26. MÜNCHNER KG-WETTBEWERB // EINGEREICHTE KURZGESCHICHTEN

Julia Kersebaum

Oliver Krieger sein.

  1. Oliver Krieger mietet sich ein Mädchen.

Ich miete mir ein Mädchen.

Drei Tage in einer Stadt, in der es nichts gibt, außer breiten, leeren Straßen. «Zu vermieten!»-Schilder in jedem zweiten Schaufenster. Starbucks, McDonalds, C&A.

Und ich miete mir ein Mädchen. Zum Zeitvertreib. 

Das Hotel ein Palast mit dicken Teppichen und Kronleuchtern aus dem letzten Jahrhundert.

Im Foyer ein ausladendes Bouquet an Plastikblumen. 

Ich checke ein.

Als «Oliver Krieger». Meinen Koffer in der einen Hand, meinen Mantel in der anderen. Es ist wärmer, als ich gedacht habe.

Der Mann am Empfangsschalter sagt: Schön, Sie wieder hier begrüßen zu dürfen, Herr Krieger.

Ich nicke. Abwesend.

Dann sage ich: Meine Frau kommt ein wenig später an… 

Der Mann nickt, lächelnd, unwissend.

Meine Frau, die so sehr Frau Krieger ist, wie ich Oliver Krieger bin.

Das Mädchen zu mieten kostet mich vier Clicks und die Angabe von Oliver Kriegers Kreditkartendaten. 

Sonst kann ich Stunden damit verbringen, das richtige Mädchen auszusuchen. Die Auswahl in dieser Stadt ist nicht allzu groß. 

Ich suche ein Mädchen aus, das studiert hat, schließlich möchte ich mich unterhalten können. Ich suche ein Mädchen aus, das langes Haar hat, schließlich habe ich zu Hause eine Frau mit kurzem Haar, die einmal ein Mädchen mit kurzem Haar war. Ich suche ein Mädchen aus, das Leichtigkeit versprüht, zumindest vermitteln die Fotos diesen Eindruck. Ich suche ein Mädchen aus, dessen Reize von ausreichend Stoff bedeckt sind. Ich möchte ein Mädchen, mit dem ich mich sehen lassen kann. Ich will Oliver Kriegers Ruf nicht ruinieren – schließlich ist er mir in den letzten Jahren ans Herz gewachsen.

Auf dem Zimmer packe ich meinen Koffer aus, hänge die Anzüge in den Schrank und starre einen Moment aus dem Fenster. Ein einzelnes Auto schiebt sich über die Straße, die für lebendigen Stadtverkehr ausgelegt ist. Ich bin zum dritten Mal in dieser Stadt. Jedes Mal ist es ein wenig stiller, ein wenig leerer. Die Stadt stirbt und ich sehe ihr dabei zu. Mit Faszination für das Ende.

Als es an der Tür klopft, stehe ich vom Schreibtisch auf, schließe den Laptop und streiche mein Hemd glatt.

Ich gehe durchs Zimmer, ein flüchtiger Blick in den Spiegel. Oliver Krieger ist bereit.

Dann öffne ich die Tür.

 

  1. Oliver Krieger war hier.

Ich sage: Hallo, ich bin Oliver.

Das Mädchen, das eigentlich kein Mädchen mehr ist, schüttelt meine Hand und sagt: Schön, dich kennenzulernen.

Ich bitte sie hinein und sie stellt ihren Koffer ab und sieht sich kurz um.

Das Zimmer ist geräumig genug, dass wir uns in den nächsten Tagen auch aus dem Weg gehen können.

Mit einer überraschenden Ruhe sieht sie mich an. Wie selbstverständlich bewegt sie sich durch den Raum. Lächelnd, ihre langen Finger auf der glänzenden Oberfläche der Anrichte.

Das Mädchen fragt: Hast du eine spezielle Vorstellung, wie die nächsten Tage ablaufen sollen?

Ich bin fast überrascht, dass sie noch nicht von Oliver Krieger gehört hat.

Ich nicke und reiche ihr eine Einladungskarte. Auf dickem Büttenpapier steht mein Name in goldenen Lettern. Mein richtiger Name.

Ich sage: Da muss ich heute Abend hin, morgen habe ich über Mittag eine Sitzung. Den Rest der Zeit wäre ich gerne Oliver Krieger.

Das Mädchen nickt. Immer noch lächelnd. Sie sagt: Sehr gerne.

Ich verlasse den Saal, noch zwei, drei Hände schütteln, bekannte und weniger bekannte Stimmen wünschen mir eine gute Nacht.

Ich nicke und lächle. 

Dann trete ich in die Nacht hinaus, öffne die Fliege, und fühle, wie ich Oliver Krieger werde.

Das Mädchen steht neben einer Straßenlaterne, eine Zigarette zwischen den Fingern und lächelt mich an.

Es bietet mir ein aufgeklapptes, silbernes Etui an und fragt: Raucht Oliver?

Ich zucke mit den Schultern und sage: Dieses Wochenende schon. 

Wir suchen vergebens eine Bar.

In einem Tankstellenshop kaufen wir eine Flasche Whiskey und ziehen entmutigt durch die nächtlichen Straßen.

Ich sage: Vor drei Jahren gab es zumindest noch zwei ordentliche Bars…

Das Mädchen nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche und sagt: Die Stadt stirbt aus.

Ich nicke, nachdenklich. Ich denke: In drei Jahren ist es eine Geisterstadt.

Das Mädchen fragt: Und was macht Oliver Krieger hier?

Ich denke einen Augenblick nach und sage: Oliver Krieger hält einen Vortrag… Oliver Krieger ist ein Kriegsheld. Er hat in einem schwer umkämpften Gebiet an einer fast unmöglichen Stelle einen Helikopter gelandet und eine Handvoll Soldaten gerettet, für die es sonst keinen Ausweg gegeben hätte. Dafür hat man ihm einen Orden verliehen und in seiner Heimatstadt eine Plakette auf die Hauptstrasse geklebt. Jetzt zieht er durchs Land und erzählt von seinen Heldentaten und von dem, was er daraus gelernt hat.

Das Mädchen verzieht anerkennend das Gesicht, reicht mir die Flasche und sagt: Beeindruckend.

Dann bleibt es stehen und sieht mich abwartend an. Es fragt: Und was hat Oliver daraus gelernt?

Ich zögere einen Augenblick. Dann sage ich: Dass es wichtig ist, Spuren zu hinterlassen.

Ich führe das Mädchen an der Hauptstrasse in Richtung Hotel und zeige auf einen der Bäume, die in exaktem Abstand von 3,75m entlang der Strasse stehen. Vor drei Jahren hat Oliver Krieger hier seine Initialen eingeritzt. Betrunken. Ein anderes Mädchen im Arm.

Ich fahre mit dem Finger über die Worte, die nun fast verwachsen sind.

Das Mädchen fragt: Hast du keine Angst, dass du verschwindest, und nur Oliver Krieger übrigbleibt?

Ich muss lachen. Oliver Krieger ist viel mehr ich, als ich es je sein könnte.

 

  1. Oliver Krieger ist echt.

Ich unterschreibe zwei Pressemitteilungen und drei Verträge. Dann wieder Händeschütteln. Es wird angestoßen. Auf einen Abschluss, der zahllose Arbeitsstellen kosten wird und uns einen ansehnlichen Bonus einbringt.

Ich frage: Wieso unterhalten wir hier eigentlich noch ein Büro? Die Stadt ist doch so gut wie tot.

Jemand nickt und sagt: Stimmt – aber durch die ganzen Subventionen kostet uns das Büro praktisch nichts – im Gegenteil.

Ich sehe mich um. All das Glas und all der Beton.

Oliver Krieger würde sich ekeln.

Ich stehle mich davon. Gesten der Entschuldigung. Die anderen machen einen Ausflug. Ich behaupte, ich müsste wieder zurückfliegen. Es lässt mich wichtiger erscheinen, als ich bin. Zuhause wartet niemand auf mich.

Das Mädchen hat ein Restaurant aufgetan, in dem das Essen nicht auf Plastiktabletts serviert wird.

Wir trinken Wein und lachen viel.

Das Mädchen hat die Beine übereinandergeschlagen und wippt langsam mit dem in der Luft schwebendem Fuß.

Es fragt: Wie oft kommt Oliver denn so raus?

Ich überlege kurz, dann sage ich: Wann immer möglich.

Das Mädchen nippt an seinem Glas, sieht sich dann im Restaurant um und fragt: Wie wäre es, wenn wir hier ein paar Spuren hinterlassen würden?

Sie beißt sich auf die Unterlippe und lächelt dann.

Oliver Krieger hält das für eine gute Idee.

Wir sitzen am Wasser und beobachten den Sonnenuntergang.

Vor uns, in der Hafenanlage, dutzende verlassene Kleinyachten, deren Besitzer nicht länger die Steuern zahlen wollen oder können. Schmutzige Schiffsrumpfe, mit Muscheln übersät, gesprungene Scheiben, abgerissene Seile, die der Wind durch die Luft wirbelt.

Ich erzähle von Oliver Kriegers Abenteuern.

Ich sage: Nach der Militärakademie habe ich mich gleich freiwillig gemeldet. Ich fand, das war meine Pflicht. Und ich habe es gerne getan.

Ich schaue auf die Boote und sage: Erst Marine, dann Luftwaffe.

Das Mädchen nickt, hört zu und streicht sich ab und zu das Haar zurück, das der Wind aufwirbelt.

Ich sage: Ich hatte Glück. Ich bin zurückgekommen. Von meinen Freunden hat es viele erwischt…

Einen Moment bin ich betrübt. Für Oliver Krieger. 

Vielleicht auch für mich. Ich hatte nie die Gelegenheit Männerfreundschaften von dem Ausmaß zu schließen, so wie Oliver Krieger sie erlebt hat. 

Ich fahre fort: Nach der Uni wollte ich zuerst ein ganz normales Leben – mit Haus, Frau, festem Job – aber irgendwie passt das nicht zu mir… also bin ich eine Weile lang durch die Welt gereist, hab andere Länder kennengelernt, andere Menschen. Schließlich habe ich dann angefangen Vorträge zu halten. Erst in kleinem Kreis, dann immer größer. Meine Geschichte hat viele Leute interessiert.

Das Mädchen nickt langsam, einen Augenblick lang schleicht sich etwas wie Mitleid in ihren Blick.

Ich überlege, wann ich beschlossen habe, mir Oliver Krieger zuzulegen. Ich kann mich fast gar nicht mehr an eine Zeit ohne Oliver erinnern. Ich denke: Als der Blick in den Spiegel unerträglich geworden ist.

Wir schlendern durch das Einkaufszentrum. Glänzende Fassaden, strahlende Verkäufer, die Besucher unterhalten sich flüsternd, als wären es heilige Hallen.

Das gemietete Mädchen an meinem Arm.

Ich kaufe ihr ein Paar überteuerte Ohrringe. Sie sagt: Danke, Oliver.

Oliver Krieger ist das Echteste, was dieser Ort zu bieten hat. 

 

  1. Oliver Krieger kann immer.

Abends sitzen wir in der Hotelbar. Auf einer Serviette mache ich eine Kosten-Nutzen-Rechnung.

Das gemietete Mädchen hat mich einen zweistelligen Prozentanteil meines Bonus’ gekostet. Auf der Nutzenseite stehen Geschlechtsverkehr und das Gefühl von Freiheit, das Oliver Krieger sein in mir auslöst.

Wenn ich Oliver Krieger bin, habe ich keine Geschichte, keine Verantwortung, keinen Alltag. Wenn ich Oliver Krieger bin, schwebe ich über den Dingen.

Das Mädchen pickt die Oliven aus seinem Cocktail, lächelt mich an und schaut sich um.

Außer uns eine Handvoll Anzugträger. Niemand lächelt. Dies ist kein Ort für gute Laune.

Ich zerknülle die Serviette und schaue das Mädchen an.

Ich weiß nichts über sie. Weder Oliver noch mich interessiert sie. Wer sie ist, woher sie kommt. Sie ist eine von vielen. Eine flüchtige Bekanntschaft, nicht mehr. Jemand, den wir nicht vermissen werden.

Ich sage: Wenn du ausgetrunken hast, gehen wir aufs Zimmer.

Meine Hand auf ihrem Oberschenkel. 

Das Mädchen muss sich rechnen.

Sie liegt auf dem Bett, gefangen in zerwühlten Laken, und schläft.

Der Geruch von Schweiss und Saft in der Luft. Die Klimaanlage arbeitet sich an unserer Menschlichkeit ab.

Ich klappe den Laptop auf und starre durch das Fenster in die Nacht hinaus. Unbeleuchtete Fenster, leere Parkplätze, ein paar Baumspitzen biegen sich im Wind.

Ich gleiche Oliver Kriegers Kreditkartenkonto aus. Dann starre ich auf den Kalender und überlege, wann ich mich wieder ablegen kann. Wann ich wieder Oliver Krieger sein kann.

Ich sortiere uns auseinander. Oliver muss noch aus dem Hotel auschecken. Dann verschwindet er und ich tauche wieder auf, um meinen Rückflug anzutreten. Der gefälschte Führerschein in meiner Hand, das Bild darauf sieht mir nur noch entfernt ähnlich. Oliver Krieger hat volleres Haar als ich, ein runderes Gesicht, Lachfalten. Oliver Krieger sieht zufrieden aus.

Mein Blick auf dem Mädchen. Weiße Haut auf weißem Laken.

Ich spüre die Erregung zurückkehren. Noch eine Nacht lang Oliver Krieger sein. 

Ich klappe den Laptop wieder zu, stehe auf und lasse mich neben das Mädchen aufs Bett fallen.

Ich schaue an mir hinunter. Schmunzelnd. Befreit.

Oliver Krieger kann immer.

Ich ziehe das Mädchen in Position. Sie wehrt sich kaum.

Oliver Krieger kann immer und braucht nie Rücksicht nehmen.

Das Mädchen drückt den Kopf ins Kissen. Oder Oliver drückt ihren Kopf ins Kissen. Die Grenzen verschwimmen im Eifer des Akts.

Oliver Krieger lacht zufrieden.

 

  1. Oliver Krieger verschwindet. 

Wir essen Frühstück im Bett und ich packe langsam meinen Koffer. Das Mädchen stopft seine Sachen zusammengeknüllt zwischen die Plastikdeckel und lächelt schüchtern. Oder verschüchtert. Eins von beidem.

Oliver bestellt ein Taxi zum Flughafen.

Dann streift er die Boxershorts ab und setzt sich auf die Bettkante. Den Blick auf das Mädchen gerichtet. Fordernd.

Sie kniet sich hin. Ihre Ellenbogen auf seine Knie gestützt und senkt den Kopf.

Vor der leeren Stadt unser farbloses Spiegelbild in der Scheibe. 

Ich lege den Kopf in den Nacken und horche auf die angenehme Stille. Ein Lächeln auf den Lippen. Ich bin zufrieden. Mit mir, mit Oliver, mit der Auswahl des Mädchens.

Wir fahren schweigend mit dem Fahrstuhl hinunter in die Lobby und sie steht bei den Koffern, während ich auschecke.

Der Mann am Empfangsschalter sagt: Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt, Herr Krieger.

Ich nicke. Ich sage: Ja, danke.

Wir schieben die Kreditkarte über das Pult hin und her. 

Als ich Oliver Krieger schließlich in meiner Tasche verstaue und mich verabschiede, wünscht der Mann am Empfang uns einen schönen Tag.

Ich nehme meinen Koffer und das Mädchen und ich verlassen das Hotel.

Mein Taxi steht bereit.

Ich nicke ihr kurz zu und sage: Auf Wiedersehen.

Sie nickt ebenfalls, dann läuft sie los. Die leere Straße entlang. Nur das Klackern der Plastikräder in der Stille. Ich schaue ihr einen Augenblick nach, dann steige ich ein.

Das Taxi fährt an, wir rollen an ihr vorbei. 

Mein Blick in ihr Gesicht. Sie sieht unendlich müde aus.

Ich lehne mich im Sitz zurück und denke an die nächsten Tage. An all die Aufgaben und all die Termine.

Ich denke daran, dass Oliver Krieger verschwinden wird. Begraben unter Alltag. 

Einen Moment lang bin ich betrübt.

Dann denke ich an die farblose Reflexion in der Scheibe des Hotelzimmers.

Oliver Krieger wird verschwinden, aber er wird nie ganz weg sein.

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