26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Michael Heine

Auf Engelsflügeln

Die Nachricht hatte Susan Schmidt, 59, alleinstehend, den Boden unter den Füßen weggezogen, den kleinkarierten grauweißen Küchenfußboden. Auf dem sie jetzt lag, auf dem Rücken, ein Bein angewinkelt, und langsam wieder erwachte. Der Stuhl, an dem sie versucht hatte, sich festzuhalten, lag neben ihr. Sie starrte auf die leere weiße Decke, von der eine Lampe hing, die sie kannte. Sie starrte sie an, als sähe sie sie zum ersten Mal. Sie wollte sie nicht kennen. Sie wollte nichts und niemand mehr kennen und einfach nur so daliegen, warten bis die Kopfschmerzen aufhörten, dann wollte sie einschlafen und nie mehr aufwachen. Sie schloss die Augen.

Etwas Weiches, Warmes berührte ihre Wange und kitzelte ihre Nase. Sie musste niesen. Es war ihr Kater. Sie schob ihn weg und machte die Augen wieder zu. Aber es half nichts, er hörte nicht auf zu schnurren. Also gut, dachte sie, ich warte jetzt, bis mein Kopf wieder klar ist und nehme dann zwei Aspirin. Oder ich nehme die Aspirin besser gleich. 

Später saß sie am Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände und versuchte zu begreifen, was passiert war. Und ihre Gedanken zu ordnen, die sie umschwärmten wie  Stubenfliegen.

Ich muss meine Gedanken ordnen

Es war noch nicht lange her, an einem Frühsommermorgen, ich hatte gerade mein Müsli bereitet, Kaffee gekocht und die Terrassentür geöffnet, um die frische Luft und den Kater, der sich nachts immer sonstwo herumtreibt, hereinzulassen, als das Telefon klingelte. Es war die Praxis, bei der ich schon seit Ewigkeiten in Behandlung bin, insbesondere wegen der Kopfschmerzen. Und seit einiger Zeit wegen beunruhigend hoher IgM-Werte, die ein erhöhtes Krebsrisiko anzeigen. Ob ich vorbeikommen könne? Ich fragte warum und ob es dringend wäre. Das wisse es nicht, sagte das Telefon, aber es sei sicher wichtig, sonst würde sich der Doktor nicht die Mühe machen, mich selbst sprechen zu wollen. Heute Nachmittag pünktlich um 16 Uhr 30.                                             

Ich erschrak, aber es warf mich nicht um. Da war sie, die Nachricht, mit der ich schon lange gerechnet hatte. Nun war es also soweit! Meine Mutter war schon an Krebs gestorben. Da war er noch gnädig gewesen und hatte sich Zeit gelassen, sie ist über achtzig geworden. Dann traf es Julia, meine beste Freundin, sie war noch jung, eine Tragödie für ihre Familie. „Und für unseren Verein!“ dachte ich. Und nachdem es für meinen Mann keine Hoffnung mehr gab, habe ich ihn aus dem Krankenhaus geholt. Habe ihn wenig später zum letzten Mal umarmt und ihm versprochen: „Ich komme bald nach!“

Er hatte gelächelt und geflüstert: „Ich kann warten. Du wirst noch gebraucht.“

„Bitte setzen Sie sich. Wie geht es Ihnen?“ hatte der Doktor gefragt und mich dabei nicht angesehen. Er hatte eine gütige Stimme, aber er war zu dick, zu nervös und hatte es immer zu eilig. Ich hatte geantwortet:

„Das wissen Sie besser als ich!“

Der Doktor blickte auf seinen Bildschirm und seufzte: „Ja, leider. Frau Schmidt, wie lange kennen wir uns? Ich weiß, dass Sie stark sind! Deswegen sage ich es Ihnen gleich, ohne alle Umschweife: Ich habe die Ergebnisse unserer letzten Untersuchung bekommen. Und diesmal sind sie leider positiv.  Und, so traurig es ist, es gibt bereits Metastasen!“

Dann erklärte er mir, dass eine OP, eine Chemo ausgeschlossen wären. Man könnte vielleicht noch bestrahlen. Aber er wolle mir nichts vormachen, mir blieben wahrscheinlich noch sechs Monate, vielleicht auch neun. Und dass die Krankheit erst im Endstadium dazu führen würde, dass ich ins Krankenhaus müsse. 

 „Es bleibt Ihnen also noch etwas Zeit. Tun Sie das, was Sie schon immer tun wollten. Nehmen Sie sich Zeit für sich. Das höre ich immer wieder von Patienten: Oft zählen diese letzten Tage zu den besten ihres Lebens!“

Um Gottes Willen! Ich war empört, dass der Dicke es wagte, mir in dieser Situation solche Plattitüden aufzutischen! Ich war doch kein Idiot! Jetzt mussten ganz andere Dinge getan werden.

„Das war doch klar, dass das so kommen würde!“ sagte ich, um mich zu beruhigen. Und ihn zu ärgern.

Mit Julia, die ich nun nicht mehr um Rat fragen konnte, hatte ich den Verein gegründet. Das war vor acht Jahren, wir nannten ihn „Töchter der Erde“, und unser Ziel war es, etwas für die Umwelt zu tun. Wir wollten nicht untätig zusehen, wie alles den Bach runterging. Am Anfang waren es nur einige begeisterte Freundinnen, aber wir hatten den Zeitgeist getroffen, mittlerweile haben wir 121 Mitglieder. Das ist für unsere kleine Gemeinde eine stolze Zahl. 

Und wir waren erfolgreich. Wir konnten verhindern, dass die alte Kastanienallee zugunsten einer Straßenverbreiterung gefällt wurde. Wir haben dafür gesorgt, dass unsere Einkaufsstraße jetzt autofrei ist. Und wir kümmern uns um die Welt: Wir machen Eingaben gegen die Luftverschmutzung und demonstrieren gegen den Plastikmüll. Wir tun noch viel mehr! Aber ich will mich nicht selbst loben, ich bin die Erste Vorsitzende in unserem Verein.

 Und das genau war jetzt das Problem! Wem konnte ich, weil ich ja bald nicht mehr da war, die Leitung übergeben? Wer besaß genügend Verantwortungsgefühl und wer hatte die erforderliche Zeit?

Das war nur eine von den Schwierigkeiten, die sich nun vor mir auftürmten. Eigentlich hätte ich vor Sorgen zusammen- brechen müssen. 

Doch das tat ich nicht. Im Gegenteil! Ich fühlte eine Energie in mir, die ich vorher so nicht gekannt hatte. Nun, da ich wusste, wie es um mich stand, wo das Ende abzusehen war, wo die Zukunft nicht mehr im Dunklen, sondern kurz und übersichtlich vor mir lag, hatte ich keine Angst mehr. Statt dessen erfüllte mich ein nie gekanntes, kristallines Gefühl der Freiheit! Ich brauchte mir nichts mehr vorzumachen. Und anderen auch nicht. Nur noch, mindestens noch 6 Monate! Was danach kam, ging mich nichts mehr an. 

Und das Beste: Meine Kopfschmerzen waren verschwunden!

„Du siehst gut aus!“ sagte meine immer fröhliche Nachbarin. Was sie eigentlich nichts anging. Ich konnte sie sowieso nicht leiden, weil sie alles besser wusste und meine gut gemeinten Ratschläge für ihren Garten in den Wind schlug. Ihre Blumen waren nicht bienenfreundlich, sie mähte ihren Rasen viel zu oft und ihre Zufahrt hatte sie zubetoniert. Außerdem fuhr sie einen SUV und machte Kreuzfahrten auf diesen riesigen schwimmenden Dreckschleudern. Von denen sie jedesmal frisch gebräunt zurückkam, um Jahre verjüngt, und vom tiefblauen Meer schwärmte, von fernen Ländern, vom Käpt`ns Dinner „Ich habe sogar mit ihm getanzt!“ und kostenlosen Drinks in der Liege am Pool. Ich fand das zum Kotzen!

Beim Ordnen meiner Unterlagen – das tut man ja in solch einer Situation – habe ich eine Postkarte gefunden, die mir Julia, als wir kurz vor dem Abi standen, aus ihrem Amerikaurlaub geschickt hatte. Darauf stand, in aufwändig geprägter Schrift, die Weissagung der Cree-Indianer: Only after the last tree has cut down… Seitdem kenne ich den Spruch:  Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet Ihr merken, dass man Geld nicht essen kann. 

Ich warf die Karte zu den anderen aussortierten Sachen in den Müll. Wie alt war dieser Spruch eigentlich, hundert, zweihundert Jahre? 

Ein Abend mit Julia fiel mir ein. Es war nach einer Sitzung unseres Vereins, alle waren gegangen, nur Julia und ich wollten noch unseren Wein austrinken. Wir saßen in der Dämmerung, die letzte Amsel hatte sich gerade verabschiedet, der Lärm der nahen Straße wurde leiser. Da weckte Julia das Gespenst. 

Das Gespenst, das mit offenen Augen schlief, erhob sich lächelnd, auf Engelsflügeln, schöner noch als die Morgenröte, und schillerte in allen faszinierenden Farben eines schwarzen Ölflecks.

„Ich weiß nicht!“ sagte Julia. „Glaubst Du wirklich, dass wir etwas bewegen? Ich meine, so richtig nachhaltig?“

Und sie meinte damit die täglichen Nachrichten: Die schwindenden Wälder, das üble CO2, die abhanden gekommenen Gletscher, das ganze Schreckensszenario. Wieso eigentlich passierte das, während wir ständig etwas dagegen taten? 

Das Gespenst lachte. Es war ein lautes, befreiendes ansteckendes Lachen von der Sorte, bei der man den fauligen Atem kaum spürt, bei der man nicht anders kann, als mitzulachen. “Das wird schon!“ sagte das Gespenst und legte sich um unsere willigen Schultern wie ein warmer Schal aus kuscheligem umweltfreundlichen Kaschmir.

Gespenster, das wissen wir seit Rumpelstilzchen, kann man loswerden, indem man sie beim Namen nennt. Und jetzt, wo ich allen Ballast abgeworfen hatte, jetzt, wo ich frei war, wo ich ohne Brille sehen konnte, fiel mir der Name ein. Es war ganz einfach, ich sprach ihn aus, laut, langsam und deutlich: „IL-LU-SI-ON !“

Das Gespenst war so alt wie die Welt und erfand sich immer wieder neu. Es war bestens vernetzt, jeder kannte es, viele vertrauten ihm blind und viele, alle machte es süchtig. Als es seinen Namen hörte, verschwand es. Die Luft wurde glasklar und kalt.

Ich machte mir zum ersten Mal nichts vor. Diese Ahnung des Scheiterns, die unterschwellige Angst, dass unsere Arbeit, das Bemühen der „Töchter der Erde“, absolut sinnlos war – eine Illusion – diese Ahnung war plötzlich Gewissheit. Mein Gott, Susan, warum hast Du nur solange gebraucht? Jeder musste das doch begreifen! In all diesen Jahren, seit der Weissagung der Cree, hatte sich nichts gebessert, nichts, alles war schlimmer geworden. Die Welt konnte nicht gerettet werden. Das war die nüchterne Wahrheit! Auch unsere Angst, es nicht zu schaffen, war überflüssig! Warum sich mit Dingen aufhalten, die man nicht ändern konnte? Die Last der Verantwortung wurde mir von den Schultern genommen wie ein überflüssiger Rucksack. Und diese Erkenntnis machte alles so leicht. 

Julia, das hätte ich Dir so gern erzählt! Und gleich würde ich die „Töchter der Erde“ anrufen und es ihnen erklären. Und den Verein auflösen, er wurde nicht mehr gebraucht.

Aber zunächst wollte ich meine Nachbarin besuchen. Ich öffnete ihr Gartentor, lief über die betonierte Zufahrt, sah den makellos grünen Rasen, die gepflegten Blumenrabatten, und klingelte an der Haustür. Sie öffnete, wie immer freundlich, vielleicht etwas erstaunt über den unangekündigten Besuch, und sah mich erwartungsvoll an. 

„Wann machst Du Deine nächste Kreuzfahrt?“ fragte ich. Ihre Augen begannen zu leuchten und bevor sie anfangen konnte zu schwärmen, sagte ich:

„Kannst Du mich mitnehmen?“

Wieder zuhause, wollte ich eben die „Töchter“ anrufen, als es klingelte.

Das Telefon klingelte. Es war der dicke Doktor. Wie es ihr ginge, wollte er wissen. Und:

„Frau Schmidt, sitzen sie?“

„Ja, ich bin in der Küche. Wissen Sie eigentlich, Doktor, dass Sie recht hatten mit der besten Zeit des Lebens? Es ist genauso gekommen, wie Sie gesagt haben. Ich muss mich bei Ihnen bedanken!“

Schweigen in der Leitung, Unverständnis, dann seine viel zu gütige Stimme, diesmal betont munter: 

„Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass Ihr letzter Befund positiv ist. Das war leider falsch! Oder, was sage ich, es war Gott sei Dank falsch! Sie sind nicht positiv, Sie sind kerngesund! Ein Irrtum, ein dummer Zufall, dazu kommt Ihr nicht ganz seltener Name Schmidt. Wir wissen noch nicht genau, wie das passiert ist. Aber wir entschuldigen uns natürlich tausendmal und wenn Sie das nächste Mal kommen…“

Wenn Sie das nächste Mal kommen… ein Irrtum… ein dummer Zufall…  wenn Sie das nächste Mal… 

Susan kam erst nicht mit, dann wuchs die Erkenntnis. Wuchs und wich einer Leere, die sich manchmal ausbreitet, wenn wir einen unerträglichen Schmerz, eine unfassbare Nachricht erleiden. Die das Herz davor schützt, stillzustehen. 

Der Hörer sank auf den Küchentisch. Langsam hob sich der Vorhang. Nein, nein! Das durfte man ihr, die die Wahrheit kannte, nicht antun. Bis eben noch hatte sie zu den Auserwählten gezählt, die rechtzeitig gehen konnten. Wie sollte sie weiterleben? Tränen rannen ihr übers Gesicht. Ihre kristallklare, ihre schöne hoffnungslose Welt rollte über die Tischplatte, kippte über die Kante, zerplatzte auf dem kleinkarierten grauweißen Fußboden und verwandelte sich in schillernde Seifenblasen.

„Jetzt brauche ich niemanden mehr anzurufen,“ dachte Susan. Sie war nicht erleichtert. Außerdem hatte sie Kopfschmerzen.

Und das Gespenst, das sie doch eben erst erkannt und vertrieben hatte, war wieder da. Es lachte sein sorgloses, sein verführerisches, sein „Alles wird gut!“- Lachen und fragte sie, ob sie es jetzt noch einmal wagen würde, es in aller Öffentlichkeit beim Namen zu nennen.

„Ich brauche Dich!“ sagte Susan. Dann kippte sie vom Stuhl. 

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