26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Vanessa Schweitzer

Geräuschfragmente

Ich habe dich schon gehört, da warst du noch gar nicht einzogen in dieses Haus voller Studenten, Pendler und Einsiedler. 

Bei dir fing es mit Bohrarbeiten in der Wohnung über mir an, mit den Stahlkappenstiefeln der Handwerker, deren Schritte durch das Treppenhaus hallten, und dem Geruch des Betonstaubs in der Luft. Während ich auf dem Klo saß, hörte ich über mir die Fliesen von der Wand fallen. Eine nach der anderen. Nach zwei Wochen herrschte wieder Stille. 

Deinen Einzug verpasse ich. Du bist irgendwann einfach da. Wenn ich mir morgens meinen Kaffee koche, kann ich dich über mir in deiner Küche herumhantieren hören. Porzellan, das auf Porzellan schlägt. Ich stelle mir vor, wie du noch nach einer Tasse in deinen Schränken suchst, während ich bereits den ersten Schluck meines Kaffees trinke. 

Mittags höre ich deine Stimme. Vielleicht telefonierst du mit jemanden, vielleicht führst du Selbstgespräche. Ich verstehe die einzelnen Worte nicht, aber du hast eine dieser seltenen Stimmen, die jedem Wort eine Bedeutung zumessen, tief und rau. 

Wenn ich abends ins Badezimmer gehe, um zu duschen, höre ich bereits das Wasser von oben die Rohre hinablaufen. Verkrieche ich mich danach in meinem Bademantel eingewickelt mit einem Buch ins Bett, höre ich über mir leise deinen Fernseher laufen. 

Es ist ein Sonntagmorgen, als ich dich das erste Mal Klavier spielen höre. Ich stehe rauchend auf meinem Balkon. Ich stelle mir vor, wie du deine Balkontür geöffnet hast, um die kühle Luft des Morgens einzufangen, nur um deine Musik hinauszutragen. Ich frage mich, ob es ein Zeichen von Mut oder Arroganz ist, an einem Sonntagmorgen, der nur gut genug zum Ausschlafen und Auskatern ist, Klavier zu spielen. Ich stelle mir vor, wie deine Finger über die Tasten gleiten, dieses Staccato der Töne erzeugen und du dir mit einer Hand verschwitzte Strähnen aus der Stirn streichst. Etwas Arroganz steht dir. Ich muss lächeln, drücke meine Zigarette im Aschenbecher aus und kehre in meine Wohnung zurück. Die Balkontür lasse ich offen. 

Die Sonne verschwindet gerade zwischen den Dächern und ich sitze mit Marie und David auf meinem Balkon. Marie erzählt von ihrem letzten Tinderdate, während sie sich Wein nachschenkt. David reicht den Joint an mich weiter, schaut mich mit diesem einen Blick an und ich weiß, dass ich heute Nacht nicht alleine schlafen werde. 

Ich schaue dem Rauch zu, wie er nach oben steigt. Ich frage mich, ob dich der Grasgeruch stört, als ich ein Knarksen höre. Marie und David lachen über oberkörperfreie Spiegelselfies, doch ich verziehe nur meinen Mund und horche. Da ist wieder dieses Knarksen. Ich bin mir sicher, dass du dort oben auf deinem Balkon sitzt. Marie nimmt den Joint von mir entgegen und ich lehne mich in meinem Stuhl zurück. Ich würde gerne wissen, was du denkst. Über uns Studenten, die wir hier mit Weingläsern in der Hand Gras rauchend sitzen und über männliche Unsicherheiten lachen. Ein wandelndes Klischee. Aber andererseits sitzt du dort oben über uns statt in deiner Wohnung, wo du uns nicht hören musst. 

Es ist eine dieser Nächte in denen ich mich über die Toilettenschüssel gebeugt übergebe, weil der letzte Melonenschnaps wohl einer zu viel gewesen war. Meinen Kopf an die Badezimmerfliesen gelehnt, sitze ich da und bemitleide meine eigene Dummheit, nur um deine Toilettenspülung über mir zu hören. In diesem Moment denke ich, dass ich noch nicht mal ohne Publikum kotzen kann. 

Aber dann schließe ich meine Augen und stelle mir vor, wie du dich neben mich setzt, Schulter an Schulter, dein Knie an meins gelehnt. Wie du mit sorgenvollem Blick deine Hand hebst und meine Stirn befühlst. Deine Hand ist kalt wie die Fliesen in meinem Rücken. 

Ich weiß genau, ab wann du eine Freundin hast. Das Treppenhaus trägt ihr hohes Lachen durch das ganze Haus. Durch deine Freundin lerne ich, dass ich oberflächlich genug bin, um einen fremden Menschen nur aufgrund seines Lachens nicht zu mögen. Deine Freundin lacht, wie ein Pferd auf Koks. 

Ich höre das dumpfe Bumpern ihrer Schritte, wenn sie zuerst mit ihren Fersen auftritt. Höre eure Stimmen, wie ihr zusammen in der Küche steht und euch unterhaltet. Ich stelle mir vor, wie sie vorschlägt, Zucchininudeln mit Tofu zu kochen. Wie du deine Stirn erst runzelst, damit sie dir dann einen Vortrag über gesunde Ernährung hält, bis du nachgibst.

Ich höre sie über mir nach einem Handtuch schreien, während ich mir im Badezimmer die Zähne putze. Ihr langgezogenes Baby hallt durch die Rohre und beschert mir eine Gänsehaut. Ich spucke die Zahnpasta in das Waschbecken und verfluche erst deine Freundin und dann dich. Du warst es schließlich, der ihre Stimme in meine Wohnung gebracht hat. 

Ich höre nachts ihr Stöhnen gefolgt von deinem. Wobei ich mir sicher bin, dass nicht nur ich euch höre. Was mich darüber nachdenken lässt, ob man David und mich hört, da ich sonst niemanden höre. Und dann mache ich mir Gedanken um das Sexleben meiner anderen Nachbarn und da sind Gestalten dabei, die will man sich nicht beim Sex vorstellen. Aber dich, dich stelle ich mir gerne beim Sex vor. Ich stelle mir vor, wie dein Gesicht im Dunkeln liegt, wie ich mit meinen Fingern über deine Arme streiche. Mit einer Hand greife ich in dein Haar, halte dich fest, während meine andere Hand zwischen meine Beine gleitet. Ich höre uns beide stöhnen.

Erst stand ich in der Küche und habe dich über mir gehört, jetzt stehe ich in der Küche und warte darauf, bis ich das Gurgeln deiner Kaffeemaschine höre. Ich warte auf das Rauschen des Wasserhahns in deinem Badezimmer und das herablaufende Duschwasser in den Rohren, warte auf deine Schritte im Treppenhaus. 

Du lässt mich wie eine Oma vom Dorf wirken, die den ganzen Tag mit ihrer Nase an der Fensterscheibe klebt und die Radieschen ihrer Nachbarn zählt.

Ich weiß, ich sollte mich schämen, aber ich kann nicht anders. Wenn ich Schritte im Treppenhaus höre, horche ich auf, ob es deine sind. Nur um auf die Bestätigung durch das Einstecken des Schlüssels in der Wohnungstür über mir zu warten. Eine Bestätigung, die ich nicht brauche, weil ich genau weiß, dass es deine Schritte sind. Dumpf mit leichter Verzögerung, wenn du nach oben gehst. Hastig und laut, wenn du hinunter gehst. Oft begleitet von einem hohen Pfeifen, dessen Melodie durch das Treppenhaus schallt. 

Es gibt diese Momente, in denen ich mit anderen in Maries WG-Küche sitze, wir den Wein eines Mitbewohners trinken und mich Marie fragt, wie ich es aushalte alleine zu wohnen. Sie schwenkt ihr Weinglas dabei, wie in einem französischen Straßencafé. 

Dann nippe ich an meinem Wein und sage, dass es Vorteile hat alleine zu wohnen, was David grinsen lässt. Doch dabei denke ich an dich. An dich und mich, wie wir beide auf unseren Balkonen sitzen. Wie ich vor meinem Laptop sitze und vorgebe, zu lernen, nur um dem Klicken deiner Tastatur zu lauschen, deinem gelegentlichen Aufseufzen. Du weißt es nicht, aber dieses Seufzen bringt meine Haut zum Kribbeln. 

Ich frage mich, was du machst an diesem späten Donnerstagabend, ob du spülend in der Küche stehst oder mit deiner Freundin den Abend im Bett verbringst. Ich glaube, ich sähe dich lieber mit Seifenschaum an den Händen.

Ich sitze an meinem Schreibtisch. Meine Lehrbücher und Karteikarten liegen vor mir, doch ich starre aus dem Fenster. Es ist Mittwochnachmittag und ich höre, wie du deine Wohnung staubsaugst. Ein lautes Dröhnen, unterbrochen von gelegentlichen stumpfen Schlägen. Ich weiß, wenn ich mit meinen Fingern unten an deinen Tischbeinen und Schränken entlangfahren würde, könnte ich die Kerben im Holz fühlen. 

Ich frage mich, warum gerade du? Warum nicht der Typ von unten mit seiner Technomusik oder die Frau mit den Absatzschuhen? Ich weiß nicht, was an dir so besonders ist. Du hörst Haftbefehl, während du putzt. Das sollte dich verachtenswert machen. Stattdessen stelle ich mir vor, wie wir beide die Musik aufdrehen und durch deine Wohnung tanzen. 

Ich mochte die Anonymität in unserem Haus immer, dieses namenslose Zunicken. Aber manchmal, wenn ich jemanden im Treppenhaus grüße, würde ich gerne fragen, ob du es bist. Ich würde sagen, dass ich deinen Namen nicht kenne, aber weiß, dass du sonntagsfrüh gerne Klavier spielst und wie dein Stöhnen beim Sex klingt. Und du würdest so etwas sagen, wie dass du meinen Namen nicht kennst, aber weißt, wie ich klinge, wenn ich mich nachts im Bad übergebe. Daraufhin würde ich lachen und auch ein bisschen erröten. 

Und manchmal stehe ich morgens mit der Stirn an meine Wohnungstür gelehnt da und warte. Warte auf dich, wie du deine Wohnungstür aufschließt und die Treppen hinunterhastet. Diese Möglichkeit meine Tür zu öffnen, nur einen Spalt, um einen Blick auf dich zu erhaschen. 

Ich frage mich, was sich ändern würde, wenn ich wüsste, wie du heißt und wie du aussiehst. Wenn ich wüsste, dass du ein Christian mit braunen Haaren, dunklen Augen und zerschlissenen Jeans bist oder ein blonder Alex mit weißem T-Shirt und Hipsterbrille. 

Aber wenn ich deine Schritte dann höre, bewege ich mich nicht. Denn eigentlich brauche ich deinen Namen nicht zu kennen, muss nicht wissen, wie du aussiehst, um dich zu hören. 

Durch dich werde ich meiner eigenen Geräusche bewusst. Deine Angewohnheit die Wohnungstür mit einem Knall zuzuziehen, lässt mich meine Wohnungstür umso behutsamer schließen. Das Aneinanderstoßen der Teller, wenn ich abspüle, das Schleifen meiner Schubladen, das Rascheln meines Duschvorhangs. Ich frage mich, ob du es hörst, wenn ich mir erst gegen mittags die Zähne putze, weil der Abend zuvor Mal wieder zu lang war. 

Als die Scharniere meiner Balkontür anfangen zu quietschen, ignoriere ich das Geräusch, damit ich beim Öffnen und Schließen darüber nachdenken kann, ob du das hörst und dich das stört. Ich stelle mir vor, wie du über mir auf deinem Bett sitzt und dich über das Quietschen aufregst, wie ich mich über das Lachen deiner Freundin. Ich öle die Scharniere sehr lange nicht.

Ich höre dich und deine Freundin auf dem Balkon reden, höre das Klappern eures Bestecks auf den Tellern, während ich unter euch im Dunkeln sitze. Ich halte meine Zigarette und das Feuerzeug bereits in den Händen, doch ich warte mit dem Anzünden, verfolge eure Diskussion über die neuen Star Wars Filme. Ich höre, wie du dich in Rage redest. Ich stelle mir vor, wie du mit deinen Händen in der Luft gestikulierst und deine Lippen mit der Zunge befeuchtest. Du sagst, dass J. J. Abrams und Rian Johnson so viel nicht verstanden haben, dass Johnson Abrams Vision mit seinem Film annulliert hat, nur damit Abrams im letzten Teil von vorne anfangen konnte, nichts Halbes und schon gar nichts Ganzes und ich würde dir am liebsten Beifall klatschen. Als deine Freundin daraufhin meint, dass diese kleinen Pinguine aber so süß seien, zünde ich meine Zigarette an. 

In der Waschküche schreite ich die Wäscheständer ab. Ich sage mir, dass du nicht der Typ für Radlerhosen und Feinrippunterhemden bist, auch nicht für Kleider, Röcke oder Blusen. Ich bleibe bei karierten Boxershorts und Kapuzenpullover stehen. Ich stelle mir vor, wie du morgens auf deinen Balkon trittst, die Kapuze deines Pullovers überziehst und die Unterarme auf das Geländer stützt. Nur um fröstelnd deine Arme, um dich zu schlingen, überrascht von der morgendlichen Kälte. Der Stoff deines weinroten Pullovers fühlt sich weich an, als ich über den Ärmel streiche. Ich kann dein Waschmittel riechen. Bevor ich wirklich darüber nachdenken kann, halte ich deinen Pullover in meinen Händen. 

Als ich meine frische Wäsche in den Kleiderschrank einsortiere, sehe ich deinen Pullover zwischen meinen T-Shirts im Wäschekorb liegen. Mir kommt der Gedanke ihn zurückzubringen, aber nur kurz. Ich sage mir, dass jeder Mal einen schwachen Moment hat. Dein Pullover hängt jetzt in meinem Kleiderschrank. 

Mitten in der Nacht liegen David und ich nebeneinander im Bett, lauschen auf die Worte, die zwischen dir und deiner Freundin hin und her fliegen, ausgesprochene Splitter eurer Wut. 

„Den letzten Satz habe ich jetzt nicht genau verstanden“, flüstert David. 

Ich höre, wie das Schluchzen und Aufschreien deiner Freundin immer lauter werden, während deine Stimme immer leiser wird. Ich stelle mir vor, wie du vor ihr stehst, deine Hände unter den Achseln eingeklemmt und mit zusammen gepresstem Kiefer überall hin schaust nur nicht in ihre Augen. Ich frage mich, was du angestellt hast und habe Mitleid mit deiner Freundin, die ich doch eigentlich gar nicht leiden kann. 

Als ich am nächsten Morgen das Pferdelachen deiner Freundin höre, blicke ich David über die Kaffeetasse hinweg an und atme erleichtert auf.

Letztlich stehe ich wie die Oma, die ich nie sein wollte, am Fenster. Es ist der Tag deines Auszugs. Du hast nur zwei Tage gebraucht, um deine Wohnung leer zu räumen. Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. 

Jedoch weiß ich jetzt nach anderthalb Jahren, wie du aussiehst. Du bist ziemlich groß, hast braune Haare und ein schmales Kinn. Dazu trägst du Jeans mit einem dunkelblauen Kapuzenpullover.

Du stehst bereits an der Fahrertür des Autos, doch statt einzusteigen, hebst du deinen Kopf und schaust hoch zu meinem Fenster. Ich frage mich gerade, ob du mich sehen kannst und ich dir zunicken, vielleicht sogar winken soll, als du einsteigst. Der Motor deines wegfahrenden Autos ist das letzte, was ich von dir höre.

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