26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Ludwig Roman Fleischer

GRENZGANG oder DAS MAGDALENENAMULETT 

An der alten Grenzstation vier Carabinieri in zwei Streifenautos. Weiter drüben das Ristorante al Confino, mein Vaterhaus, wenn man so will. Von der virusbedingt geschlossenen Grenze aus kann man es gut sehen: ein verfallenes Andenken an die einstige Grenzgeschäftigkeit in meiner Kindesheimat: Grenzstau, aus den Autofenstern gehaltene Hände mit Reisepässen, Reisende und Zöllner in Ausführung ihrer Rituale: Was bringen Sie mit? Cosa porti con Lei? Avete della roba da dichiarare? Habt ihr irgendein Zeug zu verzollen? 

Mein Vater hinter der Theke, ein Glas Wein aus seiner cantina in der Hand, die gute alte Daniela – unbezahlbare Unbezahlte -an der röchelnden Espressomaschine, Männer in Overalls, Kaffeeschälchen oder Biergläser in Händen, Zigaretten in den Mundwinkeln, an den Tischen Spaghetti aufwickelnde oder in Pizzastücke beißende Gelegenheitskunden. Der Saal des Ristorante nebenan fast immer leer, die freiwillige Köchin Daniela ohne Kochgelegenheit.

Vater wies jeden neuen Gast auf die Cantina im Unter- und das Negozio im Obergeschoss hin, wo seine Sonderangebote vergeblich auf Käufer warteten. Für karierte Bauernhemden, Kniehosen, Sackkleider und Rüschenblusen gab es längst keine Kunden mehr. Immerhin kaufte der eine oder andere Durchreisende ein, zwei Flaschen Terlaner, Merlot oder Pinot Grigio. 

Bei einem meiner raren Besuche – ich glaube, es war der letzte vor dem Zusperren von Ristorante, Cantina und Negozio – setzte sich Vater an sein Pianino und spielte den Donauwalzer. Seine Augen leuchteten, seine Finger tanzten über die Tasten: einen Walzer lang schien er sein Leben zu durcheilen, sein Leben an der nunmehr moribunden Grenze. Nach Schengen und der Abschaffung der Grenzkontrollen war es vorbei mit dem ohnedies miserablen Geschäft. Vater verschenkte seine Ware und lebte fortan quasi als sein einziger Gast im Ristorante al Confino. 

Nun ist der Grenzwirt Lukas Kandioler tot, ein statistisch erfasster Corona-Toter, dessen Sohn erst drei Wochen nach dem Begräbnis von seinem Ableben Kenntnis bekam und nun an der geschlossenen Grenze steht und zu seinem Vaterhaus hinüberschaut. 

Die verspätete Todesnachricht kam vom pensionierten Zollinspektor Oberhuber, dem nach Danielas Abgang in die heimatliche Lombardei wohl einzigen Freund Vaters. In dem Kuvert befand sich neben der Parte auch jenes Magdalenenamulett, das einst meinem Großvater Benjamin Kandioler gehört hatte, den weder ich noch mein Vater gekannt haben. Und nun trage ich das Amulett an einer silbernen Halskette, hier, an der geschlossenen Grenze. Im sogenannten Shutdown kann ich auch von meinem Hotelzimmer aus online unterrichten; und morgen ist ohnedies schon Samstag.

Damals, als mein Vater an seinem Pianino in der Grenzbar den Donauwalzer spielte, trug er das Magdalenenamulett, und die heilige Hure an seiner Brust schien den Dreivierteltakt mitzutanzen, sein Leben mitzutanzen: eine vaterlose Kindheit im schönsten Tal Tirols, unter der Obhut einer hart arbeitenden und schlecht beleumundeten Alleinerzieherin (seiner Mutter Magdalena Fuchs), die Volksschule und der Orgel- und Lateinunterricht bei einem Pfarrer Benedikter, das Stipendium am Knabenkonvikt in Bruneck, die Maturität und das Welthandelsstudium in Innsbruck, die Schilehrerei am Kronplatz und die Hochzeit mit einer Wiener Schitouristin, und endlich der sichtbare Punkt des Verharrens in selbstgewählter Unvermeidlichkeit im Ristorante al Confino: verlassen von der Ehefrau und dem damals zehnjährigen Sohn. 

Zwei Linke im Dreivierteltakt,

grölte es von der Bar her,

a Kinschtler, der Kandioler, a richticha Kinschtler!

Gelächter und Geproste, während Vaters Hände weiter über die Tasten wirbelten: die Hände des vaterlosen Hüterbubs, des begabten Konviktszöglings, des schneidigen Schilehrers, des verlegenen Liebhabers, des unbeholfenen Grenzwirtes, der nach erfolgreich absolviertem Welthandelstudium das Ristorante al Confino gekauft hatte, in der Überzeugung, es sei eine solide sprudelnde Geldquelle. Sie alle spielten, drehten sich im Wirbeln, Prasseln, Strömen, Wogen der Akkorde und wurden greifbar. Dann saß Vater still auf seinem Hocker, und die übliche leichte Verlegenheit floss in ihn zurück, als die drei Gäste applaudierten und Bravo brüllten, während ich die Tränen unterdrücken musste. 

Das war Siebenundneunzig. Ein Jahr später begann ich in Wien als Lehrer zu arbeiten. Vater habe ich nur noch selten besucht, in seinem ehemaligen und nun leeren Ristorante; zum letzten Mal im vorigen Jahr, und da hat er mir die Geschichte von meinem Großvater Benjamin Kandioler erzählt, die Geschichte vom Magdalenenamulett, wenn man so will. Über meinen Großvater hatte es geheißen, er wäre als ganz junger Mann im Krieg verunglückt und die Großmutter sei damals im zweiten Monat schwanger gewesen. Ich gab mich damit zufrieden. Meine Südtiroler Großeltern waren ja längst tot und Vater sprach nie über sie. Bei meinem letzten Besuch im Vorjahr schien er aber ein starkes Bedürfnis zu haben, die wahre Großvatergeschichte zu erzählen. Sie spielt in der Zeit, da die Südtiroler Amtssprache Italienisch war, der kleine Benni in der Schule Italienisch lernen und sich Beniamino Candiolo nennen und nennen lassen musste. Selbst auf Grabsteinen waren – dank Mussolini und seinem stramm faschistischen Namenserfinder Ettore Tolomei – die Südtiroler Familiennamen durch italienische ersetzt worden: Ein Leonhard Karner wurde posthum zum Leonardo Carnero, ein Maximilian Nothdurfter zum Massimo Bisogno und jeder Kandioler – gleich, ob tot oder lebendig – eben zum Candiolo. 

Benni war das einzige Kind des Andreas Kandioler vulgo Schönecker: ein äußerst lebendiger und zu allerlei Schabernack aufgelegter Bursche, der einmal am Pfingstsonntag von der Orgelempore her den heiligen Geist als papierene Taube an einer langen Spagatschnur über der betenden Gemeinde kreisen ließ, wofür er dann vom Pfarrer ein paar Ohrfeigen bekam. Der den Pfarrer, den Bürgermeister, den Oberlehrer und den Sprengeldoktor perfekt imitieren konnte. Der im Winter auf Fassdauben vom Schöneckerhof zur Volksschule hinunterfuhr, weil der Schöneckerbauer nicht daran dachte, Geld für so a naizaitliches Klumpert wie Schi auszugeben. Später war der Kandioler Benni ein tüchtiger Tänzer, ein Virtuose auf der Knopferlharmonika, ja, und auch ein ganz schöner Weiberer. Meine Großmutter Magdalena Fuchs – Tochter eines Keuschlers – mag seine große Liebe gewesen sein – oder auch nur die letzte von mehreren Eroberungen. Jedenfalls ist sie von ihm geschwängert worden, im Spätherbst des Kriegsjahres 1939. Ob die werdende Mutter von ihren gesegneten Umständen schon wusste, als ihr der werdende Vater knapp vor Weihnachten abhanden kam, das konnte Vater nicht mit Sicherheit sagen, „aber eher nicht“.

Der lebenslustige Benni war im trüben November still und nachdenklich geworden. Zuerst hatte er seine Mutter verloren: Sie war beim Zwoschpan klaum – dem Heidelbeeren sammeln – abgestürzt und ihren Verletzungen erlegen. Wenige Tage später hieß es, jeder Südtiroler müsse bis spätestens Silvester neununddreißig im Rahmen einer Abstimmung seine Zukunft festlegen: Entweder optieren, was bedeutete, sich für Deutschland, Adolf Hitler und eine Auswanderung ins osteuropäische Flachland zu entscheiden oder als Dableiber für Italien, Mussolini und eine italienische Pseudo-Identität. Faschismus oder Nationalsozialismus – Mussolini oder Hitler – das war etwas wie eine Wahl zwischen Scharlach und Diphtherie, sollte man meinen. 

Der Ortsgruppenführer, ein derber Kerl aus Bayern, verkündete der Menge auf dem Kirchplatz:

Jeder aufrechte Tiroler wird sich ois Daitscha bekennen und nie und nimmer ois Wallischer. Bekenntnis zu Deutschland heißt die Losung. So wollen es der Führer und die Vorsehung.

Die Menge jubelte und grölte. In den Wirtshäusern wurde frohlockt, geprahlt und verwünscht: Tirol wieder deutsch, ein einig Vaterland, und zum Teufel mit dem Welschen. Es gab nur zwei Gegenstimmen: die des Benni Kandioler – wenn Schweigen als Gegenstimme gelten kann – und die des jungen Pfarrers Benedikter, der von der Kanzel herab warnte:

Jeder, der für Deutschland stimmt, stimmt damit auch gegen Tirol. Er wird von Haus und Hof vertrieben werden, aus dem herrlichen Gebirgsland in eine trostlose polnische, preußische oder galizische Ebene, aus der man etliche, die dort rechtens hingehören, ihrerseits verjagt hat. 

Es sei ein Werk des Satans, eine solche Entscheidung zu verlangen, doch bei der Wahl zwischen dem eigenen Hof und der Fremde könne sich ein Tiroler nur für die Heimat aussprechen, und wäre der eigene Grund und Boden nichts als eine kümmerliche Oase in der welschen Wüstenei. In Wahrheit habe der sogenannte Führer Tirol verraten und verkauft, nun dürfe nicht auch noch der Tiroler selbst Tirol verraten.

Man kannte – so mein Vater – natürlich das Gerücht, dass die Entscheidung für das deutsche Vaterland die baldige Umsiedlung in den östlichen Lebensraum nach sich ziehen würde. Die Stimme des Pfarrers aber habe wenig Gewicht gehabt. Der trieb es nämlich mit den Weibern und da hatte schon der Eine oder Andere im Dorf die Hörner aufgesetzt bekommen. Gut, der Pfarrer Benedikter sei ein fescher Mann gewesen und dazu auch noch der Brückenbauer zu Gott, von dem er die Vergebung jeder wie immer gearteten Sünde erlangen konnte.

Der Benni Kandioler habe sich als Einziger die Worte des Pfarrers zu Herzen genommen. Stundenlang sei er vor dem Stadel gehockt und habe stumme Zwiesprache mit seiner Amulett-Magdalena gehalten. An einem stockfinsteren Dezembermorgen kurz vor Silvester hat er sich aufgemacht Richtung Birnlücke – einem Alpenübergang zum Salzburgerland. Sein Vater hatte dort alte Weiderechte. Jedes Jahr Ende Juni trieb er seine Rinder hinüber und Anfang September wurden sie auf einem feierlichen Almabtrieb zurückgeholt. Schon im Alter von sechs Jahren war der Benni dabei gewesen. Dem Schöneckerbauern gehörte eine etwa dreihundert Meter unterhalb der Birnlücke gelegene kleine Hirtenhütte. Ein alter Familienbesitz, von dem kaum Gebrauch gemacht wurde. Dorthin hat sich der Benni Kandioler wohl aufgemacht an jenem eiskalten Dezembermorgen. 

Ich stelle es mir vor, jetzt, an der Grenze, in Sichtweite des verfallenen Ristorante al Confino: Ich, Silvius Kandioler, ein kinderloser Witwer, der nun auch seinen Vater verloren hat, dessen Begeisterung für den seinerzeitigen Landeshauptmann Silvius Magnago ich meinen Vornamen verdanke, ich stelle es mir vor, wie mein Großvater – ein Jüngling von zwanzig Lebensjahren, seine heilige Sünderin Magdalena an der Brust, den steilen Weg zur Birnlücke hochsteigt: ich sehe den weißen Rauch des angestrengten Atems, ich höre seine Stimme, die ich gar nicht kenne. Dass er nicht gehen will und nicht bleiben kann, sagt er, dass er kein Optierer und kein Dableiber sein will, kein Heimatverräter der einen und keiner der anderen Sorte. Dass er nicht weiß, was er will und nur weiß, was er nicht will und nicht will, was er weiß. Ein scharfer Sturm ist aufgekommen, gegen den der junge Schönecker, der vormals so lebenslustige Weiberer, ohne rechte Überzeugung und ohne rechten Willen ankämpft, langsamer und langsamer. 

Von dort oben ist er nicht mehr wiedergekommen,

sagte mein Vater im ehemaligen Ristorante al Confino, 

und er hat sich damit den Verrat an Tirol erspart. 

Freilich habe man die Geschichte des Benni Kandioler im Tal immer ein bisschen anders erzählt, jeder nach seiner Fasson. Er habe die heilige Magdalena schon im Sommer in Toblach gekauft gehabt, hieß es in einer sozusagen unpolitischen Variante, und dieses Amulett habe er in der alten Hirtenkeusche versteckt. Nun – als werdender Vater – habe er es seiner Braut, der Fuchs Magdalena, zur Verlobung schenken wollen. Manche behaupten, der Tod seiner über alles geliebten Mutter habe ihn schwermütig gemacht und er habe in einer Zeit des Neujahrsfeierns ein Bedürfnis nach stiller Trauer gehabt. Seine Bergtour zur Birnlücke sei halt schiefgegangen. Kein Wunder, bei dem Sauwetter, das geherrscht hat. Die deutschnationale Variante zählt meinen Großvaterjüngling zu den Optierern, die welschenfreundliche zu den Dableibern. Die wenigen, die sich jetzt, im Jahr der Coronaepidemie, noch an ihn erinnern, werden bald tot sein wie er. Wie mein Vater. Wie meine Familie, und im Übrigen ist es gleichgültig, ob man fürs Weggehen oder fürs Dableiben optiert. Eine Wahl hat man ja doch nicht. 

Du weißt, wie die Abstimmung ausgegangen ist,

stellte mein Vater im ehemaligen Ristorante eine rhetorische Frage,

aber natürlich weiß keiner, ob es bei der Auszählung vollkommen korrekt zugegangen ist. 

Fünfundachtzig Prozent stimmten für Deutschland – und damit, wäre alles plangemäß verlaufen – für eine neue Heimat im neuen östlichen Lebensraum. Lediglich fünfzehn Prozent bekannten sich zu Südtirol, bereit, künftig als Italiener zu posieren und statt des Hitlergrußes den Saluto Romano zu vollführen. 

Man hat meinen Großvater unweit der Hirtenhütte unterhalb der Birnlücke gefunden. Anfang März, bäuchlings im Schnee, den Rucksack auf dem Rücken, das Magdalenen-Amulett an der Silberkette um seinen Hals; der Leichnam durch den Dauerfrost bestens konserviert. 

Ende Juni – zur Zeit des Rinderauftriebs zur Birnlücke und des Abtriebs von dort ins Salzburgische – ist sein Sohn Lukas Kandioler geboren worden, mein späterer Vater. Die Mutter Magdalena Fuchs hat im Tal als Verworfene gegolten, die einen unehelichen Balg zur Welt gebracht hatte, dessen Vater weiß Gott wer sein mochte. Einer wie der geistliche Frauenverführer Corbinian Benedikter hätte sie vielleicht verteidigt. Freilich war er zum Zeitpunkt der sündenschweren Geburt meines Vaters bereits in einem faschistischen Gefängnis: ein gerechter Sünder im Talar. Magdalena Fuchs hat meinen Großvater Beniamino Candiolo als Vater angegeben und so hat der kleine Lucca den Namen des Vaters tragen dürfen. Da war man wenigstens standesamtlich großzügig oder auch bloß desinteressiert. Magdalena hat sich und ihr Kind mit allerlei Dienstmädchenarbeiten durchgebracht. Ein früher Tod im Alter von vierzig Jahren hat sie der ihr angedichteten Schande entzogen. Mein Vater hat gerade die Volljährigkeit erreicht gehabt und – da sein Großvater bereits verstorben war – den Schöneckerhof geerbt, den die Mutter in seinem Namen verpachtet hatte. Den Pachtzins hat sie für ihren Sohn auf ein Sparbuch eingezahlt, sodass mein Vater über eine schöne Stange Geld verfügte, vor allem, nachdem er den Schöneckerhof verkauft hatte. Sein ganzes Vermögen hat er in das Ristorante al Confino gesteckt, von dessen Einträglichkeit er so überzeugt war.

Ich bin der Erbe des Ristorante, das ich infolge der geschlossenen Grenze (und womöglich auch wegen Baufälligkeit) nicht betreten kann. Auf dieses Erbe werde ich verzichten. Das Ristorante al Confino ist in mir, also muss ich nicht in ihm sein. Vielleicht gehe ich morgen – die Magdalena an der Brust – zur Birnlücke und zur Hirtenhütte hinauf. Wie mein Großvater es öfter getan hat. Von der anderen, der Salzburger Seite allerdings, der geschlossenen Grenzen wegen.

Feld am See, Juli 2020

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