Das Getränk nahm sie huldvoll entgegen, suchte aber gleich eine Möglichkeit, es abzustellen. Trank sie nur Sencha? Sie entdeckte meinen Sessel, setzte sich, platzierte die Tasse auf dem Boden und lehnte sich zurück. Das Ledermonstrum verschluckte sie zur Hälfte. In die Stille streute ich Plattitüden über das Wetter. Die Petranova blieb stumm. Ihr Blick hing wieder am Kronleuchter. Um mich zu beschäftigen, fegte ich ein wenig um den Kofferstapel herum. 

»Guter Boden«, sagte die Petranova plötzlich.

Überrascht hielt ich inne. Sie hatte recht, die Dielen waren das Einzige von Wert, das die Hoheiten mir nicht abgeluchst hatten. Massives Holz, glatt geschliffen und dunkel lackiert. 

»Sie können hier üben«, platzte es aus mir heraus. »Das müssen Sie doch trotz Corona?«

Wahrscheinlich durfte sie zuhause wegen der Nachbarn nicht springen. 

Die Petranova seufzte. »Trainieren sollte ich wohl.«

Eine Hand streckte sich mir entgegen. Ich ließ den Besen fallen, zog die Petranova aus dem Sessel und trat neben sie. Hätte sie ein Cambré vollführen wollen, wäre ich dagewesen, um sie zu stützen. Doch sie lächelte nur fein und sagte (mehr zum Kronleuchter als zu mir): 

»Vielleicht komme ich wieder.«

In der Nacht schlief ich nicht. Am nächsten Morgen ging ich eine Stunde früher zum Laden und da wartete sie schon, in Turnschuhen und mehreren Schichten Trainingskleidung, die Spitzenschuhe an den Bändern um den Hals gehängt. Ich ließ das »Geschlossen«-Schild an der Tür hängen und räumte eine Fläche zwischen dem Tresen und dem linken Fenster frei. Die Kommode mit der gebrochenen Marmorplatte war zu schwer für mich, aber die Petranova sagte, die würde sie mangels Stange zum Festhalten nutzen. Mit Tendus und Pliés wärmte sie sich auf, kreiste die Füße, bog die Zehen und dehnte Oberkörper und Beine im Stehen. Ich sortierte Schrauben nach Länge und schaute verstohlen zu. Pirouetten und Balanceübungen folgten, dann legte die Petranova eine Hand auf den Boden. 

»Kalt.«

»Eine Unterlage!«, sagte ich. »Moment.«

Im Hinterraum kramte ich durch Zelte und Markisen, fand aber nichts, was sauber genug gewesen wäre. Mit einer Entschuldigung auf den Lippen kehrte ich zurück, aber die Petranova schnürte bereits ihre Schuhe auf.

»Schon gut.«

Sie zog Socken über, kuschelte sich schräg in den Sessel und nickte ein. Ich sortierte die Schrauben nach Dicke und fasste dabei jede einzeln an, um keinen Krach zu machen. Nach einer Stunde räkelte die Petranova sich, schlüpfte in ihre Turnschuhe und ging.

Am nächsten Tag wiederholte sich alles, nur gönnte sie sich diesmal ein längeres Schläfchen. Mir gingen die Schrauben aus und ich scrollte durch Instagram. Dort zeigte der Ballettmeister Eindrücke des virtuellen Morgentrainings. Einige Mitglieder der Kompanie hatten Clips eingestellt, wie sie tanzend ihre Zimmerpflanzen gossen oder im Spagat den Badfußboden wischten. Von der Petranova gab es keinen Content. Die war schließlich bei mir. Aus ihrem Dutt hatte sich eine Strähne gelöst. Der Punkt zwischen den Halswirbeln war kein Leberfleck sondern zwei einzelne Sommersprossen. 

Heinz liebt Geschichten von glorreichen Flohmarktfunden. Jemand ersteht ein Bild, das sich als verschollener Vermeer herausstellt und in Jacketts finden sich Diamantringe. Nach solchem Glück kann man nicht suchen, das muss zu einem kommen. 

Auch am Donnerstag, Freitag und Samstag beehrte die Petranova mich wieder. Der Ablauf ihrer Übungen blieb gleich, aber am Montag wackelte sie zum ersten Mal in der Balance. Am Dienstag stolperte sie nach vierfachen Pirouetten, am Mittwoch drehte sie nur noch zweimal. Ihre Schläfchen dehnte sie aus und brachte dafür ein Kissen und eine Fleecedecke mit. Abends rief ich Heinz an und berichtete. 

»Und darum bleibt der Laden zu«, schloss ich. »Die Petranova darf nicht gestört werden.«

»Keine Sorge«, sagte er. »Ich hab meine Sabine letztes Jahr zu so ner Bolschoi-Gala eingeladen. Geburtstagsgeschenk. Die längsten zwei Stunden meines Lebens.«

In der nächsten Woche kam die Petranova mit einer Strandtasche. Darin waren Magazine und eine Flasche Chablis. 

»Für uns beide.«

Doch den Großteil trank sie allein. Lustlos blätterte sie durch Modestrecken und döste. Online verfolgte ich, wie die anderen Tänzer ein Wohnzimmerballett einstudierten: »Vereinzelung – Fragmente«. 

Das fehlende Fragment schnarchte in meinem Sessel. Anfangs war nach den Besuchen der Petranova ein Duft verblieben, eine Mischung aus Veilchenparfum und etwas Strengem, vielleicht Salbe, mit der sie ihre Füße eincremte. Inzwischen bemerkte ich ihn nicht mehr. Auch die Dinge, die ich hereinschleppte, verloren ihren Eigengeruch und nahmen ein Kellerbukett an. Mit Verfall kenne ich mich aus. Die Muskeln der Petranova würden schrumpfen. Verletzungen wären die Folge. Ich durchsuchte meine alten Theaterkontakte. Aber hinter ihrem Rücken mit jemandem zu sprechen kam mir wie Verrat vor. Aus dem Regal zerrte ich einen Ghettoblaster, an dem das Radio noch funktionierte. Ein Sender spielte Ravel. Im Sessel regte sich die Petranova und blinzelte unwirsch.

»Zeit, weiter zu üben«, sagte ich.

»Njet.«

»Aber die anderen sind fleißig.« Ich zeigte ihr ein Video, in dem ein Tänzer mit zwei Kindern auf dem Rücken Liegestütze machte. 

Sie stieß meine Hand mit dem Telefon fort. Immerhin waren ihre Arme noch kräftig. Ich riss die Decke von ihr herunter. 

»Was fällt Ihnen ein?« Die Petranova federte auf mich zu. Versuchte sie zu stampfen? Dafür war ihr Vogelkörper zu leicht. Ihre Haarspitzen flogen, statisch aufgeladen. Ich wich zurück, um keinen Schlag zu bekommen. 

»Wir werden nicht besser, wenn wir noch zehn Sit-ups dranhängen«, rief sie. »Wir brauchen vor allem –« Sie schlug sich gegen die Brust. 

»Ich will nur helfen«, sagte ich. 

»Können Sie nicht.« Schlapp winkte sie ab. Der Ausbruch schien sie mehr Kraft gekostet zu haben, als die zweiunddreißig Fouettés in Schwanensee. Reserven für eine Gemeinheit blieben ihr aber noch: »Sie können nicht mal altes Zeug in Stand setzen.«

Damit raffte die Petranova ihre Siebensachen zusammen und ging. Ich suchte Trost im Sessel, der noch warm war. Um den Zustand meines Ladens wusste ich Bescheid, Dankeschön. Hatte ich um Hilfe gebeten? Die gab es in Heimwerkervideos. Alles ließ sich reparieren und anzufangen war nicht das Problem, nur hakte es immer irgendwo. Das Ding vor mir sah nicht aus wie das Ding in der Anleitung. Ich müsste den Unterschied verstehen, Ersatzteile beschaffen und am nächsten Tag weitermachen. Doch manchmal glich schon der Weg zum Wasserkocher einem Marathon. Die Schwerkraft war mein Problem. Darum bewunderte ich Tänzerinnen. 

Kam die Petranova wieder? Oh ja. Mit fünfzig Euro in bar. »Das ist mehr als genug für den Kronleuchter!«

Ich verschränkte die Arme. »Bedaure, er ist unverkäuflich.«

Verächtlich zog sie die Mundwinkel herab. »Einundfünfzig?«

»Geben Sie eine Vorstellung.« Ich schlug mir gegen die Brust. »Aber keine Halbherzige!«

Sie zog die linke Schulter zum Ohr und beschrieb mit der Fußspitze einen Kreis. Ihr Körper schien zu denken. Sie verzog sich in den Sessel, mit der Vogue und ihrem Hauswein, den sie mit Wasser verdünnte. Letzteres deutete ich als gutes Zeichen. Und wirklich:

»Carmen«, sagte sie schließlich. »Machen Sie ein Bühnenbild.« 

Während sie mit angedeuteten Bewegungen die Choreografie durchging, hängte ich schwarzen Zeltboden an die Wand und dekorierte eine rote Markise darüber. Für den Zuschauerraum ordnete ich Drehstühle, Hocker und eine Bierbank zu zwei Reihen an und schob den Sessel mittig in die Dritte. Kaum saß ich Probe, erklangen die ersten Töne. Die Petranova stellte ihr Handy auf volle Lautstärke und begann ihren Solotanz mit Armbewegungen, die hektisch wirkten. Die Musik kam mir zu schnell vor. Hatte die Petranova die Geschwindigkeit erhöht, um früher fertig zu sein? 

»Das zählt nicht!«, rief ich.

Sie verdrehte die Augen und korrigierte das Tempo. 

Jetzt zeigte sie ihre Partie annähernd so, wie ich sie kannte. Die Petranova sprang und wirbelte, doch irgendwie verhalten, ein Teil von ihr schien immer noch zu schlafen. Ich beugte mich gespannt vor, um ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu zeigen. Ganz allein musste ich hunderte Zuschauer ersetzen. Ich wischte mir zitternd über die Augen wie eine gerührte alte Dame, ließ den Unterkiefer hängen wie ein verblüfftes Kind und pfiff sogar begeistert. Die Schritte der Petranova wurden raumgreifender. Ich spürte ihre Anstrengung. Doch der Fluss ihrer Bewegungen wurde von Untersicherheiten durchbrochen, ein Verfall wie bei alten Kassettendecks, die immer mehr Rauschen produzierten. Kehrte die Petranova ans Theater zurück, wäre sie nicht mehr die erste Tänzerin, vielleicht nicht einmal mehr Solistin sondern nur ein kleines Fragment im neuen Ballett. Konnte ihr Körper so rasch vergessen haben? Doch was wusste ich schon? Ich bewunderte nur, und nun nicht einmal mehr das.   

Enttäuscht rutschte ich im Sessel herunter. Die Hoffnungslosigkeit meines Ladens steckte an und hatte bisher noch jeden Kunden vergrault. Bis auf Heinz. Ich dachte an seine Bemerkung über die Bolschoi-Gala. Zuschauer wie er mussten der Alptraum jedes Ensembles sein. Mit seiner Liebste saß er in der ersten Reihe, der Abend sollte ja besonders werden. Ein Blick auf die Uhr. Zwei Feierabendbierchen hatte Heinz getrunken und rutschte auf seinem Sitz hin und her. Wann war Pause? Noch ein Blick zur Uhr. Heinz trug eine Smart Watch und das Display leuchtete verräterisch auf. 

Die Petranova fegte mit ihrem Fuß einen Nussknacker vom Dekotisch zu Boden. Ohne es zu merken, musste ich die Geste von Heinz nachvollzogen haben. Vor mir stemmte die Petranova die Fäuste in die Hüften. Aha? Ich konsultierte noch einmal meine imaginäre Uhr. Dazu gähnte ich ausgiebig. Die Petranova rollte über den Boden und sprang wieder auf. Jetzt war sie nicht mehr Carmen sondern Don José, gekränkt und wütend. Meine Kopfhaut kribbelte. Zwei Reihen Sitzmöbel bildeten einen dürftigen Schutzwall. Tapfer mimte ich weiter den unbeteiligten Heinz. Unter gesenkten Lidern wurde ich Zeuge eines Grand Jetés, leise gelandet wie eine Katze. Fließende Adagios folgten, kein Zögern, kein Wackeln, und zum Abschluss Pirouetten, die ich nicht zählen konnte. 

Nach meinem Applaus verbeugte die Petranova sich und wartete schwer atmend, bis ich den Strom ausgeschaltet hatte und den Kronleuchter vom Haken nahm. Ich wollte die Kabel eins nach dem anderen aus den Lüsterklemmen lösen, aber das ging ihr nicht schnell genug. Sie schob mich weg, riss sie heraus, hievte den Leuchter hoch und verließ mich grußlos. 

Als die Tür ins Schloss gefallen war, nahm ich den größten Schraubenzieher und schnitzte eine Kerbe in den hölzernen Fuß des Sessels. Ich hatte etwas repariert.

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