26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Stephanie Gerner

Das wird wieder so ein Tag

Gegen Sieben bin ich das erste Mal wach. Dreh mich hin und her, hab stechende Kopfschmerzen. Steh auf, tapse in die Kammer schräg hinter dem Bett, stelle mich vor das Schienen-Regal mit den Holzbrettern, das über den nebeneinander aufgereihten Kunstwerken hängt, greife nach dem Schuhkarton, wo die Medikamente drin sind, hole mir eine Schmerztablette aus der Packung raus, geh damit zurück zum Bett. Hocke mich auf die Kante, greife nach der Wasserflasche auf dem Boden und gieße das daneben stehende Glas voll, schlucke die Tablette runter und spüle nach. Lege mich wieder hin. Neben Simon, der gerade schnarcht.

Eigentlich sollte ich jetzt wach bleiben. Wenn ich jetzt aufstehe, dann schaffe ich es rechtzeitig zum Optiker um endlich einen Sehtest machen zu lassen. Da muss man nämlich morgens hin. Aber ich bin noch gar nicht richtig wach. Unvorstellbar, jetzt schon den Tag zu starten. Ich bin ja noch überhaupt nicht zurechnungsfähig, mit so wenigen Stunden Schlaf in petto. Die Tablette muss auch erst mal wirken.

Nein, das Aufstehen am Morgen ist nix für mich. War es nie. Mein Leben findet immer schon gut und gerne ohne Morgen statt.

Trotzdem, das ist ja kein Zustand mehr. Ständig brummt der Schädel, schwindelig ist mir auch viel zu oft und neuerdings sind meine Augen auch noch kontrastempfindlich. Seit Wochen geht das schon so, wenn nicht seit Monaten!

Liege erst auf dem Rücken, aber der hält das Liegen auf einer Stelle nie lange aus und so dreh ich mich schon bald wieder hin und her. Was, wenn es am Augendruck liegt? Vielleicht ist der erhöht, weil ich regelmäßig Bier trinke? Ist ja nicht gerade wenig Bier, was ich abends so trinke. Obwohl, richtig viel ist das jetzt auch nicht. Kommt drauf an, mit wem man redet. Für jemanden, der gar nix trinkt oder abends nur ein Glas Wein, für den wäre das viel. Aber wenn ich das, was ich trinke, mit dem Alkoholkonsum mancher Bekannter vergleiche, ist das gar nix. Aber halt auch nicht so wenig, dass man sich darüber keine Gedanken machen müsste. Das soll ja angeblich richtig schädlich für die Augen sein, das Alkoholtrinken. Das Lesen bei dämmrigen Licht auch und das Schreiben am Rechner sowieso. Tja. Gegen elf wache ich das zweite Mal auf. Ohne Kopfschmerzen. Dafür noch unruhiger als beim ersten Mal. Simon ist weg, bei der Arbeit.

Dieses Mal stehe ich sofort auf, suche die auf dem Boden verstreuten Klamotten zusammen, ziehe das verschwitzte Schlafshirt aus, Leggings, Longtop, Pullover an, haste auf den Flur, greife nach dem Kloschlüssel, öffne die Wohnungstür, geh barfuß die halbe Treppe runter, schließe die Tür vom Außenklo auf, zieh den Kopf ein und denke mir zum wiederholten Male, dass ich für so einen Scheiß inzwischen eigentlich echt zu alt bin.

Zurück in der Wohnung gehe ich in das Bad-Küche-Arbeitszimmer und freue mich über den von Simon ausgepressten Zitronensaft auf der Kommode. Nehme das Glas und lasse warmes Wasser hineinlaufen, trinke es in einem Zug leer und rülpse. Wird anscheinend basisch verstoffwechselt. Mach mir im Emailletopf Hafermilch für den am Abend vorbereiteten Espresso warm. Obwohl, eigentlich bin ich ja schon wach genug. Fast zu wach. Aber ohne Koffein geht’s halt auch nicht. Gehört einfach zum morgendlichen Ritual.

Schau auf die Uhr. Den Sehtest kann ich heute vergessen. Das schaff ich jetzt nicht mehr vor der Arbeit. Zum Laufen reicht´s auch nicht mehr. Aber zu viel Zeit ist es auch. Egal, krieg ich irgendwie schon rum. 

Setz mich mit meinem heißen Espressogetränk vor den Laptop. Lese ein bisschen Zeit online. Checke meine Mails. Hat natürlich wieder niemand geschrieben. Nur Spam. Nicht mal viel. Aufrufe zu Petitionen und eine DHL-Sendungsbenachrichtigung. Die Vitamin D-Kapseln sollen Ende der Woche endlich kommen. Das erste Paket ist nämlich im Aufruhr der Covid-Pandemie wie so viele andere verloren gegangen. Vielleicht klappt´s ja dieses Mal, wär schon gut.

Ich steh auf, hol das Heft mit den ausgerissenen Seiten und den losen Papieren, wo Simon und ich immer aufschreiben, wie viel Geld wir wo ausgegeben haben, logge mich erst in mein, dann in Simons Onlinebanking-Account ein und überprüfe. Mache Häkchen hinter manche der Zahlen auf den Blättern, also für die, die bereits vom Konto abgegangen sind und rechne. Seit über fünfzehn Jahren geht das jetzt schon so. Ständig dieses blöde Rumgerechne. Als ob das was ändern würde. Das Geld reicht immer hinten und vorne nicht und jeden Monat gerade so. Mal ist die Kreditkarte etwas heftiger belastet, wenn wir Glück haben, gar nicht, aber am Ende macht das, wenn ich ehrlich bin, auch keinen Unterschied. 

Früher haben wir gar keine Kreditkarte gehabt und noch viel weniger Geld als jetzt. Das darf ich nicht vergessen. Die ganzen vergeudeten Jahre der Jobcenter-Abhängigkeit. Obwohl, so vergeudet waren die gar nicht, da haben wir wenigstens noch Kunst gemacht. Oder zumindest mehr als heute. Deutlich mehr. Als der Lockdown stattfand, hab ich da wieder eine Idee von bekommen, wie das sein kann, ja, wie das mal war, wenn man Geld kriegt ohne zur Arbeit zu müssen. Dieses Mal war das mit Kurzarbeitergeld sogar mehr Geld als damals. Nicht viel mehr, aber doch schon spürbar. 

Da war ich eine Zeitlang ganz motiviert, wo alle schon rum 

gejammert haben, dass ihnen langweilig ist. Hab plötzlich nicht nur jeden Abend geschrieben, sondern sogar wieder fotografiert. Aber so richtig reingekommen bin ich da dann auch nicht. Erst war ich ganz euphorisch, hab die Fotos sogar ausgedruckt. Hab sie neben- und untereinander auf den Boden gelegt, bestimmt zwanzig Stück, jeweils kleiner als 9×13 und fand sie erst richtig gut. Dann haben sie mich gelangweilt. Hab zum wiederholten Mal gedacht, dass Fotografie einfach nicht als Kunstform funktioniert. Und allgemein nicht. Warum braucht man die Fotografie, wenn da doch ständig überall viel zu viele Bilder sind? Da guckt man dann von einem Bild zum andern, hin und her und ich weiß nicht, was das bringen soll. Also mir bringt das nix mehr. Ein Bild reicht doch. Aber da müsste man dann einen dicken Rahmen, oder noch besser, einen richtigen Kasten, drum herum bauen, damit man nur auf dieses eine Bild schaut und sich von nix ablenken lässt. Aber dann würden die Augen auch wieder nur von links nach rechts und von oben nach unten gucken, weil die ja gar nicht anders können. Die müssen immer was finden, bewerten und vergleichen. 

Und weil das nicht genug ist, hat das kommerzielle Kino sich jetzt auch noch diese Wackelstühle einfallen lassen. Das hat ja gerade noch gefehlt. „Sie fühlen sich von der Bilderflut überfordert? Dann überfordern wir Sie jetzt auf anderer Ebene gleich noch ein bisschen mehr!“ 

Vielleicht sollte man den Blick einfach nur starr geradeaus heften. Das können ja manche. Viele, sogar. Aber nein, das ist jetzt auch keine Lösung.

Ich guck auf die Uhr, typisch, jetzt bin ich auf einmal fast schon spät dran. Hektik oder Langeweile – wann hat das eigentlich angefangen?

Geh in die Küche, mach die mobile Dusche an. Schmier mir, während ich darauf warte, dass sie aufgeheizt wird, zwei Brote. Eins mit dem reduzierten Gouda vom Netto, eins mit Mozarella, Tomatenscheiben, drei frischen Basilikumblättern und Salz.

Stecke die zusammengeklappten Brote in eine Tupperdose, fülle meine kleine Plastikflasche mit Leitungswasser, packe alles, zusammen mit dem Buch, was ich gerade lese und was mir sonst noch einfällt, was ich bei der Arbeit brauchen könnte, in die Fahrradtasche. Ziehe mich aus, steige in die noch nicht völlig aufgeheizte Dusche neben dem großen Kühlschrank von Otto, den Simon und ich nach einem Jahr endlich abbezahlt haben und fluche erneut, dass da wieder mal kaum Wasser aus dem Duschkopf raus kommt. Immerhin ist das Wasser warm. Sogar richtig angenehm warm. Am liebsten würde ich ewig unter dem Duschkopf stehen bleiben. Aber das ist ja eh nicht möglich, spätestens nach zehn Minuten kommt kein warmes Wasser mehr. Hilft alles nix, ich muss mich beeilen.

Also raus aus der Dusche, abtrocknen, anziehen, die Spiegelscheibe auf die Armatur über dem Waschbecken stellen und die Kontaktlinsen rein machen. Haare föhnen, Creme ins Gesicht, Augen mit Kajal, Lidschatten und Wimperntusche schminken, Jacke anziehen, Helm auf, Fahrradtasche und Schlüssel greifen. Jetzt aber raus! Wohnungstür abschließen, hoffentlich hab ich nichts vergessen und dann runter zum Rad. Es regnet. Natürlich. Nicht viel, aber genug, dass es nervt. Greif in die linke Manteltasche, hol ein Stofftaschentuch raus, wisch damit den Sattel ab. Mach die Satteltasche an den Gepäckträger dran, schließe das Schloss auf und wickel es um dem Lenker. Schiebe das Rad aus dem Innenhof zur immer viel zu schweren Außentür, zieh die mit einem heftigen Ruck auf, stolpere kurz, manövriere mich und das Rad da raus, setz mich drauf und fahr los.

Es geht, mit dem Regen. Eigentlich stippelt es nur. Mal schauen, ob ich trocken im Laden ankomme. Ich hätte die Regenhose anziehen sollen. Aber die sieht echt scheiße aus. Ich hätte die nicht bestellt, wenn ich gewusst hätte, dass die glänzt. Mit der sehe ich aus wie so ein komisches Insekt. So was schwarz Glänzendes. Egal, die Regenhose zieh ich jetzt bestimmt nicht mehr an.

Fahr so vor mich hin, hyperaufmerksam wie eh und je und versuche den Lärm auszublenden. Hab wieder vergessen, mir was in die Ohren zu machen. Alles viel zu laut. Auch wenn´s viel leiser geworden ist in den letzten Wochen. Keine Flugzeuge mehr. Immerhin. Aber immer noch viel zu viele Autos. Und vor allem diese Scheiß SUVs. Was sind das, die neuen Raumschiffe der Besserverdiener? Die Fahrer davon kriegen jedenfalls nix mit. Sausen, während sie teils mit großen Augen ängstlich hinter der Windschutzscheibe kleben, viel zu schnell durch die Straßen und merken nicht, dass es Fahrradfahrer gibt. Die SUV-Fahrer sind die neuen Überirdischen. Obwohl, Autofahrer sind eigentlich immer schon eine ganz eigene Spezies. Direkt vom Fernsehsessel in die vor der Tür stehende Karre, Mucke, Handy und die Klimaanlage an, dann bleibt´s weiterhin schön gemütlich und der Rest kann gucken, wo er bleibt.

Da reg ich mich heute aber lieber nicht drüber auf. Denk ich mir, als gerade ein Autofahrer, keiner mit SUV, dafür aber mit BMW meint, spontan nach rechts auf den Fahrradweg auszuweichen, warum auch immer und mir einfach so in die Quere kommt. Zieh mit beiden Händen wie blöd die Bremsen an, gerade noch so und schrei dem Depp meine Wut in die Heckscheibe rein, was der natürlich nicht mal mitbekommt. Biegt an der Kreuzung dann nach rechts ab, als wenn es selbstverständlich wär und hat nix mitbekommen. Gar nix. Ich schrei dem kurz laut und erschrocken: „Du Arschloch!“, hinterher, versuch wieder runter zu kommen, nicht zu schnell zu fahren und merk schon, das wird wieder so ein Tag.

Endlich in Berlin Mitte beim Laden angekommen, schau ich kurz mit dem Rad neben mir zur Eingangstür rein. Meine Kollegin sieht mich, weiß Bescheid und macht die Hintertür für mich auf. Geh zum Nebeneingang, tipp den Code ein, schieb mein Rad durch den Flur in den Hinterhof, stell es neben die inzwischen geöffnete Mitarbeitertür, schließe es ab und geh rein. 

„Tach!“

„Tach.“

„Und, wie isses?“

„Joah, geht schon. Und selbst?“

„Super, alles spitzenmäßig. Läuft.“

Muss über´s ganze Gesicht grinsen während ich mir den Helm vom Kopf nehme, meine Jacke ausziehe, die Fahrradtasche neben die Klotür stelle und meine Maske aufsetze. 

„Und, wie war´s bislang?“

„Joah, ein paar Kunden warn schon da. Eher ruhig heute. Viel Beratung, wenig Verkäufe. Eine Familie hat immerhin gleich drei Paar Schuhe gekauft, dann gab´s allerdings noch ne Rekla. Insgesamt sind wir bei knapp 800 Umsatz bislang. Ausbaufähig sag ich mal.“

„Und das in einem der eigentlich umsatzstärksten Monate. An einem Freitag!“

„Yepp. Nich so geil.“

„Aber Montag war richtig gut, fast 2000.“

„Hab ich gesehen, aber dafür Samstag nur knapp über 1000; geht gar nicht.“

„Scheiße, das ist echt gar nix.“

„Nö. Normalerweise müssten das jetzt zwischen 3000 und 6000 sein. Bin da nicht besonders optimistisch, wenn ich ehrlich bin.“

„Ja, aber immerhin haben wir noch die Stammkunden und jeden Tag Umsatz, wenn auch nicht soviel. Andere verkaufen ja fast gar nix mehr.“

„Schon, aber wenn ich mir die Zahlen so ansehe und falls es einen zweiten Lockdown gibt… Da sehe ich schwarz. Ich hoffe ja, dass wir im schlimmsten aller Fälle wenigstens mehr Arbeitslosengeld kriegen als das jetzt mit Kurzarbeitergeld der Fall ist.“

„Hör auf, ich weiß kaum noch, wie ich meinen Alltag bestreiten soll. Vielleicht sollten wir ein Spendenglas auf den Tresen stellen: Für die armen – übrigens letzten drei – Mitarbeiter.“

Meine Kollegin lacht. Wir verabschieden uns und ich warte hinter dem Tresen auf Kunden. Guck so vor mich hin, guck nach draußen und denk, ich seh nicht recht. 

Steht da auf der anderen Straßenseite eine Stockente und guckt frontal zu mir rüber. Ich guck zurück und wir gucken uns ein paar Sekunden lang an. Dann dreht sie sich um und guckt ins Schaufenster hinter ihr. 

Sachen gibt’s…

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