26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Alexander Diener

Teil der Vereinbarung 

Natalie hat einen Mann in ihrem Zimmer. Das darf sie, das ist Teil der Vereinbarung. An eine Vereinbarung muss man sich halten. Ich sitze am Küchentisch und koche einen Tee nach dem anderen. Neben der Tasse liegt Natalies Kalender. Montag Zivilrecht und Öffentliches Recht. Dienstag Rechtssetzung und Rechtspolitik. Heute ist Samstag, im Kalender steht: Simon. Simon ist zum achten Mal bei ihr.

Natalie hat zwei Wellensittiche. Einen grünen und einen blauen. Sie heißen Cola und Korn. Natalies Humor. Der Käfig steht auf der Kommode neben mir. Als Natalie eingezogen ist, habe ich gesagt, ich freue mich über die Vögel. Jetzt habe ich jeden Tag das Gekrächze von Wellensittichen in meiner Wohnung. Überall liegen Federn. Manchmal stelle ich mir vor, ich öffne die Tür, greife in den Käfig, schließe meine Finger um die knirschenden Flügel und stecke mir einen der Wellensittiche in den Mund. Ich stelle mir vor, wie die Flügel auf meiner Zunge zucken und der Schnabel in meinen Rachen pickt.

Natalie hat einen Bademantel an. Ich tue so, als würde ich was auf dem Handy lesen. Aber Natalie kriegt mit, wenn ich nur so tue.  Sie ruft: „Hey Stubenhocker!“ 

Das ist mein Spitzname. Das ist liebevoll gemeint. 

Sie sagt: „Kannst du nicht in dein Zimmer gehen?“

„Ich trink hier nur Tee.“

„Wenn du mich gernhast, gehst du in dein Zimmer.“

„Ich möchte lieber hier sitzen bleiben.“

„Du tust dir und uns keinen Gefallen.“

Natalie und ich sind kein normales Paar. Wir haben eine Vereinbarung. Ich öffne die Schublade unter dem Käfig und hole den Ordner mit der Aufschrift Miete raus. Natalie hat gesagt, sie braucht feste Regeln, sonst kann sie nicht bei mir wohnen. Ich habe gesagt, ich mag feste Regeln. Darüber hat Natalie gelächelt. Ich bin gut darin, Natalie zum Lächeln zu bringen. Wir haben die Vereinbarung aufgeschrieben, und Natalie hat in der Uni eine Kopie für mich gemacht. 

§1) Natalie und Thomas sind ein Paar. 

§2) Natalie darf mit anderen Männern schlafen. 

§3) Thomas macht Natalie wegen der anderen Männer keine Vorwürfe. 

Natalie wohnt seit einem Jahr bei mir. Sie ist nicht so eine, die gleich abhaut, wenn es Probleme gibt. Wir hatten auch Probleme, aber wir haben uns hingesetzt und miteinander geredet und eine Lösung gefunden.

Eine Woche nach ihrem Einzug kam Natalie von einer Erstiparty nach Hause und weinte am Küchentisch. Weil es ihrer Mutter schlecht ging und sie so weit weg ist. Ich habe Natalie in ihr Zimmer gebracht. Ich wollte ihr nur Gesellschaft leisten. Ich bin gut darin, Leute zu trösten. Es war Natalie, die den Kopf zu mir drehte. 

Natalie und Simon machen Geräusche. Vielleicht machen sie extra laute Geräusche, weil ich hier sitze und zuhöre. Es stört mich nicht, ihnen zuzuhören. Ich überlege mir gut, bevor ich eine Vereinbarung mache. Meine Wohnung ist klein. Die Küche ist gleichzeitig der Flur, von dem alle Zimmer abgehen. Hier gibt es keine Privatsphäre. Ich bin nicht dumm.

Vor Natalie hat Nicola bei mir gelebt. Davor Manu und davor Tatjana. Jeder will ein billiges Zimmer haben, und ich habe ein billiges Zimmer. Angebot und Nachfrage. Mein Problem ist, ich verliebe mich zu leicht. Es ist nicht schlau, sich in seine Mitbewohnerin zu verlieben. Aber gleich ausziehen fand ich gemein. Vor allem Tatjana war gemein. Sie hat mich einen Creep genannt und den Untermietvertrag gekündigt und bis zum Ende der Kündigungsfrist wer weiß wo gepennt. Ich bin kein Creep. Ich habe bloß gefragt. Fragen kostet nichts. Tatjana wollte ein billiges Zimmer. Angebot und Nachfrage.

§4) Thomas und Natalie schlafen sechs Mal im Monat miteinander. 

§5) Thomas schläft die übrigen Nächte in seinem eigenen Bett. 

§6) Natalie spricht mit den anderen Männern nicht über Thomas.

In Natalies Zimmer ist es jetzt leise. Dafür machen die Wellensittiche Lärm. Ich kann das Geräusch von Flügeln nicht ausstehen. Als Kind habe ich auch einen Wellensittich gehabt. Er hieß Ingo. Meine Eltern wussten nicht, dass man einen Wellensittich nicht alleine halten darf. Ich war erst vier oder fünf und habe das Futter vergessen. Oder ich hatte keine Lust. Oder ich wollte mal gucken, was passiert. An einem Morgen hing Ingo zwischen den Gitterstäben. Meine Mutter hat gesagt, er schläft, und ihn auf den Kompost geworfen. Aber ich bin nicht dumm. Ich wusste, dass Ingo vor Hunger versucht hat, sich durch die Gitterstäbe zu quetschen. 

Das mit Simon ist komisch. In der Vereinbarung steht: mit anderen Männern. Da steht nicht: immer mit demselben Mann. Darüber müssen wir sprechen. Ist ja nicht schlimm, eine Vereinbarung kann man ändern. Nachverhandeln. Ich finde, wir müssen reinschreiben, wie oft Natalie denselben Mann treffen darf. 

§7) Thomas holt Natalie nicht von der Fakultät ab. 

§8) Thomas klopft nicht an die Tür, wenn Natalie Besuch hat. 

§9) Natalie verliebt sich nicht in einen anderen Mann.

Natalie kommt aus dem Zimmer. „Tee?“, frage ich, aber sie sagt nichts und geht ins Bad. Dann kommt Simon. Er hat nur ein T-Shirt und eine Unterhose an. Ich finde, er könnte eine Hose anziehen, aber ich sage nichts.

Simon macht einen Handschlag und fragt, wie’s mir so geht.

„Alles schick“, sage ich, „und bei dir?“

„Ich piss mich gleich ein.“

Ich setze mich wieder hin. Bestimmt guckt Simon gerade hinter den Duschvorhang, und dann weiß er, wie Natalie beim Duschen aussieht. 

Simon kommt aus dem Bad und streckt sich. Dann atmet er tief aus und macht „ahh“, als hätte er einen Langstreckenlauf hinter sich gebracht. 

„Und, was hast du so vor am Wochenende?“, fragt er. 

„Nur entspannen.“

„Anstrengende Woche gehabt?“

„Geht. Wie immer.“

Simon füllt eine Teetasse mit Leitungswasser und setzt sich an den Tisch. „Finde ich stark, wie du das hinkriegst, jeden Morgen um fünf raus und malochen.“

„Warum sollte ich das nicht hinkriegen? Das kriegt jeder hin.“

„So meinte ich das nicht. Ich bewundere das nur, ich könnte das nicht.“

Ich sage nichts. Simon ist so einer, der nicht aushält, wenn man einfach mal nichts sagt.

„Wir gehen nachher mit meinen Kommilitonen was trinken und vielleicht danach tanzen. Wenn du Lust hast, kannst du mitkommen.“

Ich verkneife mir das Lachen, weil er Wir gesagt hat. Simon denkt, er könnte ein Paar mit Natalie werden.  

„Ich meine, du musst doch mal rauskommen. Natalie findet, du verkriechst dich zu viel in der Bude.“

§10) Natalie und Thomas zeigen niemandem die Vereinbarung. 

§11) Thomas geht nicht ins Bad, wenn Natalie im Bad ist. 

§12) Wenn Natalie und Thomas streiten, geht keiner aus der Wohnung, bis sie sich vertragen haben. 

Es ist gut, dass Natalie und ich eine Vereinbarung haben. Vorher habe ich ihre Signale falsch verstanden. Manchmal ist sie nachts rübergekommen und hat gesagt, sie möchte nicht alleine sein. An anderen Tagen hat sie gesagt, ich soll sie in Ruhe lassen, ich würde sie anekeln, sie würde mich anzeigen. Mal hü, mal hott. Mit so was kann ich nicht umgehen.

Einmal bin ich nach der Arbeit nach Hause gekommen, und Natalie war traurig. Sie hat nicht geweint, aber ich habe gemerkt, dass sie traurig ist. Ich habe gesagt, wenn sie sich über mich nicht freut, kann sie ja woanders hingehen. Und sie hat gesagt, sie würde woanders hingehen, wenn sie Geld hätte. Das fand ich gemein. Natalie hat mir den Rücken gestreichelt und sich entschuldigt. Ich habe sie geküsst. Sie hat mich zurückgeküsst. Sie hat mich so geküsst, als würde sie mehr machen wollen. Dann hat sie nein gesagt und meine Hand festgehalten. Es war dumm, deswegen auszurasten. Aber ich hab’s nicht durchgezogen. Ich habe gemerkt, dass Natalie wirklich nicht möchte. Ich habe mich zusammengerissen und aufgehört.

Natalie hat ihre Sachen gepackt und wer weiß wo gepennt. Und am nächsten Abend ist sie zurückgekommen und hat gesagt, wenn wir zusammenleben wollen, brauchen wir eine Vereinbarung. Feste Regeln. Ich habe gesagt, ich mag feste Regeln. 

Ich verkrieche mich in der Bude, sagt Simon. Findet Natalie. Ich verkrieche mich. Und ob ich nicht mitkommen möchte, mit seinen Kommilitonen was trinken. 

„Ich trinke keinen Alkohol“, sage ich. 

„Was liest du da?“, fragt er und zeigt auf die Vereinbarung.

Zuerst will ich den Zettel wegschieben. Aber Natalie hat sich nicht an die Vereinbarung gehalten. Also denke ich: Was soll’s. Simon dreht den Zettel um und liest. Er hebt den Kopf und guckt mich mit so einem übertrieben irritierten Gesichtsausdruck an. Dann liest er weiter.

„Was ist das?“

Ich nicke in Richtung Badezimmertür. „Unsere Vereinbarung.“

„Hast du das geschrieben?“

„Haben wir zusammen ausgedacht“ sage ich. „Wir sind kein normales Paar. Wir haben feste Regeln.“

§13) Natalie und Thomas gehen einmal die Woche zusammen ins Kino oder in ein Restaurant. 

§14) Natalie und Thomas küssen sich nicht außerhalb der Wohnung oder halten Händchen. 

§15) Thomas darf nicht Ich liebe dich sagen. 

Simon und Natalie streiten sich in Natalies Zimmer. Ich stecke meinen Finger zwischen die Gitterstäbe. Der blaue Wellensittich zwickt mich mit seinem Schnabel. Ich weiß nicht, welcher Cola ist und welcher Korn. Keine Ahnung, warum Menschen Wellensittiche in der Wohnung halten. Man kann nicht mit ihnen spielen oder kuscheln. Man kann ihnen nur beim Krächzen zuhören und sie füttern oder sie sich in den Mund stecken.  

Einmal waren Natalie und ich im Kino. Beim Ausgang haben wir eine Freundin aus Natalies Uni getroffen. Sie haben sich über eine Dozentin unterhalten, als würde ich nicht danebenstehen. Dann hat Natalies Freundin gefragt, wer ich bin. Ich habe gemerkt, dass Natalie nicht darüber sprechen möchte. Darum habe ich ihrer Freundin die Hand gegeben und gesagt: „Ich bin Natalies … Mitbewohner.“ Sie hat gefragt, ob wir zu dritt was trinken gehen wollen. Und ich habe gesagt, ich bin ein Stubenhocker und trinke keinen Alkohol. Darüber haben Natalie und ihre Freundin gelächelt. 

Simon ist abgehauen. Ich frage mich, ob er trotzdem was trinken geht. Natalie sitzt mir gegenüber. Sie ist wütend, aber sie macht ihre Stimme extra ruhig und tonlos. So was kann sie gut.  

„Was soll das?“, fragt sie. 

Ich sage: „Du hast dich nicht an die Vereinbarung gehalten.“

„Warum nicht?“

„Da steht: mit anderen Männern. Plural. Aber du triffst immer nur Simon.“

„Du hast gesagt, es stört dich nicht.“

„Es stört mich auch nicht.“

„Wo ist dann das Problem?“ 

„An eine Vereinbarung muss man sich halten.“

Natalie geht in ihr Zimmer und kommt mit einem Rucksack zurück. Sie lächelt. So habe ich sie noch nie lächeln gesehen. 

„In was für einer Welt lebst du? Denkst du, irgendwas hiervon wäre echt? Denkst du, ich freue mich, wenn du von der Arbeit kommst und an meine Tür klopfst wie ein Hund?“

„Ich darf das.“

„Warum? Weil‘s in der Vereinbarung steht? Deine dumme Vereinbarung ist mir so derart egal.“

„Unsere Vereinbarung. Man macht keine Vereinbarung, wenn’s einem egal ist.“

Natalie zieht ihren Mantel an und geht zur Tür. Cola und Korn sind jetzt ganz still. 

„Ich hab genug, Thomas. Ich kündige. Morgen suche ich mir was anderes. Hab einen schönen Abend.“

Es ist kurz nach zwei. Cola und Korn krächzen. Ich sitze am Küchentisch und trinke Tee. Ein Beutel nach dem anderen. Natalie kann nicht einfach so kündigen. Es gibt eine Kündigungsfrist. Doppelt Miete zahlen, das kann sie sich gar nicht leisten. 

Cola und Korn schlagen mit den Flügeln, und ihre Flügel schlagen gegeneinander und gegen die Gitterstäbe. Ich klopfe gegen den Käfig, aber sie hören nicht auf mit dem Krach. Ich kann Wellensittiche nicht ausstehen. Ich stehe auf und öffne die Käfigtür. 

Eine Stunde später ist es still in der Wohnung. Ich höre, wie Natalie die Treppe hochkommt und die Tür aufschließt. Sie lächelt überheblich. Das einzige Lächeln, das ihr nicht steht. 

„Sitzt du immer noch da?“, fragt sie.

„Ist Simon sauer?“, frage ich. 

„Das geht dich nichts an.“

Sie hängt ihren Mantel an den Haken und wirft einen Blick auf den Käfig.

„Wo sind Cola und Korn?“

Ich stehe auf und kippe den Teebeutel in den Müll. „Die haben nicht aufgehört mit dem Krach.“

„Was hast du … ?“ Jetzt lächelt Natalie nicht mehr. „Du bist krank, weißt du das? Du gehörst eingesperrt.“

„Du hast dich nicht an die Vereinbarung gehalten.“

„Vereinbarungen mit Verrückten gelten nicht.“

Ich weiß, was ich jetzt gerne sagen würde. Aber das darf ich nicht, also behalte ich es für mich. 

Stattdessen gehe ich auf Natalie zu und sage: „Drei Monate Kündigungsfrist.“

„Kannst du vergessen“, sagt Natalie. 

„Das ist Teil der Vereinbarung“, sage ich. 

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