26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Elisabeth Rettelbach

Das Leben ist eine Scheibe

Ich verbringe das Wochenende mit einem Mann, der mir gleichgültig ist und den ich kaum kenne. Den ich vor 15 Jahren ein bisschen kannte und seitdem nicht mehr. Was heißt kannte. Das Leben ist eine Scheibe. Alle gehen ihren Weg geradeaus. Manchmal verheddern wir uns kurz, dann lösen wir uns wieder voneinander und laufen alleine weiter bis über den Rand des Horizonts. So hätte es auch mit ihm und mir sein sollen. Und nun befinden wir uns plötzlich in der Dachkammer eines Hotels in Stockholm. Der Mann sitzt auf dem Bett, die Hände ineinander verschlungen, ich stehe am Fenster. Die Straßen unter mir flimmern in der Sommernacht, ich bin ein kalter Punkt über der Realität. Da laufen Wesen, da summen Winde, da rauschen Insekten in den Baumwipfeln. So schön, dass man es kaum ertragen kann. Wirklich: Das Universum ist flach, eine Scheibe, habe ich vor einigen Jahren gelesen. Das kann man messen, heißt es. Ich weiß nicht, wie und warum, aber mich überrascht es nicht. Alles ist linear. Wenn ich jemandem begegne, hinterlässt er einen flüchtigen Abdruck in mir, der sofort wieder erlischt. Was ich jetzt in dieser Sekunde sehe und fühle, kommt nie wieder.

Ich drehe mich vom Fenster weg, das Zimmer ist in Tinte getaucht. Mein Körper knistert, und das Zeug, das ich vorhin getrunken habe, macht mir die Augenlider schwer. Kurz sehe ich drei Gesichter in meinen Gedanken, zwei kleine und ein großes, aber ich schüttle sie sofort wieder ab. Der Mann auf dem Bett hebt den Kopf und sieht mich an. Mit ernsten, verletzlichen Augen.

„Und was machen wir jetzt?“, fragt er. Wie es mich nervt, dieses vorgetäuschte Überraschtsein.

„Was willst du von mir hören?“, antworte ich lächelnd. „Du hast doch alles eingefädelt, du wolltest unbedingt, dass ich komme.“

„Ja“, sagt er und reibt sich die Stirn. „Aber ich dachte, wir besuchen die Stelle, wo es passiert ist, mehr nicht.“

Ich lache. „Oh? Mehr nicht? Das hättest du auch alleine gekonnt. Die Vergangenheit ist mir gleichgültig.“ Das Fensterglas hinter mir zittert wie einen Insektenflügel. Warum bin ich eigentlich hier?

Ja, warum? Weil ich vor zwei Wochen plötzlich diese Nachrichten von ihm bekam. Während eines Meetings.

Ich bin bald in Stockholm. Komm doch auch.

Er schrieb, als würden wir jeden Tag chatten, dabei hatte ich fast 15 Jahre lang kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Wir folgten uns auf diversen Social-Media-Plattformen, aber ohne je miteinander zu interagieren. Sicher, er musste ab und zu mitkriegen, wenn ich etwas aus meinem Leben postete. Aber er likte nie. Und ebenso wenig kümmerte mich, was er von sich zeigte, seinen Hund, sein Kind, seine Frau. Sie war rothaarig, hatte ich einmal vage gesehen. Wie damals auch dieser… aber daran wollte ich nicht denken. So schrieb ich zurück, genauso nonchalant wie er:

Wie käme ich dazu?

Weil es im Sommer genau 15 Jahre her ist. Du weißt schon.

Ja, ich wusste. Aber ich schrieb:

Und wenn schon.

Unternimm einen Businesstrip nach Stockholm so wie ich. Würde dich sehr gerne sehen.

Sorry, aber keine Lust.

Es muss doch niemand erfahren.

Das gefiel mir. Es muss doch niemand erfahren. Das sandte ein Sekundenfieber durch meinen Körper. In einem Flash sah ich, was passieren würde. Meine Kopfhaut prickelte, ich kannte das Skript. Daran, was vor 15 Jahren passiert war, wollte ich keinesfalls denken, aber ich mochte seine Direktheit. Und ich mag diese kurzen, flüchtigen Verbindungen, dieses temporäre Verflechten von Leben, bei denen man nichts fühlen muss. Aus diesem Grund schrieb ich dann doch zurück: Vielleicht.

Später beim Abendessen zu Hause lag mein Handy umgedreht auf der Tischplatte und sandte kosmische Strahlen aus. Ich bildete mir ein, dass er, den ich geheiratet hatte, das Pulsieren des Geräts wahrnehmen und mich auf das Geheimnis ansprechen würde. Kleine blaue Flämmchen schlugen aus meinen Fingerspitzen, die Luft war radioaktiv, er musste es doch bemerken. Aber vielleicht wäre das auch in Ordnung. Vielleicht würde ich ihn von weither ansehen, und er würde verstehen, dass mein Körper längt über dem Horizont war und Lichtjahre entfernt in einer schäumenden Galaxie trieb. An einem Ort, zu dem er ohnehin nie Zutritt gehabt hätte. Aber nein, er sah es nicht. Letzten Sommer hatte ich ihm einen Gang zum Arzt verschwiegen. Er wäre entsetzt gewesen. Aber allein beim Gedanken an noch so ein rundes glotzendes süßes Mondgesicht ist mir schlecht geworden. Was schadete es also. Ich hatte ohnehin bereits Geheimnisse in meinem Leben, da konnte ich auch noch ein zusätzliches haben. Die Idee fühlte sich sogar gut an.

„In zwei Wochen muss ich beruflich nach Stockholm“, erzählte ich also zwei Tage später. Das konnte er glauben oder nicht. Aber er glaubt ja immer alles. Er ist ein naiver guter lieber Mensch. Einer, der sich gar nicht vorstellen kann, wie sehr das Leben eine Scheibe ist und herrlich und wunderbar es ist, nichts zu fühlen.

Als ich in Stockholm landete, lagen die Lichter der Stadt wie verkrusteter Zucker unter mir. Das Flugzeug kreiste über diesem Netz aus Leuchten, daneben glänzte schwarz das Meer, und der Horizont lag flach, gerade und dunkel. Als ich aus dem Flugzeug stieg, durchquerte ich ein Portal in die Vergangenheit. Irgendetwas brach auf in mir, eine kalte, schöne Wunde, die ich fast genoss. Arlanda kannte ich schon von damals als einen Flughafen mit schmutzig-dunkelgrünen Teppichen. Ich nahm den Utgång, der Flygbuss rauschte mich an grünen Wäldern vorbei, über ihnen ein geradezu elektrischer Himmel, der nicht sicher war, ob Tag oder Nacht. Ich wusste, wo ich hinmusste. Wo wir absteigen würden. In diesem alten Hotel in Södermalm. Nach dem Flughafenbus nahm ich die Tunnelbana Richtung Medborgaplatsen. Dort wehte mir der warme Wind um die Nase, ah, Sommer in Stockholm. Er ist kurz, nirgendwo feiert man ihn so wie hier. Vor 15 Jahren war ich das letzte Mal an diesen Straßenecken herumgelaufen. Mit der Abiklasse. Ich war ein lärmendes Etwas in einem Pulk von wilden jungen Menschen, die keine Sorge in der Welt hatten und nichts im Leben ernst nahmen. Alles war nur ein großer Spaß. Wer nicht mitmachte, selbst schuld. Wer nicht verstand, selbst schuld. Wer ein Spiel zu ernst nahm, was konnte ich dafür. Ja, jemand hatte damals ein Spiel zu ernst genommen, hatte sich ärgern lassen und war alleine über den Horizont gefallen- Aber was kümmerte mich das, es war nicht meine Schuld gewesen, kein bisschen sogar, und deshalb war ich nicht zurückgekommen. Es war nur aufregend, ihm, diesem Mann, nach so langer Zeit wieder zu begegnen. Ich ging meine Schritte von damals nach, überall sah man Leute unterwegs, Straßenkünstler, Skateboarder, Teenager, Schickeria, Kreaturen. An einem Stand kaufte ich mir korv och bröd, eine Riesenportion, aber ich verdrückte alles, und meine Schritte schwangen über dem warmen Beton des Gehwegs. Verdammt, war das Leben schön! Im Flugzeug hatte ich versucht, ein schlechtes Gewissen heraufzubeschwören, aber es wollte nicht kommen. Das Hotel stand da als ein herrlich verwinkelter Altbau mit einem großen grünen Innenhof. Unten in den ersten Etagen lagen samtige blaue Teppiche auf breiten Fluren, und Retroposter zogen sich die roten Wände entlang. Die Farben waren psychedelisch. Die Treppen wurden enger und enger, je weiter man das Gebäude erklomm, die Flure schmaler, das Holz dunkler. Das Hotel trocknete nach oben hin aus. Mein Schlüssel passte zu einem Kämmerchen ganz oben mit Dachschräge und Aussicht. In den erleuchteten Fenstern gegenüber bewegten sich Schatten. Niemand hatte die Vorhänge zugezogen, die Nacht schlüpfte durch die offenen Fenster hinein und wieder heraus. Dann schwebte sie in die nächste Wohnung und vermischte das eine Leben mit dem anderen. Die Idee gefiel mir.

Ich wusch mir das Gesicht, putzte mir die Zähne. Dann schickte ich ein Foto von meinem Zimmer nach Hause. Ich bin da. Es ist schön. Die Antwort kam sofort, garniert mit Emojis. Das sollte mich berühren. Einen Moment saß ich da und wartete darauf, dass es mich berührte. Es musste doch. Es musste mich doch berühren. Wenn ich alle Muskeln anstrengte, berührte es mich. Ich schickte auch einen Smiley, den mit den Herzchenaugen. Das ermutigte ihn, und er schickte mir einen Text mit allen Details des Tages, was sie und was die Meerschweinchen gegessen hätten und wie es mit den Hausaufgaben gelaufen war. Smiley, Daumen hoch, Zwinkersmiley, Küsschen-Smiley. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel. Mein Gesicht war glatt und fein und kalt wie Porzellan. Dann rief ich ihn an in seinem Zimmer, und er kam zu mir hoch.

Und nun sitzen wir hier auf dem Bett. Ohne Klamotten. Das hat nicht lange gedauert. Seine Augen sind so verletzlich und doch lauernd. Als wollte er mir etwas entlocken. Wir ziehen uns an, er fragt mich nach meiner Familie, will vielleicht hören, dass ich nicht glücklich bin, dass ich in Sühne und Schuld lebe, aber damit ist er bei mir in der falschen Adresse. Ich lache: „Mein Privatleben geht dich nichts an.“

„Wenn du willst, erzähl ich dir von meinem.“

„Nein, danke. Soll ich mich schlecht fühlen? So wie damals? Wir waren Teenager.“

„19 Jahre waren wir alt. Auf Abifahrt. Da versteht man, was richtig ist und was nicht.“

„Wir haben nichts getan.“

Er bricht in Tränen aus. Versteckt sein Gesicht in den Händen. Lässt sich wieder aufs Bett fallen und sitzt dort, vornübergebeugt, schluchzend. Als platzten 15 Jahre Schweigen aus ihm heraus. Verdammt. Wie versteinert stehe ich da. Etwas in mir pocht und rüttelt. Ich fasse ihn nicht an. Dieser Zusammenbruch, es ekelt mir vor Tränen. Diese schwitzenden, weinenden Körper, denen übelriechende Verzweiflung aus den Poren strömt. So etwas macht mich nicht weich. Ich sehe bei anderen Menschen, wie Tränen wirken, aber mich stoßen sie ab. Selbst bei meinen Kindern. Das darf man nicht laut sagen, und ich habe es bisher immer verbergen können, aber es ist so.

„Was immer du denkst, es ist nicht so passiert“, höre ich mich freundlich und kühl sagen. „Du erinnerst dich falsch, glaub mir.“

„Es war unsere Schuld.“

„Es war ein Unfall. Wir waren alle betrunken auf der Party damals. Woher hätten wir wissen sollen, dass er so sehr in dich …“

Er lässt mich den Satz nicht fertig sprechen: „Du weißt genau, dass es kein Unfall war.”

Irgendwann hört er auf zu heulen. Endlich. Ich will etwas essen. Er hingegen will sofort zu der Stelle laufen, wo es damals passiert ist. Natürlich will er das. Erst wehre ich mich, aber er sieht mich so an. Gut. Na gut. Ich habe nichts zu verbergen, ich fühle nichts, ich kann mitkommen. Wir laufen den Hügel hinauf, von dem aus man so schön über die Stadt schauen kann. Dort lag früher die Jugendherberge, in der es passiert ist. Wahrscheinlich ist sie noch immer dort. Ich will wirklich nicht hin. Meine Muskeln schmerzen, etwas klopft in meinem Hals. Bisher habe ich nie etwas gefühlt in dieser Sache. Ich sehe mich noch vor mir, wie ich mit den Augen rollte an dem Abend, während die anderen weinten. Wie ein Lehrer mit mir sprach und eine schwedische Polizistin und ich nur gelangweilt mit den Schultern zuckte. Aber es war doch wirklich nicht meine Schuld, wir waren keine Bullys, wir hatten nur ein bisschen Spaß. Woher hätten wir wissen sollen, dass er wirklich verliebt war. An sowas dachte man doch gar nicht. Stumm laufen wir nebeneinander her. Nach den ekelhaften Tränen kann ich ihn überhaupt nicht mehr anfassen. Oder doch? Denn wie wir so gemeinsam gehen, einen Fuß vor den anderen setzend, ein Ziel vor Augen, gehören wir irgendwie zusammen. Wir haben eine Grenze, eine Barriere, eine Schallmauer durchbrochen, die wir damals aufgebaut und seitdem nie wieder auch nur mit den Fingerspitzen berührt haben. Wir sind nicht über den Horizont gefallen, stattdessen sind wir im Kreis gelaufen und wieder am Ausgangspunkt angekommen. Der lila Himmel ist voller schwarzer Flecken wie Löschpapier, das sich langsam mit Tinte vollsaugt. Ah, ich lege den Kopf in den Nacken, und kann plötzlich kaum atmen vor Leben. Jetzt bin ich hier, genau jetzt. Genau in dieser Sekunde laufen meine Füße über den Planeten, der nur ein Staubkorn im Universum ist, und in hundert Jahren weiß niemand mehr, dass es mich gegeben hat. Die Zeit rast über den Horizont, Leute tauchen neben mir auf und verschwinden wieder, so schnell, dass man kaum Luft bekommt. Sie spielen und reden und schauen und gehen wieder. Die 15 Jahre sind so langsam und doch wie im Zeitraffer vergangen. Nach einer Weile bergauf stehen wir vor dem Haus, wir haben es gleich gefunden und erkannt, und sehen in den obersten Stock. Alles ist wie früher. Da oben gähnt das Fenster. Das Pflaster ist hart, meine Schuhspitzen klopfen prüfend gegen den Stein. Fast ist mir, als hörte ich Stimmen und Musik von dort oben. Er auch, glaube ich. Denn er steht neben mir und sieht mich von der Seite an, als sei ich der wichtigste und unheimlichste Mensch der Welt. Das gefällt mir. Man will ja etwas fühlen. Nicht wahr? Das alles hier ist nur dann Realität, wenn man etwas fühlt. Ich versuche es. 

“Wir waren schreckliche Menschen, wie konnten wir nur?”, höre ich ihn flüstern.

Ich wünschte, wir wären nicht hier, und doch rauscht das Blut plötzlich wie eine Meeresbrandung in meinem Kopf. Schön. Er nimmt mich in den Arm, und ich spüre, wie meine steinharten Muskeln seltsam weich werden unter seinen Händen. Die kalte ferne Wunde schmerzt, und in meinem Hals steckt ein Knoten, ich räuspere mich. Vielleicht gibt es uns gar nicht. Vielleicht sind wir nur eine Simulation. “Ja,” sage ich dann, ohne ihn anzusehen und ohne nachzudenken. “Es war schlimm, wir waren Monster.” Verdammt, etwas platzt in mir, etwas explodiert unter meiner Haut, eine schwere ölige Maschine setzt sich in meinem Körper in Bewegung. Ich sage es noch mal, zum singenden Wind, zum ultravioletten Himmel und zu diesem scharfen schwarzen Horizont da hinten, der plötzlich wunderbar rund und dreidimensional erscheint. 

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