26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Benjamin Stolz

Elena und Gregory

King’s Cross St. Pancras zu Mittag. U-Bahn-Luft bläst die Treppen hinauf, der Atem einer Stadt, warmes Plastik, Fast Food, Straßenstaub. Das Telefon klingelt aus meinem Blazer, als ich die Treppen hinuntersteige. Die Pfosten schwingen ihre Barrieren wie mechanische Engel. Als ich das Gerät in meinen Fingern halte ist es stumm. No reception. Auf der Rolltreppe stecke ich es zurück in die Innentasche. Die, die es eilig haben, gehen links vorbei. Abgewetzte Ledertaschen über Schultern hängend streifen die Passierten. Am Bahnsteig weht der Luftzug eines abfahrenden Zugs. Der nächste kommt in drei Minuten. „Where would you rather be now?“, fragt der Schriftzug einer Reklametafel. Im Hintergrund eine einfache Collage: volles Büro, leerer Strand. Die wartenden Menschen kauen Brote, lesen Zeitungen, wischen Bildschirme, jedes Augenpaar auf Hände fixiert. Eine Frau hat im Getümmel den Kopf erhoben und sieht mich an. Ich blicke weg und lese Reklamen. Als die nächste Bahn einfährt, spüre ich eine Hand an meiner Schulter. „Ich bin’s. Kennst du mich nicht mehr?“, fragt die Frau. Ich schüttele den Kopf. „‚Einführung in die Ökonomie‘, ist schon Jahre her.“ Wir ziehen uns aus der Menge in den weiß gefliesten Gang zurück. Die Frau stellt sich als Elena vor. Der Name und die leicht stoßende Kopfbewegung nach vorne wecken meine Erinnerung an einen der neonlichtdurchfluteten Klassenräume der University of *, in denen es an regnerischen Winternachmittagen schon kurz nach Mittag dämmert. Elena schlägt vor, einen schnellen Kaffee trinken zu gehen. Ich habe Zeit. Auf dem Weg nach draußen taste ich kurz nach meinem Handy, nehme es aber nicht aus der Tasche. Wir überqueren eine Kreuzung und spazieren eine Seitenstraße entlang. An einem Eckhaus leuchtet das Schild einer Kaffeehaus-Kette. Wir stellen uns in die Schlange. An der Fensterfront gibt es noch drei freie Plätze. Die meisten Kunden nehmen ihren Lunch mit. Elena erzählt, wie sie nach dem ersten Semester Betriebswirtschaft zu Kunstgeschichte gewechselt hatte, wie ihr auch dieses Studium nicht wirklich gefiel, sie aber trotzdem weitermachte, um ihren Eltern nicht noch mehr finanzielle Misere zu bereiten. Nach zwei Semestern wusste sie, dass sie Schriftstellerin werden wollte, nicht Kunsthistorikerin. Sie hatte in mehreren Uni-Zeitschriften Gedichte veröffentlicht, jobbte aber nebenher immer als Übersetzerin für das örtliche Institut für germanistische Philologie, das billige Arbeitskräfte für die Übertragung von vergessenen deutschen Romanen aus dem Wilhelminischen Kaiserreich brauchte. 

Der junge Mann am Tresen stellt die beiden Kaffeebecher auf ein silbernes Tablett. Elena unterbricht sich, bestellt noch ein Mandelcroissant dazu. „Möchtest du auch eines?“, fragt sie. Ich habe schon gegessen, verneine ich. Mit einem verlegenen Blick nimmt Elena ihr Tablett und geht auf die freien Plätze am Fenster zu. „Erzähl mir von dir!“, sagt sie plötzlich, beißt in ihr Gebäckstück, nimmt einen Schluck Kaffee und blickt mich kauend an. Ich erzähle ihr, wie ich die drei Jahre bei Wirtschaft geblieben, nach dem Abschlussprogramm für einen Master nach Wien zurückgekehrt war. Der Nebenjob in einer großen Controlling-Firma nahm irgendwann Überhand, sodass der Abschluss zugunsten einer Doppelstelle zwischen Wien und London auf unbestimmte Zeit warten musste. Die ständigen Aufenthalte in England hatten mir so lange gefallen, bis ich meinen jetzigen Partner in Österreich kennenlernte und einen Sohn bekam, um den er sich hauptsächlich kümmerte. 

„Das finde ich toll“, sagt Elena laut und enthusiastisch. Elena wechselt das Thema und meint, dass sie erst vor drei Wochen hierhergezogen ist, auf die Couch einer ehemaligen Kommilitonin. Bis zur Trennung von Gregory hatte sie in einer kleinen Kommunikationsagentur gearbeitet und hauptsächlich Broschüren übersetzt. Sie dachte, dass diese Trennung einen Schlussstrich, zumindest das Ende eines Lebensabschnitts darstellen sollte. Deshalb war sie nicht nur aus der etwas schäbigen Wohnung im schäbigen Salford gezogen, sondern hatte auch in der Agentur gekündigt. In der Arbeitsstelle hatte man ihr den Mut, es in der Hauptstadt als Schriftstellerin zu versuchen, hoch angerechnet, die Trennung mit Greg verlief nicht so glatt. Elena nahm ihren Kaffeebecher, richtete sich am unbequemen Hocker auf und blickte auf die Straße, die im gelben Nachmittagslicht schimmerte. Ich frage sie, ob sie erzählen möchte, was passiert ist. Elena lacht hektisch auf. Es sei schon komisch, mit einer fast fremden Person aus einem anderen Leben hier in London in einem Café zu sitzen und sich Lebensgeschichten zu erzählen. Immerhin hätte ich sie in Pancrass fast gar nicht erkannt. Ich möchte antworten, als sie plötzlich von selbst fortfährt. Sie schaut zum Fenster hinaus, während sie erzählt. Gregory war ein Polizist, ein richtiger Copper aus dem Norden, wie man sie sich eben vorstellte. Nach ihrem Bachelor’s Degree hatte Elena eigentlich genug gehabt von England. Was immer sie sich und ihren Eltern beweisen wollte, hatte sie geschafft, doch glücklich war sie nicht und von ihrem eigentlichen, damals so gut wie vergessenen Ziel meilenweit entfernt. Als sie den Flieger nach Hause schon gebucht und ihre Bücher schon in Umzugskartons verstaut hatte, lernte sie auf einer Bushaltestelle Gregory kennen. Direkt hinter ihr in der Schlange half er ihr aus, weil sie kein Kleingeld mehr dabeihatte. Er fragte, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Nach dem dritten Date waren sie ein Paar, nach drei Wochen stellte er sie seiner Familie vor. An den gebuchten Flug dachte sie nicht einmal mehr. Als sie zu ihm zog, bekam sie die Stelle in der Agentur. Die Monate vergingen, das Leben mit Greg war einfach und gut. Dann war es plötzlich Februar und sie schon mehrere Wochen drüber. Als die fünf Schnelltests, die sie sich heimlich an einem frühen Abend gekauft hatte, positiv waren, legte sie sich hin. Greg hatte Nachtschicht und würde erst um sieben Uhr morgens zurückkommen. Sie hatten zwar noch nie wirklich darüber gesprochen, doch sie spürte, sie wusste, dass es das war, was er wollte. Sie schlief in dieser Nacht keine Sekunde, brachte es nicht übers Herz, Greg anzurufen. Die Sache war zu wichtig fürs Telefon. Sie stand stundenlang am Fenster, die Hände auf die Fensterbank gestützt. Sie stellte sich vor, dass sie das ganze Fenster, die ganze Mauer darunter, einfach wegschieben konnte, runter auf die nieselregennasse Straße. Gegen fünf Uhr legte sie sich auf die Couch im Wohnzimmer, damit sie sofort aufwachen würde, wenn Greg nach Hause kam. Sie starrte an die Decke, über die die Reflexionen von wenigen, geisterhaft vorbeihuschenden Autoscheinwerfern tanzten, und sah Paris. Sie dachte an einen Moment der Reise, die sich nach dem Abitur mit einer Freundin zusammen unternommen hatte, der ihr bis heute klar in Erinnerung geblieben war. Sie saßen in einem Café, das ihre Freundin Claire im Reiseführer entdeckt hatte, in dem früher Gertrude Stein, Hemingway, Fitzgerald geschrieben und getrunken hatten. Sie saßen sich auf einem Zweiertisch an der Wand gegenüber. Elena beobachtete eine junge Frau, die allein auf einem der Tische saß – vor ihr die eng beschriebene Doppelseite eines Notizbuchs, daneben ein Glas Wasser. Sie trug eine runde Metallbrille, eine Strähne fiel in ihr konzentriertes Gesicht. Auf ihrem Cardigan war ein weißer Farbfleck. Die schreibende Frau blickte nicht einmal auf, obwohl Elena den Blickkontakt suchte. Diese schreibende Frau von damals sah sie auf der Decke in aller Klarheit. Sie versuchte, sich selbst mit einem Kind vorzustellen, versuchte, sich die schreibende Frau mit einem Kind vorzustellen, doch das Café in Paris mit Notizblock, Wasserglas und Farbfleck war alles, woran sie denken konnte. Als sie Schritte im Haus hörte und Gregory plötzlich im Wohnzimmer stand, seinen Rucksack auf den Boden warf und sich zu ihr legte, konnte sie es ihm nicht sagen. I couldn’t sleep, love. 

Elena nimmt einen Schluck vom fast leeren Kaffeebecher, drückt seine Ränder leicht zusammen. „Alles, woran ich dachte, was ich sah, war die Frau in dem Kaffee und dass mit einem Kind alle meine Träume vorbei sein würden“, fährt sie fort. Zwei Tage später nahm sie sich einen Notfall-Termin bei ihrer Frauenärztin. Sie wollte sich einreden, dass sie sich erst einmal nur untersuchen lassen wollte, doch im Nachhinein hatte sie ihre Entscheidung schon getroffen. Im Wartezimmer saßen zwei Paare. Die einen waren vielleicht Anfang zwanzig; ein Kinderwagen stand zwischen ihnen, aus dem ein Baby schmatzte. Beim anderen Paar durfte sie Mitte dreißig, er mindestens schon Mitte vierzig gewesen sein. Er streichelte ihre Schulter, sie starrte auf den Boden. Sie verließ die Ärztin mit einem Termin für eine Klinik in Kensington. Die ganzen zwei Wochen bis zum Termin konnte sie Greg nichts sagen und so wie er war, ahnte er auch nichts. Als sie die kleine Privatklinik betrat war sie sogar froh, dass sie allein hergekommen war. Die Ärzte waren freundlich, das Wartezimmer hell, aus den Ecken tönte leise klassische Musik. Greg dachte, sie hätte einen größeren Termin beim Zahnarzt. Der Eingriff nahm sie mehr mit als sie erwartet hatte. Tagelang fühlte sie sich elend. Greg brachte ihr Ibuprofen, Tees, machte ihr Wärmflaschen – er kümmerte sich um sie, die die Narkose der Wurzelbehandlung nicht vertragen hatte. Wenn nicht eines Tages die Rechnung für die Behandlung im Postkasten gelegen hätte, wäre Greg vielleicht niemals draufgekommen, was geschehen war. „Was ist dann passiert?“, frage ich. „Er hielt mir den Brief vor die Nase, dachte, das sei ein Irrtum. Ich sagte ‚nein‘. Er erstarrte, seine Hand schloss sich so fest um den Brief, dass das Papier zerriss. Ich glaube, er merkte es nicht einmal. Seine Augen wurden feucht und er sagte nur: ‚Geh‘“. „Bist du gegangen?“ „Ja“. 

Von einem Tag auf den nächsten musste Elena in das Haus einer Freundin ziehen, das diese seit ihrer Studienzeit bewohnte. Als sie zwei Tage später die restlichen Sachen aus Gregs Wohnung holen wollte, war das Schloss getauscht. Elena nahm eine Woche Urlaub, blieb die meiste Zeit auf der Couch und dachte darüber nach, was geschehen war. Sie kam zu keinem Schluss. Ihr wurde bewusst, dass es zwischen Greg und ihr eine Grenze gab, die ihr niemals aufgefallen, die möglicherweise aber die ganze Zeit da gewesen war. Sie hatten die ganze Zeit ihrer Beziehung über Zäune geschrien, Hände durch Gitterstablücken gesteckt. Dass Greg auf diese Art reagiert hatte, tat ihr weh und bestärkte sie in ihrem Entschluss. Sonst bereute sie nichts. „Warum sollte ich?“, sagt Elena. Das Telefon in meinem Blazer klingelt erneut. Ich bleibe ruhig sitzen. „Geh nur ran, ich habe dich zu lange aufgehalten“, stößt Elena mit einem hektischen Lachen hervor. Ich verneine und sage, ich habe heute nichts mehr vor. Ich frage sie, wie es ihr bisher in London ergangen war. Elenas Mine erhellt sich ein wenig und sie erzählt, dass sie heute Abend mit dem Freund einer Bekannten auf einen Drink gehe, der eine kleine Literaturzeitschrift editiert. Sie habe ihm schon letzte Woche eine Handvoll Gedichte geschickt, die er für gut befunden hätte. Er meinte, er wolle sie kennenlernen. „Das klingt ja großartig“, sage ich ihr. Elena nickt und hält einen Moment inne. „Manchmal vermisse ich ihn, weißt du?“, sie faltet den leeren Kaffeebecher auf dem Tablett, „aber ich sehe immer noch die Frau in dem Café. Ich habe das Gefühl, dass wir jetzt vielleicht Blickkontakt hätten“. Elena starrt auf ihre Hände und wischt geistesabwesend Krümel vom Tisch. Unser Gespräch verebbt und Elena will „langsam aufbrechen“. Sie habe sich gefreut, mich getroffen zu haben. Mit einem Kugelschreiber, den sie aus ihrer Manteltasche zieht, kritzelt sie ihre Nummer auf eine Serviette. Ich solle mich doch einmal melden auf einen Drink oder so. Draußen hat es angefangen zu regnen. Elena hat ihren Schirm vergessen und drängt sich unter meinen. An der nächsten Kreuzung verabschieden wir uns. Ich blicke ihr nach und versuche mir die Frau im Pariser Café vorzustellen, die sie gesehen hat. An der nächsten Straßenecke biegt Elena, ihren Mantel über den Kopf gezogen, zackig um. Ein farbiger Zipfel des Mantels lugt noch kurz hinter der Ziegelmauer hervor. Mein Telefon klingelt wieder. Es ist Paul. Während ich zurück zu St. Pancrass gehe erzählt er mir, dass unser Sohn einen Fahrradunfall hatte. Es gehe ihm gut, er habe nur eine leichte Gehirnerschütterung und ich solle mir keine Sorgen machen. Als ich die Treppe runtergehe fragt mich Paul, wie es mir geht. Ich habe eine alte Freundin getroffen, erzähle ich ihm. Wir hatten seit dem ersten Semester auf der Uni keinen Kontakt mehr gehabt. Plötzlich ist die Verbindung unterbrochen. Ich stecke das Telefon zurück in meine Innentasche. King’s Cross St. Pancras am späten Nachmittag, am frühen Abend. U-Bahn-Luft bläst die Treppen herauf, lose Zeitungsblätter, der Geruch von durchschwitzten Anzügen, Rußpartikeln, Menschen. Die wartenden Menschen am Bahnsteig wischen Bildschirme, lesen Zeitungen, jedes Augenpaar auf Hände fixiert. Eine junge Frau hat im Getümmel dem Kopf erhoben und sieht mich an. 

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