26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Andrea Franke

Nestbeschmutzer

Nun ist endlich eine Hälfte der Familie tot, die Eltern, die den Bruder, die Schwestern und ihn selbst gezeugt, geboren, erzogen, hin und wieder mit dem Teppichklopfer aus ineinander verschlungenen Weidenzweigen gezüchtigt, im Kohlenkeller eingesperrt, herausgelockt, manchmal unerwartet gelobt, dann mit unerbittlicher Konsequenz ignoriert hatten. Sein Vater starb schon vor drei Jahrzehnten, an einem Lungenemphysem, einer degenerativen Erkrankung, die die Lungenbläschen sich verbinden, die Oberfläche der Lunge sich kontinuierlich verkleinern, das Herz sich vergrößern und den Atem pfeifen lässt. Seine letzten Tage verbrachte er röchelnd und durchgelegen auf der Dreifachfederkernmatratze im Ehebett sich schwerfällig wälzend, sich einnässend, mit blauer werdenden, durch die Jahrzehnte ihre Fettpolster verlorenen habenden, schmaler gewordenen Lippen, lag er damals mit offenem Mund und halboffenen, erloschenen Augen auf dem Daunenkissen, sein Körper post mortem nach und nach gelblicher, kälter und dann wächsern werdend, bevor der Bestatter kam und die so offensichtlichen so erbarmungslosen Zeichen des Todes mit einer Mullbinde, die er vertikal um des Vaters Kopf wand, um den Kiefer zu verschließen sowie einem schnellen Makeup verdeckte. Nun Mutter. Die letzten Tage verbrachte sie, immer die gleichen Geschichten erzählend, im Wechsel fröhlich und hysterisch weinend in der Unfallklinik, in die sie, nach einem Sturz im Flur auf den Fliesenboden eingeliefert worden war, auberginefarben im Gesicht, die Hämatome durch die Blutverdünner, die sie nahm, entstanden, „Macumar“, das die Kriegsgeneration umbringt, da bei jedem Sturz der Greise deren Kapillaren perforiert werden und viele feine innere Blutungen zum Exitus führen können, erklärt die Nächstältere, die als Erste mit ihrem stets gesaugten und polierten Alfa Romeo Guilietta die Einfahrt blockiert sowie den größten Teil des Erbes für sich in Anspruch nehmen wird, was er zu dem Zeitpunkt seiner Ankunft noch nicht weiß, allerdings erwartet. Als ungeplanter Jüngster, er entstand aus einem verunglückten Coitus interruptus, wie sein Vater nicht müde wurde, zu erzählen, parkt er in einer Seitenstraße seine crèmefarbene Ente – Deux Cheveaux, die er pflegt wie eine Angehörige, der er vertraut, auf die er bauen kann, in die er sich einzufühlen vermag, deren Atmen und Antrieb er übersetzen kann und deren Schmerzen er versteht, eine exakte Diametrale zu seiner Empathiefähigkeit seine Ursprungsfamilie betreffend.  Beide Schwestern sind bereits da, pünktlicher, verbundener, näher am Stamm, an den Werten der Altvorderen, die Lessing zitierten, dass „der beste Beweis einer guten Erziehung die Pünktlichkeit“ sei, so dass sein Habitus ein gewohnheitsmäßiges Zuspätkommen wurde, vordergründig selbstbewusst, mit erhobenen Kinn, so konnte er, immer, wenn Autoritäten präsent waren, vermeintlich, durch die Aufmerksamkeit des Anfangs, die Oberhand gewinnen, die er in seinen jungen Jahren niemals hatte und gegen seine Geschwistern in letzter Konsequenz immer wieder verlor, denn jene waren alle wichtiger, kränker, bedürftiger, vielleicht konsequenter leistungsfähig, strebsamer, sehr viel eher an der elterlichen Rückmeldung interessiert, deren Erlaubnis für all ihre Vorhaben einholend, auf sie reagierend und folgsam, einem Magnetismus unterworfen, den er beobachtet hatte, aber nicht selbst spürte, rein physikalisch waren die Kräfte zwischen seinen Erzeugern und ihm nicht vorhanden oder aber ihn abstoßend, ausspeiend, wegtreibend, niemals hat er beantworten können, was ihn zu seiner Familie zöge, eine seltsame dunkle Leere erfüllt ihn, eine Dumpfheit, die Sinneseindrücke betäubt, Erinnerungen blockiert und nur manchmal zulässt, daran zu denken, dass er, nachdem sein Bruder, der Erstgeborene, sich mit 42 Jahren im elterlichen Treppenhaus erhängte, mit seiner Mutter ein einmaliges Zeichen der Verbundenheit erlebte, in der Küche, am Resopaltisch sitzend und am Abend des Selbstmordes des Ältesten aus der tönernen Steinhägerflasche drei schnelle Schnäpse hintereinander trinkend. Sie. Mit ihm. Dem Betriebsunfall, den sie schwerlich verstand, mit seinen beruflichen Kapriolen und politischen Ansichten, der demonstrieren ging, gegen rechts, der nie gefragt hatte, ob das, was er anfinge mit seinem Leben richtig sei, der beide immer vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, schon als Kind. Die schlanke Flasche aus Ton, undurchsichtig, schwer, den Inhalt verbergend, als Sinnbild seiner Geschichte, die ihn so nach unten zog wie das Haus, das er nun mit seinen, ihm fremden beiden Schwestern, den letzten Überlebenden seiner Familie, ausräumen soll. Der weiteste Apfel, vom Stamm, er. Schon physiognomisch am weitesten entfernt, er ist immer noch blond, seine Schwestern grau, ehemals dunkel wie die Eltern, er bringt den slawischen Einschlag der väterlichen Linie mit, seine Schwestern den südeuropäischen Genpool der Mutter – wie sie da sitzen, auf der mit rotem Kunststoff bezogenen Eckbank, die gebügelte und gestärkte Zeugnisse der Familiengeschichte birgt, er weiß genau in welchen Winkeln und Achsen die Stofftaschentücher, die Mutter nicht müde wurde exakt zu stapeln, liegen und die seit Jahrzehnten in stabiler Plastikfolie verschweißte Tischwäsche mit Schweizer Klöppelei. Die Schwestern – sich abwechselnd mit Worten und Lautstärke dominierend, sitzen sie, sich zwischendurch wie Beute fixierend, auf den beiden, am weitesten voneinander entfernten Stühlen, lachen irgendwie gezwungen und, immer, wenn eine Pause entsteht, füllen sie die mit kleinen Geschichten der Gegenwart und einem atemlosen Hetzen durch die Organisation der Haushaltsauflösung. Er platziert sich wohlüberlegt auf der glänzend polierten Arbeitsplatte der weißen Hochglanzküche, aus der Vogelperspektive fällt es ihm leichter, die Giftpfeile zu visualisieren, die den Raum teilen, es ist, als hinterließen sie einen mintgrünen, zischenden Nebel, denkt er, olfaktorisch würden sie nach Exkrementen riechen, wie er sich darauf freut, nachher wieder in seiner Ente in die Großstadt zu fahren. Die Mittlere bestimmt, wie immer, die Rollen – sie selbst werde im Erdgeschoss, das Arbeitszimmer und die Küche sowie alles von Wert sortieren, das Familiensilber, dass sie noch polieren müsse,  ginge selbstverständlich zu ihr, sowie das Yamaha-Klavier aus Kirschbaum, das die Mutter ihr versprochen habe, für den Relax-Sessel, den sie sich, am besten 24/7, unter das Gesäß schnallen solle, wie er bösartig denkt, habe sie bereits die Spedition bestellt, die auch das Klavier abholte und alle Massivholzmöbel in Eiche dunkel, die die Eltern gern bei ihr gewusst hätten. Die Älteste solle die Kleider sortieren, vielleicht sei noch Brauchbares bei der Frottee- und Tischwäsche, er könne sich Keller und Garage widmen, dem Reich des Vaters, ein leidenschaftlicher Heimwerker und Gärtner, bis ihm der Atem für beides ausging. Was er sich nicht zweimal sagen ließ und die Kellertür öffnete, nachdem er automatisch zu Beginn der Treppen links auf Schulterhöhe den Kippschalter für das Neonlicht betätigte, den er schon 20 Jahre nicht mehr berührt hatte, so lange dauerte seine Abstinenz den Menschen gegenüber, die nach seinem Dafürhalten nichts ausgelassen hatten, um ihre Umwelt kontinuierlich an ihrer Bitternis teilhaben zu lassen und Perfektion in all ihren Ausprägungen zur Handlungsleitlinie zu machen. Den Estrich hatte der Vater noch streichen lassen in mattglänzendem Grau, mit Firnis versehen, versiegelt, das Haus lag hoch, verstopfte Siele hatten jedoch mehrfach zu Flutungen des Kellers geführt, was die Eltern dazu bewog, alle Dinge von Wert hoch zu lagern. Er begann mit dem Einmachkeller, in dem er absurderweise lieber eingeschlossen worden war als im Kohlenkeller nebenan, rechts und links Regale, in denen noch mit Sütterlin beschriftete Gurkengläser und Mehrfruchtmarmeladen standen, die Mutter war eine große Hausfrau, ihr Name; Martha,  ethymologisch der der Schutzpatronin aller Hausfrauen, sie kochte und buk für die große Familie auf Vorrat im Wechsel mit wöchentlichen Ausbrüchen von Vorwürfen an Mann und Kinder, dass sie als junge Frau weder heiraten noch sich hätte fortpflanzen, sondern am liebsten Novizin bei den Klarissen hätte werden wollen, die das Internat geführt hatten, in dem sie ein Jahrzehnt zur Schule ging. Im weiß lackierten Eichenschrank im Werkzeugkeller, in dem alte,  spakige Koffer und die Einschulungstornister der Kinder aus den 50er bis frühen 70er Jahren lagern, bemerkt er zum ersten Mal eine Schublade, der gelblich und stumpf gewordene, dickflüssige Lack, den Vater Jahrzehnte zuvor großzügig verstrichen hatte, verklebt die Fuge, die er mit einem Spachtel aus dem riesigen Werkzeugschrank, in dem es immer noch so aussieht wie zu seiner Kindheit, vorsichtig öffnet, Lackblasen, Luft aus dem Jahrzehnt des Anstrichs umschließend, aufschlitzend und schnuppernd, ob die Vergangenheit röche – die Arbeit erweist sich als filigran, er will den Schrank, unter dessen Anstrich er Eiche vermutet, sein Lieblingsholz, nicht verletzen und denkt darüber, dass ihn mit manchen Sachen mehr verbindet als mit den Menschen, die die Sachen bearbeiten und verändern und er zieht feine Linien in den Lack, den an den Kanten leicht rostigen Spachtel tiefer und tiefer ansetzend um die Schublade herum, am mattgrau angelaufenen massiven Messingknauf rüttelnd und ziehend, bis der letzte Lack reißt, feine Linien zieht und er die Lade vorsichtig mit beiden Händen herauszuruckeln vermag – als Erstes steigt ihm ein scharfer, leicht feuchter, alter Schimmelgeruch in seine feine Nase, gut riechen hat er schon immer können, den Schweißgeruch seines alten Herrn bei der Gartenarbeit, das Parfum seine Mutter an Sonntagen, im Wechsel 4711 und Tosca mit Duftzerstäuber, der Duft der frisch geschleuderten Wäsche, besonders Schießer-Feinripp Unterhemden, die nebenan im Waschkeller bearbeitet wurden. Zuoberst liegen Magazine aus den 50’er Jahren, die Constanze, die Neue Illustrierte, die Revue, mit Konterfeis von Marlene Dietrich, der Nestbeschmutzerin, wie Vater immer sagte und Hans Albers in Seemannskluft mit dem Schifferklavier von unten fotografiert, der Blonde Hans, so arisch aussehend, mit den stahlblauen Augen, groß, kräftig, selbstbewusst,  der schon eher zur elterlichen Gesinnung gepasst hatte, in Nazideutschland einen Film nach dem anderen gedreht habend, ein Schwerenöter, wie Mutter immer bewundernd sagte, der ihr und der Filmindustrie so gut gefallen habe, dass er groß im Geschäft war und ablenkte von den schwarzen Kriegsjahren. Vorsichtig hebt er die Illustrierten ab und navigiert sie im 30-Grad Winkel aus der Schublade, deren Auszugsschienen nach der Hälfte zu klemmen scheinen, so wie Gedanken festsitzen, sich festsetzen können, auch in ihm, es ist als spüre er, dass eine Erlösung bevorstünde, als er vorsichtig weiter tastet und wühlt, um den weiteren Inhalt der Lade identifizieren zu können, bis seine Fingerkuppen in der hinteren linken Ecke der Lade auf etwas Metallenes stoßen, ein Kästchen, dass sich an den Ecken leicht abgerundet, als Brillenetui, entpuppt, „Dienstbrille“ steht in exakten Sütterlin-Lettern darauf, darin eine vernickelte runde Brille mit Sportbügeln, die sich um das Ohr legen und der Steg presst sich auf die Nase und vor die Augen, es müssen circa minus 2 Dioptrien sein, er sieht klar, plötzlich, was ihm in diesem Haus selten gelingt, minus zwei Dioptrien, die gleiche Stärke die der Vater hatte, eine Gemeinsamkeit, vielleicht die einzige, die die beiden verband, wenn dieser bis gerade versiegelte Quader Zeitzeugnisse der Mode, des Films und des Berufs seiner Erzeuger gebiert, was mag er noch enthalten fragt er sich, nun fieberhaft wühlend, Schimmelpilzsporen in seiner Nase, die neue alte Brille darauf, die Zeitschriften zu seiner Rechten, als habe er sich einen Wall aus verdrängten Erinnerungsstücken gebaut, hinter denen er gerade mehr wahrnimmt als seine Schwestern, sie alle die letzten Überlebenden und er nun von den Hilfsmitteln der Eltern umgeben und gestärkt. Die Eltern können ihn nicht wahrnehmen, aber er sie, wie früher, wenn er sich im Schrank versteckte, wenn er nicht geschlagen werden wollte. Er tastet Pappe und Metall, zwei schmale Aktenordner für Hängeregistraturen, das Papier brüchig, an den Rändern gelb, die Pappe ehemals rosé, nun etwas aufgequollen, sein Herz beschleunigt seinen Rhythmus um das Zweifache, sein Atem stockt als er auf dem Deckblatt liest „Sonderbehandlung 14f13“, August 1941, Haus Sonnenstein, Pirna – geheim. Die morschen Blätter enthalten die Vor- und Nachnamen derjenigen psychisch erkrankten Menschen, die im Haus Sonnenstein, einer ehemals reformpsychiatrischen Anstalt 1940 und 1941 im Rahmen der Aktion T4 getötet worden sind, insgesamt 13.720, im August 41, waren es 607, sein Vater in diesem Monat 20 Jahre alt, Buchhalter in einer Spedition bei Dresden. 

Wie er bis eben dachte.

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