Siegergeschichten des 23. Münchner Kurzgeschichtenwettbewerbs

Der 23. Münchner Kurzgeschichtenwettbewerb ist durchgeführt, knapp 1000 gültige Einreichungen, 32 in der letzten Runde und vier Siegertexte auf der Publikumslesung.

Alle Texte der letzten Runde (knapp 100 Stück) werden nun nach und nach in der Storyapp veröffentlicht. Storyapp downloaden (kostenlos), aufmachen, links oben auf Themen gehen, nach unten zum 23. Münchner Kurzgeschichtenwettberb scrollen, loslesen.

Das Thema “Nichts ist wahr, alles ist erlaubt” haben wir aus Friedrich Nietzsches Traktat ‚Also sprach Zarathustra’ entnommen, getrieben von einem differenzierten Gefühl davon, was wahr sein will, oder erlaubt. Der Irakkrieg wurde auf Basis von Fakten erklärt, die sich Jahre später von Anbeginn als unrichtig entpuppt haben, die Wahrheiten über den Syrienkrieg oder den Ukrainekonflikt scheinen eine Frage der Perspektive zu sein. Ist die Wahrheit so komplex, dass wir sie nicht ermessen können oder liegt sie einfach meist oder immer im Auge des Betrachters? Degeneriert die Wahrheit technologisch zu einem Algorithmus dessen, was die meisten wollen, suggestiv gesteuert durch weltumspannende Macht-Netzwerke? Ist das Internet ihre Demokratisierung oder ihre Verklappung in Masse und Konsum? Und im Privaten genauso? Ist eigentlich nichts wahr, in unseren Partnerschaften, in den Beziehungen zu Freunden und Bekannten? Ist die Lüge im Interesse der eigenen Darstellung der Normalfall? Alles nur ein Fegefeuer der Eitelkeiten?

Hier sind die vier bestplatzierten Texte – alle Geschichten der letzten Runde auf storyapp. Über die außerordentliche Qualität der Geschichten haben wir uns sehr gefreut, über die phantasiereichen Bearbeitungen genauso. 

 


Erster Platz (Publikumspreis): „Kim unterm Sofa“, Franziska Hauser

Seit zwei Jahren habe ich mein gelbes Zimmer nicht mehr betreten. Jetzt stehe ich darin wie eine Detektivin und überlege, warum Kim mich nicht verstehen konnte. Damals war sie schnell hineingehuscht, wie eine Katze unters Sofa. Niedlich, dachte ich. Diese kleine hübsche Südkoreanerin in ihren schwarzen Klamotten. Sie wird sich schon eingewöhnen. Kim Chang hatte ich zur Begrüßung mit bunten Buchstaben an die Wohnungstür geklebt.

Sie war sechzehn und ging auf das Gymnasium, auf das auch mein Sohn gegangen war, als er noch im gelben Zimmer lebte.

Vielleicht wird Kim meiner Tochter die Nägel schwarz lackieren, so wie es die spanische Gastschülerin gemacht hatte, die vor Kim im gelben Zimmer gewohnt hatte. Vielleicht werden wir gemeinsam südkoreanisch kochen, wie wir mit der Japanerin japanisch gekocht hatten, oder wir werden nächtelang auf dem Balkon sitzen und reden, wie mit der Kolumbianerin. Morgens werde ich wieder ein paar mehr Schulbrote schmieren und abends etwas Essen auf dem Herd stehen lassen.

Als ich mir das so vorstellte, hatte ich noch keine Ahnung von Kim. Und wenn ich mir jetzt vorstelle, was ich mir damals vorstellte, dann verstehe ich nicht mehr, wie ich mir das hatte vorstellen können.

Ich mag keine leeren Zimmer. Ein überflüssiger Raum sollte bewohnt, ein leeres Bett benutzt werden, fand ich. Jedes mal, wenn ich im gelben Zimmer die Wäsche aufhängte, dachte ich, verdammt, warum wohnt hier keiner?

Je benutzter der Zustand der Wohnung, umso wohler fühle ich mich darin. Indem jederzeit Essen auf dem Herd steht, sorge ich ständig für Besuch. Die Türen sollten offen sein. Aber Kims Tür war verschlossen und Kim war es auch.

Kim blieb eine Katze. Sie benutzte die Wohnung nur dann wie eine Wohnung, wenn wir sie nicht benutzten. Sobald sich ein Schlüssel in der Tür drehte, schlich sie flink in ihr Zimmer und versteckte sich. Es war unheimlich, wie lautlos sie sich bewegen konnte und über die sonst knarrenden Dielen glitt, wie ein schwarzer Schattengeist. Ein unheimlich schreckhafter allerdings, denn im Moment der Begegnung zeigte sich plötzlich, dass sie doch auch ein Mensch war. Wenn sich eine Begegnung im Flur nicht vermeiden ließ, zuckten ihre Schultern, sie drückte sich an die Wand, umkurvte mich wie Radfahrer die Glasscherbe und sagte Schüligung.

Irgendwann würde sie damit aufhören, die Tür einen Spalt zu öffnen, um zu sehen, ob niemand im Flur war, bevor sie ihr Zimmer verließ. Sie wird sich nicht ewig auf Zehenspitzen bewegen können, dachte ich nach den ersten Wochen und wartete auf den kulturellen Austausch, wie er im Programm für Gastschüler vorgesehen ist. Aber Kim war an keiner Art von Austausch interessiert, sondern schien sich in meiner Gegenwart in Luft auflösen zu wollen. Ich dachte sehnsüchtig an Marinika, die Spanierin, deren lachendes Foto noch immer am Flurspiegel hing.

Fast war ich erleichtert, dass Kim sich zumindest im Bad sicher fühlte, sobald sie den Riegel zugeschoben hatte. Es war anhand der Geräusche anzunehmen. Sie ließ alles fallen. Beim Duschen ließ sie den Duschkopf fallen und beim Föhnen den Föhn und irgendetwas anderes ließ sie bei irgendetwas anderem fallen. Der Duschkopf bekam Risse und sprühte in alle Richtungen, der Föhn funktionierte bald nicht mehr, und in der Küche war es dasselbe. Die Katze aß nachts. Sie benutze die Küche nur, wenn ich sie nicht benutzte. Fallen Gelassenes fegte sie achtlos zusammen und warf es weg. Nachts tat sie, was ich am Tag tat. Sie kam und ging und vergaß bei jedem Gehen etwas, sodass sie zurückkam, die Wohnungstür offen stehen ließ, in ihrem Zimmer kramte und wieder ging. Ich lag wach im Bett, verfolgte Kims Bewegungen und hörte, dass sie sogar ihre Zimmertür offen ließ, die sie bei Tag nur einen Spaltbreit öffnete. Während Kim tagsüber auf Strümpfen schlich, als würde ich schlafen, ging sie nachts in Schuhen, als wäre niemand da.

Nachts lud sie Freunde ein, die in der Wohnung herumgeisterten und flüsternd auf dem Balkon saßen. Es kam mir vor wie ein Traum, wenn ich in der Küche Wasser holte. Morgens fanden sich vergessene Dinge. Ein Silberdöschen mit Cannabis lag auf dem Balkon, ein Handy auf der Waschmaschine, eine leere Bierflasche neben dem Mülleimer. Die Wohnung kam mir vor wie ein Park, in dem die Nachtbewohner auf der Wiese liegen lassen, was sie im Dunkeln nicht hatten sehen können. Am Morgen zeigt sich eine leichte Unordnung. Das Licht hat die Verwüstung abgebrochen, die Dunkelheit zuckt mit den Schultern und weiß von nichts.

Als ich Kim danach fragte, lächelte sie und sagte Schüligung.

Es zeigte sich, dass Kim sich von mir nicht erziehen ließ, sondern ich mich von ihr.

Viele Gastschülerinnen hatten schon im gelben Zimmer gewohnt und sich in der Wohnung so benommen wie zu Hause, ohne zu registrieren, wie wir uns eigentlich in der Wohnung benahmen. Die Spanierin Marinika küsste mich morgens auf die Wangen, weckte meine Kinder, küsste sie in ihren Betten, sang in der Dusche, kochte ihre Nudeln für alle und trug den Müllbeutel hinunter.

Kim hielt es offenbar für höflich, so zu tun, als sei sie nicht da, und benahm sich, als hätte ihr jemand beigebracht, nicht von selbst zu sprechen, immer zu lächeln, niemals ein eigenes Bedürfnis zu haben und nirgends Spuren zu hinterlassen. Stieg ich versehentlich mit ihr in den Fahrstuhl, weil Kim es nicht geschafft hatte, das zu vermeiden, dann stand sie mit dem Gesicht zur Wand und sah nach unten, wie ein ungehorsames Kind, das man in die Ecke verbannt hatte.

Sie brachte mir bei, sie zu ignorieren. Ich wohnte, als wäre ich mit meiner Tochter alleine, und es kam vor, dass ich nackt durch den Flur ging. Ich vergaß Kim tagelang. „Du hast eine Gastschülerin?“, fragten Besucher. „Wo denn?“ Meine Freunde bekamen sie nicht zu sehen, und ich konnte ihre Anwesenheit schwer beweisen. Wenn ein paar Eier fehlten, dachte ich: Sie lebt noch, ein Glück. Als wäre sie ein Pflegehamster, der seinen Besitzern wohlbehalten zurückgegeben werden musste.

Ab und zu fiel mir Kim wieder ein. Ich passte sie im Flur ab und lud Kim zum essen, sie lächelte, nein, vielen Dank und eilte peinlich berührt weg, als hätte ich ihr angeboten, mit mir zu duschen. Meine Einladung auszuschlagen schien ein Fehler zu sein, für den sie sich schämen musste. So schien es mir bald ein Fehler, sie einzuladen, und ich ließ es. Kim hatte mich erzogen.

Monatelang versuchte ich, mich damit abzufinden, ein Lebewesen zu beherbergen, das sich bei mir nur ohne mich wohlfühlte. Ich kam nach Hause und da lag wieder stumm ihre Wäsche im Bad und im Kühlschrank fehlten wieder stumm ein paar Eier und nachts tappte sie wieder stumm durch den Flur und aus der Küche roch es wieder stumm nach Kimchi und aus allem kroch wieder die stumme Sorge, dass ich es falsch machte mit Kim.

Vielleicht hatte Kim recht. Warum sollten wir Familie spielen? Mit welchem Anspruch erwartete ich von einer Sechzehnjährigen Interesse an fremden Leuten? „Ist dein Berghain-Pinguin zu Hause?“, fragte mein Sohn, wenn er mich am Wochenende besuchte, und es kam mir spießig vor, gemeinsam am Abendbrottisch zu sitzen, während Kim ihre weiten schwarzen Klamotten anzog, ihre Zigaretten einsteckte, ihr Cannabis-Döschen und meinen Schlüssel.

Manchmal kam am Montagmorgen ein junger Mann aus dem gelben Zimmer, wenn Kim schon in der Schule war, als wäre er darin vergessen worden.

Im Dezember schien Kim Winterschlaf zu halten. Selten sah ich ihren schwarzen Rücken mit den Tourdaten einer Band darauf durch den Flur ins Bad schleichen und wieder zurück in ihre Höhle.

Ich wusch ihre weiten Pinguinsachen, legte sie als Stapel auf den Klavierhocker im Flur, wie im Hotel. Ob der Stapel noch dalag oder nicht, war das einzige Zeichen für Kims An- oder Abwesenheit, da sie ihre Zimmertür nie öffnete, wenn ich daran klopfte. Das hatte ich in den ersten Wochen herausgefunden. Ich musste so tun, als würde die Wohnung brennen, die Fäuste gegen die Tür donnern und laut Rufen Kiiiim! Kiiiim! Mach mal auf! Dann hörte ich es lange rumpeln und nach einer Weile öffnete sie lächelnd. Schüligung? und sah mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen. Ich klopfte nicht mehr an ihre Tür. Es war mir zu aufwendig. Sie hatte mich erzogen.

Einmal war Kim ganz aufgeschlossen. Sie kam in die Küche, während ich mit meiner Tochter Abendbrot aß, sah uns an und fragte: Gibt’s noch was? Ich ahnte kurz, wie schön es mit ihr sein könnte. Aber ich konnte sie mir unmöglich immer bekifft wünschen nur um besser mit ihr auszukommen. Schließlich sollte sie ihr Abitur schaffen.

Inzwischen wusste ich, wie mit ihr umzugehen war, und hätte für weitere Gasteltern einen Zettel schreiben können, wie man ihn für Urlaubshunde schreibt: Frisst nur Eier und nur nachts, darf nicht gestreichelt werden, ist sehr tollpatschig und hat Angst vor großen Menschen. Wenn man sie an die Leine genommen hat, kann man mit ihr reden.

Immer öfter roch es nach Gras aus Kims Zimmer, und ein Gespräch war schließlich unvermeidbar. Brav blieb sie stehen wie ein Tier im Lichtkegel, als ich sie im Flur durch plötzliches Ansprechen eingefangen hatte. Ich setzte mich mit ihr in die Küche und stellte ihr alle Fragen, die mir einfielen. Kim erzählte, sie müsse in Südkorea täglich von acht bis zweiundzwanzig Uhr in der Schule sein. Danach hätte sie Nachhilfe bis Mitternacht, würde sechs Stunden schlafen und wieder zur Schule gehen, um wahnsinnig schnell wahnsinnig viel auswendig zu lernen und gleich wieder zu vergessen. Am Wochenende müsse auch gelernt werden, der Abistress sei hart, Eltern und Schule machten Druck, und die Selbstmordrate unter Jugendlichen sei die höchste weltweit. Kim lächelte, sagte, sie sei sehr glücklich hier, es ginge ihr sehr gut, sie sei sehr zufrieden, und nein, kiffen würde sie im Zimmer jetzt nicht mehr.

Kim fing an, mir leid zu tun. Als ich die zuständige Bezugsperson des Gastschülerprogramms anrief, weil ich der Meinung war, täglich kiffende Jugendliche sollten größtmöglichen Ärger bekommen, sagte die Bearbeiterin, Kim tut ihnen leid? SIE tun mir leid!

Mir tat auch die Bearbeiterin leid. Ich war Kims dritte Gastmutter. Bei allen anderen hatte sie nach wenigen Wochen um eine neue Unterkunft gebeten.

Zwei Frauen der Organisation kamen und während des Gesprächs im Wohnzimmer war es als hätten wir Kim im Käfig eingesperrt. Solange sie nicht an den Augen gelassen wurde, tat sie glücklich und zufrieden, um nur bald wieder frei gelassen zu werden. Sie behauptete, alles zu verstehen, bestimmt zur Drogenberatung zu gehen und nahm den Flyer zwischen Daumen und Zeigefinger wie etwas das sie kurz für jemanden festhalten sollte.

Dass sie ihn nicht lesen würde war auch den beiden Frauen klar.

 

Kim wollte sich nicht reglementieren lassen. Grundsätzlich sei dagegen nichts einzuwenden, fand ich und bestand nie darauf, dass sie um 22:00 Uhr zu Hause war. Nur ohne Reglementierung schien Kim die Welt nicht zu verstehen. Deutschland hatte sie als Kind mit ihren Eltern für ein paar Monate in Stuttgart kennengelernt, und seitdem hatte sie dem südkoreanischen Drill wieder entkommen wollen. Aber ihre Methode, scheinbar zu funktionieren, behielt sie bei, obwohl sie überflüssig geworden war. Eine andere kannte sie nicht.

Als ich im Supermarkt hinter ihr in der Kassenschlange stand, sah sie weder mich noch die Verkäuferin, sondern verhielt sich, als hätte sie es mit einem Kassenautomaten zu tun und ich überlegte, ob dieses abwesende Verhalten in der Öffentlichkeit aus einer Kultur entsteht, die auf reibungsloses Funktionieren ausgerichtet ist, oder ob sich durch das Aufwachsen in der Enge großer Menschenmengen ein imaginärer Schutzschild bildet.

Nachdem ich Kim das Kiffen im Zimmer verboten hatte, verrauchte sie eine Menge Gras auf dem Balkon. An Geld mangelte es ihr offenbar weniger als mir. Ihre Kleidermarken wiesen mich beim Aufhängen ihrer Wäsche darauf hin, als würden sie sich dafür schämen.

Als ich ihre nassen Sachen auseinanderfaltete, war es, als würden mir ihre Kleider mehr Einblick in Kims Gedanken erlauben, als sie selbst. Ich glaubte zu erkennen, wie verwirrend es für sie war, mit Erwachsenen umzugehen, ohne gemaßregelt zu werden. Sie wusste nicht, was ich stattdessen von ihr wollen könnte.

In Deutschland ist alles verboten was nicht ausdrücklich erlaubt ist. In meiner Wohnung aber war bis auf Kiffen im Zimmer eigentlich nichts verboten. Halte dich nur an Regeln die du einsiehst, ist ein Satz, mit dem ich meine Kinder erzogen habe.

Aber Kim ging davon aus, dass sie alles nur falsch machen konnte und machte vorsichtshalber einfach alles heimlich.

Manchmal konnte es vorkommen, dass Kim etwas kochte, wenn ich nach Hause kam. Ich stellte meine Einkaufstaschen in die Küche und versuchte es im mütterlichen Tonfall. Komm, wir können hier zusammen kochen, die Küche ist groß genug! Es war nichts zu machen. Sie lächelte, sagte ja, alles gut und verschwand. Ihr scharfes Kimchi in Puppenstubenmenge ließ sie im kleinsten Kochtöpfchen, stehen und holte es sich erst, wenn ich schlief. Katze, dachte ich.

Kim kiffte weiter in ihrem Zimmer. Dem besinnungslosen Funktionieren war sie entkommen, musste es nicht auf eine gute Seouler Uni schaffen und war nun der besinnungslosen Gelassenheit verfallen, als wolle sie sich vorsichtshalber für die guten Unis unbrauchbar machen.

Diesmal ließ ich ihre Erziehung an mir nicht mehr zu. Nach der letzten Abiturprüfung wurde sie vom Gastprogramm ausgeschlossen.

So wie Kim alles fallen ließ, was sie gerade nicht brauchte, ob aus Ungeschicklichkeit oder aus einem geisterhaften Bedürfnis, alle anderen Geister um sie herum durch plötzlichen Krach zu vertreiben, so ließ sie auch nach zwei Jahren im gelben Zimmer alles liegen, was sie nicht mehr brauchte. Koffer, Bücher, Jacken, Schuhe, Kosmetik, einen Reiskocher, einen großen Spiegel, eine Großküchenpackung Chilipulver, ein Smartphone mit Sprung und eine Menge Dreck. Der Schlüssel lag eines Tages auf dem Tisch. Kim war verschwunden, ohne sich zu verabschieden, so wie sie gekommen war, ohne mich zu begrüßen.

Im Abschlussfragebogen der Gastschülerorganisation, beantwortete ich alle Fragen mit Nein. Hat die Schülerin sich in den Familienalltag integriert? Haben Sie viel gemeinsam unternommen? Hat sie sich an die Regeln gehalten? Haben sich Freundschaften entwickelt? Würden Sie eine weitere Gastschülerin aufnehmen? Nein sage ich, als die Organisation anruft und mich bittet, nur für drei Wochen eine Schweizerin zu nehmen.

Was von Kim übrigbleibt ist eine Erfahrung, die mir bisher gefehlt hat. Es ist der gescheiterte Versuch, eine diffuse Diskrepanz zu überwinden. Kim ließ nicht mit sich verhandeln.

Nach zwei Jahren weiß ich nichts von Kim und sie nichts von mir. Sie ist gegangen und hat ihren Geist in meiner Wohnung zurückgelassen. Wenn der Wind eine Zimmertür bewegt, flüstern wir: Kim.

Sie hat in meinen Räumen eine Parallelwelt angelegt, sie nur in den Zwischenräumen benutzt und auf ihre seltsame Weise in einer anderen Wohnung gelebt als ich. In einer anderen Zeit auch. Kim bleibt als schwarzer Schatten aus dem gelben Zimmer in meiner Erinnerung, als hätte sie als Mensch den Weg zwischen Seoul und Berlin nie zurückgelegt.


Zweiter Platz (Jurypreis): „Atelier mit fleckigem Sofa“, Sigrid Eyb-Green

Wie immer findet die Verwandlung zwischen den Stockwerken statt. Vor dem Spiegel im Lift trägt sie den Lippenstift auf und zieht den Haargummi von ihrem Zopf; dafür reicht die Zeit vom ersten bis zum dritten Stock. Dort steigt sie aus, sperrt die Wohnung auf und tritt ein. Sie lässt den Beutel mit ihren Yogasachen auf den Boden fallen und zieht die Türe hinter sich zu. Einen Augenblick lang steht sie da und lauscht dem Geräusch der ins Schloss fallenden Türe nach; ein Knall, der rasch in sich zusammenfällt. Danach liegt die Wohnung wieder in ihrem Gespinst aus Stille.

Sie tritt zunächst zur Kommode, legt dort ihre Handtasche ab und blickt in den Spiegel, der darüber hängt. Der orange Lippenstift lässt sie verwegen aussehen, wie jemand, der auf fremden Sofas schläft und nicht einmal eine Zahnbürste dabei hat. Ihr Haar fällt glänzend dunkelbraun mit nur wenigen silbrigen Fäden über die Schultern; er hatte es gerne gemocht und ihr bei der Begrüßung immer mit der Hand über den Kopf gestrichen wie einem Mädchen. Jetzt schlüpft sie aus den Schuhen und weiß dann nicht weiter; ein Fremdkörper ist sie hier.

Zögernd beginnt sie schließlich einige Schritte den Gang entlang zu gehen. Der schmale weinrote Läufer ist in der Mitte schon etwas ausgetreten, die Farbe ist dort stumpfer als an den Rändern. Das ist ihr bisher noch nie aufgefallen; auch das helle Rechteck an der Wand, das aussieht wie ein Lichtfleck, hat sie vorher nie bemerkt. Oder ist da früher ein Bild gehangen? Aber welches? Es irritiert sie, keine Erinnerung daran zu haben, und für einen Moment steht sie gedankenverloren vor der Fehlstelle. Dann öffnet sie die Küchentüre. Der schale Geruch von kaltem Kaffee und Zwiebeln hängt noch in den Winkeln dieses Raumes, der ihr fremd ist und den sie bisher nur betreten hatte, um ihr leeres Weinglas in die Spüle zu stellen. Jetzt steht sie vor den Einbaukästen mit den beigen Fronten, die längst aus der Mode gekommen sind, und findet sich nicht zurecht.

Sie sucht nach einer Flasche Rotwein und öffnet die Türe zur Speisekammer. Dort sind Marmeladegläser sorgfältig in den Regalen aufgereiht; die Etiketten in einer spitzen, etwas ungelenken Handschrift beschriftet. Ganz unten befinden sich die frühen Jahrgänge, die bis fast zu ihrem Geburtsjahr zurückreichen; hier ist die Schrift runder und weniger krakelig. Die Reihen von Gläsern erscheinen ihr wie ein Museum vergangener Sommer, und sie schließt rasch die Türe, als hätte sie etwas gesehen, das nicht für ihre Augen bestimmt war. Darauf sieht sie sich weiter nach einer Flasche Wein um und bemerkt dabei, dass mehrere Fliesen gesprungen sind, der Griff einer Lade fehlt, der Wasserkocher mit einer Kalkkruste überzogen ist. Über der Spüle tickt eine Uhr, als wäre sie das Herz der Küche, das einfach weiter schlägt, auch wenn der Raum längst verlassen ist, weiter schlägt wie ein Herzschrittmacher.

Endlich findet sie den Rotwein zwischen Dosen mit Gulasch und gefüllten Paprika und gießt sich ein Glas ein; dann dreht sie sich um, verlässt rasch die Küche, quert den Gang und betritt das Wohnzimmer. Bei ihrem ersten Besuch, es war ein Abend im Frühsommer gewesen und noch hell, war ihr der Raum großzügig und elegant erschienen. Licht war flach durch die Fenster gefallen und hatte sich im Luster verfangen, und jedes Ding schien von seinem eigenen, inneren Leuchten erfüllt zu sein; nur oben an der hohen Decke sammelte sich diffuse Dunkelheit wie Nebel. Sie hatte vergessen die Schuhe auszuziehen und bemerkte es erst, als er ihr einen Sessel anbot und es schon zu spät war; er überging den Fehler höflich. Sie unterhielten sich über Belanglosigkeiten, geplante Reisen, Schilcher aus der Südsteiermark, den er besonders mochte; sie kannte sich damit nicht aus und lenkte das Thema auf ein Theaterstück, das sie neulich gesehen hatte. Dabei trank sie den Wein in nervösen kleinen Schlucken, sah den Abdruck ihres Lippenstifts am Glasrand, normal trug sie keinen, hoffte, dass er nicht verschmiert war, überlegte, ob sie den Roman, den sie gerade las, erwähnen sollte oder er ihn als leichte Unterhaltungslektüre belächeln würde, stellte sich vor, den Wein durch eine unachtsame Bewegung auf den Teppich zu verschütten, redete allzu viel über ihre Kindheitserinnerungen an entgleiste Urlaubsreisen, ein Monolog in ungelenk aneinander gefügten Sätzen, schwieg dann abrupt und sah sich verstohlen im Raum um. Der große, schwere Tisch aus dunklem Holz mit den sorgfältig rundum angeordneten Sesseln schien ihr schon lange nicht mehr benutzt worden zu sein.

Unsicher steht sie nun in dem Raum und legt eine Hand auf die glatte, kühle Tischplatte, als könne ausgerechnet sie ihr Halt geben. Erst nach einer Weile bemerkt sie, dass die Pendeluhr in der Ecke stehen geblieben ist; sie müsste aufgezogen werden. Er hatte es ihr einmal vorgeführt und den kleinen Messingschlüssel hinter einer Figurine hervorgeholt, in das Schlüsselloch unter dem Ziffernblatt gesteckt und einige Male gedreht. Es gefiel ihr, mit welcher Sorgfalt und Konzentration er diese Tätigkeit ausführte, und sie erinnert sich noch deutlich an das leise Schnurren des Uhrwerks. Erleichtert darüber, eine Aufgabe erledigen zu können, tastet sie hinter der Figurine nach dem Schlüssel und dreht ihn drei, vier Mal um; sie hört das präzise, metallische Klicken, dann beginnt die Uhr so ruhig und regelmäßig zu ticken, als hätte es keine Unterbrechung gegeben.

Der ganze Raum scheint sich durch das Ticken plötzlich aus einer Schlafstarre zu lösen und in seinen gewohnten Rhythmus zurückzufallen. Das stumpfgrüne Sofa, die Bücher in den bis zur Decke reichenden Regalen, der Luster und die bunten Masken an der Wand erwachen wieder zum Leben, einem Stilleben.

Die Masken hatte er aus Mexiko mitgebracht. Er, der Gelehrte und Weltreisende, stets gut gekleidet in Cordhose und Jackett, die nur mit den Jahren zu weit geworden waren, so wie diese Wohnung etwas zu groß für ihn geworden war und lose an seinem Körper zu hängen schien. Obwohl er sein ganzes Leben hinter Büchern verbracht hatte, hielt er sich sehr aufrecht, den Kopf ein wenig geneigt, so dass er immer aussah, als höre er aufmerksam zu, auch wenn sie gar nichts sagte. Seine Abwesenheit lässt nun den ganzen Raum vernachlässigt wirken; es ist nur eine fast unmerkliche Verschiebung, als hätten sich die Lichtverhältnisse verändert, eine vorüberziehende Wolke, deren Schatten sich auf das Zimmer legt, und plötzlich ist alles schäbig: die fehlenden Finger der Porzellanfigur, der durch ein helles Holzbrett ersetzte Regalboden, der fadenscheinig gewordene Sofabezug und die Staubschicht auf den Büchern.

Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Weinglas, geht zurück auf den Gang und öffnet vorsichtig die letzte Türe ganz hinten. Das Bett ist ordentlich gemacht, stellt sie erleichtert fest. Auf dem Nachtkästchen liegt ein aufgeschlagenes Buch; sie hebt es kurz an, um den Titel lesen zu können. Es ist etwas Populärwissenschaftliches über Hirnforschung, er hat ihr davon erzählt. Daneben befinden sich zwei angebrochene Tablettenschachteln, ein leeres Glas, Taschentücher.

Dieser Raum ist ihr immer schon ein wenig karg erschienen. Ein Bücherregal, ein Kleiderkasten, ein Doppelbett, das ist alles. Auf dem Regal stehen gerahmte Fotografien; eine Frau, die an der Reling eines Schiffes lehnt, ein Junge in bunt gemustertem Hemd, wie es vielleicht vor vierzig Jahren modern war, ein Mädchen mit Pferdeschwanz. Die Fotos sind unauffällig und waren ihr erst beim vierten oder fünften Besuch aufgefallen. Von den Kindern hatte er aber schon bei ihrem ersten Treffen erzählt; die Neurowissenschaftlerin, die nach Zürich gezogen war, der Drehbuchautor, der mit dem Job in einer Werbeagentur über die Runden kam.

Sie leert das Weinglas mit ein paar großen Zügen, stellt es auf dem Nachttisch ab und setzt sich auf die Bettkante. Dieses erste Treffen war vor gut zwei Jahren bei einer Lesung gewesen, zu der sie eine Freundin begleitet hatte. Er war am Nebentisch gestanden, und als ihre Freundin in ein Gespräch mit dem Verleger verwickelt wurde, begann er die Unterhaltung. Sie redeten über den Text, der vorgetragen worden war, und dann über einen Roman desselben Autors, den sie beide gelesen hatten. Er war ein höflicher Gesprächspartner, hörte aufmerksam zu und brachte ein zweites Glas Wein, als sie ihres ausgetrunken hatte.

Irgendwann ging er dann vor die Türe, um zu rauchen, und sie gesellte sich zu ihm. Eine Weile standen sie so nebeneinander in der warmen Sommernacht neben dem Eingang. Licht fiel durch die großen Scheiben des Cafes auf den Gehsteig, und er zog schweigend an seiner Zigarette, während sie dem Rauch nachsah. Ihre Unterhaltung kam nach dem Ortswechsel nicht mehr in Gang, auch war sie ein wenig benebelt vom Wein und der Wärme. Ein leichter Abendwind wehte die Samen eines Ahornbaumes über die Straße, und die trockenen Flügel kratzten leise am Asphalt.

Da sagte er plötzlich und ohne Einleitung, dass er einsam sei. Nach dem Tod seiner Frau habe das begonnen, die Tochter nicht im Land, mit dem Sohn ein schwieriges Verhältnis, die Freunde dünnten sich auch aus in seinem Alter. Er sehne sich nach einer Berührung, einem Körper, dem er nahe sein könne. Vielleicht auch Sex, aber darum ginge es nicht hauptsächlich. Wieder eine schöne Frau ansehen, lange habe er das nicht erlebt, lange habe er auch nicht mehr zu leben, und es sei gewiss nicht so, dass im Alter die Sinne abstumpften, im Gegenteil. Ob sie ihn also besuchen wolle, einmal die Woche. Er sagte „besuchen“. Er werde das selbstverständlich auch bezahlen. Das alles trug er ruhig und mit einer Entschlossenheit vor, als habe er die Worte lange einstudiert. Und sie sagte zu, fast ohne zu zögern, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, auf ein solches Angebot einzugehen, als gäbe es ihren Mann und die beiden kleinen Kinder nicht, als habe sie nur darauf gewartet.

Sie sah ihn ab da jeden Donnerstag und erzählte ihrem Mann von einem neuen Yogakurs, den sie besuche. Die Abende verliefen immer ähnlich: sie lagen nackt nebeneinander in dem großen Doppelbett, er betrachtete sie, fuhr manchmal die Linien ihres Schlüsselbeins mit einem Finger nach, roch an ihrem Haar. Manchmal schliefen sie miteinander, aber das war nicht das Wesentliche, wie er es schon zu Beginn vorhergesagt hatte. Ab und zu las er ihr Gedichte vor oder erzählte ihr die eine oder andere Anekdote aus seinem Leben. Sie beschrieb die Skulpturen, an denen sie arbeitete; große Formen aus Draht und Papier, die sie mit Lippenstift bemale. Sie schilderte ihr Atelier mit einem Sofa voller Farbflecken, die Kunstpostkarten an der Wand, ihre Sammlung an Fundsachen, die ihre Skulpturen inspirierten: seltsam geformte Plastikteile, eine Schlangenhaut, Marillenkerne. Manchmal hatte sie den Eindruck, er habe sie längst durchschaut und wusste, dass all das erfunden war, aber er ließ sich nichts anmerken; es war ein stillschweigendes Abkommen zwischen ihnen.

Sie steht auf und sucht in dem Bücherregal nach dem Gedichtband, aus dem er vorgelesen hatte. Erst nach einer Weile erkennt sie das schmale grüne Buch, zieht es hervor, blättert ein wenig darin, überfliegt das eine oder andere Gedicht, aber sie erscheinen ihr nun bedeutungslos, und sie stellt den Band zurück. Sein Sohn hatte am Telefon gesagt, sie solle sich etwas aussuchen aus der Wohnung. Zum Andenken, er wolle nichts von den Sachen. Sie öffnet den Kleiderkasten, wo sich gebügelte Hemden und Cord-Jacketts aneinander reihen. In Regalen daneben sind dunkelblaue, dunkelrote, dunkelgraue Wollpullover gestapelt. Sie zieht einen blauen hervor und schlüpft hinein; draußen auf dem Gang betrachtet sie sich im Spiegel. Der Pullover ist ihr zu groß, aber die Farbe steht ihr. Sie geht zurück und schließt die Kastentüre, wirft noch einen Blick auf das Bett, die flache Delle in der Decke, wo sie vorhin gesessen war, verlässt dann den Raum, nimmt die Handtasche und wirft einen flüchtigen Blick im Spiegel.

An diesem Punkt ihres Besuches, dem letzten Blick in den Spiegel, hatte er ihr immer das Kuvert mit dem Geld zugesteckt. Eine kleine Geste, die sie rasch hinter sich brachten, auch das ein stillschweigendes Abkommen. Der Betrag schien ihr hoch, aber sie hatte keine Ahnung von der Preisgestaltung in solchen Fällen, wenn es solche Fälle überhaupt sonst gab. Sie brauchte das Geld nicht; ihr Mann verdiente gut, und sie selbst arbeitete halbtags in der Universitätsbibliothek und hatte ihr eigenes Einkommen. Die Kuverts steckte sie in die oberste Schreibtischlade unter einen Stapel Kunstpostkarten, die sie nie verschickte. Ein einziges Mal gab sie etwas von dem Geld aus und kaufte drei Paar teure Schuhe mit lächerlich hohen Absätzen, die sie in den originalen Schachteln hinten im Kleiderkasten stapelte und nie trug.

Hier am Gang kreist der Stechschritt der Küchenuhr um das behäbige Ticken aus dem Wohnzimmer wie ein Trabant, bis die Bahnen durch eine Dehnung, eine kleine Zeitverschiebung ins Wanken geraten, Herzschläge stolpern, sich überlagern und die Dissonanz an ihren Schläfen reibt. Rasch zieht sie ein Taschentuch aus der Handtasche, wischt den Lippenstift ab, bückt sie sich nach dem Beutel mit ihren Yogasachen und verlässt die Wohnung. Mit federnden, weit ausholenden Schritten geht sie los, wie sie es jedes Mal gemacht hat. Jetzt erst, beim Gehen, spürt sie die diffuse Fehlstelle irgendwo im Brustkorb, und sie weiß nicht einmal genau, was dort vorher gewesen war.

Der Abend ist warm, fast wie im Hochsommer, obwohl die Schule schon begonnen hat und in den Schaufenstern Kleider und Jacken in gedämpften Farben drapiert sind. Es hat schon lange nicht mehr geregnet, und die Scheiben der Auslagen sind staubig. Der blaue Pullover ist viel zu warm und fühlt sich plötzlich an wie eine erdrückende Umarmung. Sie bleibt stehen, stellt ihre Tasche ab, zieht den Pullover aus und stopft ihn in den nächsten Mistkübel. Dann kramt sie in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift und malt damit im Gehen einen orangen Strich an der Hausmauer entlang, bis die Hülle an der Mauer kratzt; sie wirft sie ins nächste Gebüsch. Statt mit der Straßenbahn zu fahren wie sonst, geht sie zu Fuß nach Hause.

Ihr Mann räumt gerade den Geschirrspüler ein, als sie die Wohnung betritt. Sie hängt den Beutel mit den Yogasachen auf den Garderobeständer, legt die Handtasche auf das Schuhkästchen und streift die Turnschuhe ab. Wie war die Yogastunde so? fragt er. Nicht so toll, antwortet sie, ihre Yogalehrerin sei zurück nach Berlin gegangen, die neue nicht so ihr Typ, total nervig, irgendwie abgehoben. Sie werde aufhören. Er nickt kurz, schiebt einen Teller zwischen schmutzige Schüsseln, schließt die Spülmaschine und richtet sich auf, die Hand aufs Kreuz gelegt. Helena hat Ohrenschmerzen, sagt er, und es gibt noch Spaghetti.

Sie geht ins Kinderzimmer und streicht ihrer schlafenden Tochter über das Haar. Hier in der Dunkelheit entfaltet sich plötzlich die Fehlstelle in ihrem Brustkorb und dehnt ihr die Rippen auf, bis sie schmerzen. Sie starrt auf das kleine rote Licht, das in einer Ecke leuchtet, und streicht über das glatte Haar. Ein paar Jugendliche unten auf der Straße lachen. Der rote Punkt ist ein winziges pulsierendes Glutnest und Helenas ruhiger Atem gleitet durch die Stille wie die Gezeiten. Das rote Licht bohrt sich durch ihr Rippenfell und verschwimmt und sie weiß nicht, ob sie um ihn weint, um das Sofa mit den Farbflecken oder den Lippenstift.


Dritter Platz: Ezio“, Joachim Biedermann

Jeder Andere wäre an dieser Stelle aufs Pflaster gesegelt, doch Ezio meistert den Sprung von der Dachkante des einen Hauses auf den Balkon des nächsten mit katzenhafter Leichtigkeit. Problemlos vollführt er einen Klimmzug, überquert ein weiteres Dach und arbeitet sich Gebäude um Gebäude vorwärts. Ihn interessiert das Treiben unten in den Gassen nicht, für ihn zählt nur seine Mission: Borgia finden und dabei selbst unentdeckt bleiben-

Was ist denn? Ich gehe in den Pausenmodus und spähe aus dem Fenster. Draußen wirkt alles ruhig, hoffentlich bleibt das so.

Okay, ich sag’s lieber gleich, ich bin Zocker aus Leidenschaft, damit Alle die das nicht interessiert hier gleich aussteigen können. Zocken ist das Einzige, von dem ich sicher weiß, dass ICH ES WILL. Denn mal ehrlich, mein real life ist mehr als bescheiden und besteht aus dürftiger Ausrüstung und einer absolut lahmen story. Alles wiederholt sich bis zum Erbrechen. Aufstehen, Frühstück, Schule, Essen, Hausaufgaben, wieder Essen, Schlafen, Aufstehen – merkt ihr was? Die Belohnungen sind sowas von geizig: vorgestern habe ich von Frau Oppermann zwei Euro fürs Rasenmähen bekommen. Zwei Euro – Ezio würde sich deswegen nicht mal bücken.

In der Schule mussten wir Erörterung schreiben, ich habe als Thema gaming vs. real life gewählt und dafür eine Liste aufgestellt, in der sämtliche features verglichen werden. Hier, hab ich ausgedruckt und an die Wand gehängt. Man sieht ganz deutlich, dass real life in allen Kategorien schlechter abschneidet mit Ausnahme der Grafik, die ist wirklich top. Nirgends siehst du auch nur ein Pixel und die Übergänge haken kein bisschen. Aber nur wegen der Grafik die ganzen Nachteile? Gewinnen ist im real life so gut wie unmöglich und du kannst nicht einfach raus wenn es dich nervt.

Vielleicht bringt mal jemand eine neue Version auf den Markt, z. B. ‚Real Life 2‘ – okay, das war nur ein Scherz. Meistens zocke ich Warhammer, Uncharted und natürlich mein Lieblingsgame Assassin‘s Creed. Bei Daniel auf der PS 4 manchmal auch Fortnite, obwohl mir der Hype um das Spiel extrem auf die Eier geht. Ach ja, und dann noch Boom Beach und Grim Defender, meine  Handyspiele.

Seit Tagen hänge ich bei Assassin’s Creed II an derselben Stelle. Aber morgen kann ich ausschlafen, wenn mich jetzt niemand stört, bringe ich das Spiel vielleicht zu Ende…

„Bastian, spielst du schon wieder?“

Meine Mutter –  Mann, kann die nervig sein. Als hätte sie meine Gedanken belauscht, unterbricht mich ihre schrille Stimme aus dem Nebenraum.

Wetten, gleich kommt ‚hast du deine Schularbeiten-‘

„Hast du deine Schularbeiten gemacht?“ Na also.

Ich bin doch kein Kind mehr und ob sie es glaubt oder nicht: die Schule habe ich im Griff, l-o-c-k-er. Daniel sagt immer, wer schlechte Noten hat, kapiert einfach das System nicht. ‚Schule ist auch nur ‘n Game, Alter‘, sagt er, ‚und keins der anspruchsvollsten. Sammle einfach so viel Punkte wie du für den nächsthöheren Level brauchst, das ist alles‘.

„Bastian, warum kriege ich keine Antwort?“

„Klar, hab‘ sie gemacht.“

Mama stresst sogar wenn sie nicht im Zimmer ist – ich nenne das Fernnerven. Schon komisch, denn eigentlich interessiert sie sich nicht für mich. Ich glaube sie hat niemals nachgefragt, welches Game ich spiele.  

Aus dem Wohnzimmer quillt dumpfes Prollgeschrei herüber und das ist Problem Nummer Zwei. Wobei es natürlich Nummer Eins wäre müsste ich die Probleme der Bedeutung nach anordnen. Er heißt Udo und ist glücklicherweise nicht mein Erzeuger, ich muss ihn aber trotzdem ‚Vater‘ nennen. Normalerweise regelt sich das mit Mamas Lovern nach kurzer Zeit von selbst, aber ausgerechnet dieser Arsch bleibt anscheinend bei ihr hängen. Dönert den ganzen Tag auf dem Sofa rum, zieht sich Hartz-TV rein und schimpft auf die Regierung. Nur wegen ihm kriege ich nie Besuch von Freunden, nicht etwa weil ich #spielsüchtig wäre. Ach, und alle paar Wochen eine Dusche könnte auch nicht schaden. Ich glaube für ihn bin ich der totale  Versager. Wenigstens schlägt er mich nicht – und das obwohl er die Hälfte der Zeit im rage mode verbringt. Nichts ist wahr…

Also wieder zurück zur PlayStation. Sobald das UbiSoft-Logo auftaucht und ich Ezios unverwechselbare Gestalt in Aktion sehe, fühle ich mich zuhause. Ezio ist der Held in Assassin’s Creed II. Die Kapuze seines Umhangs gibt sein Gesicht immer nur für Momente frei, während er durch die Gassen des mittelalterlichen Venedig huscht als würde ihn eine unsichtbare Strömung mit sich tragen. Seine Gegner sehen das Markenzeichen des Assassinen, den versteckten Dolch, meist erst wenn es zu spät ist. Ich jedoch habe inzwischen ein Gefühl für die Waffe entwickelt, glaube sie im Inneren des Controllers zu spüren. Ezio führt seine Mission aus und darum beneide ich ihn.

Im Moment beherrscht der bevorstehende Kampf gegen Rodrigo Borgia und seine Schergen Ezios Verstand. Er wird auf dem Dach des nächsten Gebäudes stattfinden, das terrassenartig gestaltet und von hüfthohen Begrenzungsmauern eingerahmt ist. Das ‚Adlerauge‘, ein special feature, warnt uns vor der drohenden Gefahr: die zahlreichen Gegner halten beinahe jeden Winkel besetzt, jeder von ihnen trägt mindestens ein Schwert. An dieser Stelle darf nicht das Geringste schiefgehen, sonst sind wir tot noch bevor unser zweites Bein das Schlachtfeld betreten hat. Mit jedem gescheiterten Versuch wächst die Angst beim Anschleichen. Ezio bewegt sich wie immer in leicht gebeugter Haltung, wird dabei schneller und schneller. Noch drei Meter, noch zwei, die Dolchklinge gezückt und schließlich der entscheidende Sprung über die Begrenzungsmauer. Beinahe vergesse ich zu atmen.

Geschafft! Auf dem Dach des palastähnlichen Gebäudes beginnt der Kampf. Blitzschnell scannt Ezio seine Gegner, checkt die eigenen Optionen und mögliche Schwachstellen der Gegner.

Ausgerechnet jetzt geht draußen das Geschrei los und erreicht mich durch den Spalt meines gekippten Fensters. So ein Müll, meine Konzentration ist weg. Problem Nummer Drei, die Nachbarn, hatte ich schon beinahe vergessen. Bis zu der Sache mit der Katze waren sie für mich nicht mehr als eine side quest, diffuser Hintergrundlärm, manchmal obszöne Wortfetzen oder eine Kippe, die durch die Dunkelheit segelt wie ein lahmes Leuchtspurgeschoß.

Die Dachlandschaft vor meinem Fenster ist mit dem Schauplatz aus Assassin’s Creed II nicht vergleichbar: unser Wohnsilo sieht aus wie nebeneinander gestellte Treppen, die im Nichts enden. Wir bewohnen die zweitoberste  Treppenstufe, so dass wir auf das Dach der tiefer gelegenen  Stufe sehen können. Habt ihr jemals Minecraft gespielt? Ein bisschen wie Bed Wars, nur nicht ganz so krass.

Keine Ahnung ob die Katze einen Besitzer hat oder jemals vom Dach runterkommt, jedenfalls habe ich sie nie unten auf der Straße gesehen. Vermutlich ist das Dach einfach ihr persönlicher dungeon. Ihr graues Fell ist von einer wirren Zeichnung aus schwarzen Streifen durchzogen. Manchmal steht sie vor meinem Fenster, meist wenn Mama nicht da ist und ich vor der Play Station esse. Sie reckt ihren Kopf nach oben und schnuppert. Das sieht aus, als würde ihre Nase eine geheime Botschaft auf ein unsichtbares Stück Papier zeichnen. Leider lässt sie sich nicht streicheln.

Knapp mannshohe Betonklötze stehen über das Dach verteilt, in denen Luftschächte oder anderes technisches Zeug untergebracht sind. Irgendwann im letzten Herbst brüllten sie rum wie eine Horde Psychos und zwar auf der anderen Seite des Luftschachts, der mir die direkte Sicht auf die Fenster der Nachbarn versperrt. Wirklich derbe Flüche konnte ich raushören und dass es um die Katze geht. Steine schwirrten durch die Gegend, wie von einer Schleuder geschossen. Die Katze war verschwunden als ich rausschaute, aber sie mussten sie erwischt haben, denn seit diesem Tag kann sie ihr linkes Hinterbein nicht mehr richtig gebrauchen.

Ich fühlte mich allein und weinte. Wegen der Katze und meiner eigenen Ohnmacht. Hätte ich bloß den alten Spielstand wieder laden können! Noch so ein Nachteil, für den ich das real life hasse. Ich überlegte was Ezio getan hätte, mir fiel aber nur eine seiner Assassinen-Weisheiten ein: ‚Handle! Jedoch warte auf den rechten Moment‘.  Ich handelte nicht, redete mit niemandem – nichts ist wahr.

Hinsetzen, konzentrieren, Spiel neu laden und weiter. Ich versuche wieder eins mit Ezio zu werden, doch anfangs bleibt unsere Verbindung fragil. Borgia und seine Männer kreisen uns ein. Ezio sucht nach einem Weg unsere Ausgangsposition für den Kampf zu verbessern. Wir sitzen in der Falle.

Warum muss ich ausgerechnet jetzt an den Jungen denken? Ich drücke die Pausentaste und reibe meine Augen. 

Auch ohne Ezios Adlerauge weiß ich, dass hinter dem Luftschacht etwas nicht in Ordnung ist. In meinem Kopf dröhnt das Credo der Assassinen: ‚Nichts ist wahr‘- und wenn es stimmt, was der Junge erzählt hat? Ist dann alles erlaubt? Ohne Scheiß, manche Dinge würde man lieber nie erfahren. Oder sofort wieder vergessen, was ich seit fast zwei Wochen erfolglos versuche.

Normalerweise ist es abends still auf dem Dach, nur die Lüftungsschächte dröhnen leise. Selbst die Tauben gurren um diese Zeit nicht mehr. Deshalb hing ich sofort am Fenster, als ich draußen jemanden rumlaufen hörte, konnte aber nur den Bereich sehen, den der Lichtkegel meiner Schreibtischlampe erhellte. Also schnappte ich mein Handy, aktivierte die Taschenlampenfunktion und kletterte durch das Fenster in die grobpixelige Dunkelheit – es gibt also doch Grafikmängel im real life. Ein Geruch nach gekochtem Gemüse wehte von irgendwoher und ich glaubte Stimmen zu hören. Vielleicht aus dem Luftschacht, auf den ich mich nun zubewegte. Der Kies mit dem das Dach bedeckt ist knirschte unter meinen Füßen. Wer immer dort auch sein mochte würde mich also hören, und das Gefühl dort oben nicht allein zu sein wuchs mit jedem Schritt. Ich wünschte mir Ezios Schleichkünste oder sein ‚Adlerauge‘, am besten beides.

Als Erstes sah ich seinen Schlafanzug, denn er war aus hellem Stoff und hing an ihm dran wie eine müde Flagge. Der Junge stützte sich mit einer Hand an den Luftschacht und riss seine Augen auf als wäre ich Satan persönlich. Sein rechter Fuß schob hastig Kieselsteine auf irgendwas das ich nicht sehe konnte.

„‘machst’n da?“

Es sah aus, als würde er gleich losheulen.

„ Du verrätst mich nicht, ja?“

Seine Stimme war so dünn wie er selbst und zitterte die Worte eins nach dem anderen raus. 

„Kannst dich drauf verlassen.“

„Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten.“

Ich kapierte nicht gleich, aber dann erklärte er mir, dass er Zimmerarrest hätte und sich aus Angst vor seinem Vater nicht aufs Klo traue.

„Bevor du’s nächste Mal aufs Dach kackst kommst du zu mir rüber, klar?“

Ich musste ihm nochmal versprechen ihn nicht zu verpetzen, bevor ihn die Nacht wieder wegschluckte.

Nichts ist wahr, nichts ist wahr. Alles ist wahr. Was ist erlaubt? Ich kramte im Inventar meiner Erinnerungen, checkte meine Möglichkeiten. Suchte nach meinem Auftrag, etwas in der Art wie bei Ezio: ‚Belausche die Wachen‘ oder ‚Finde Borgia‘. Dachte an meine Mutter, wie sie mich angesehen hatte wann immer ich mich hilfesuchend an sie gewandt hatte. Es war jedes Mal dasselbe, als wäre sie teilweise aus Glas, nicht vollständig anwesend oder so. Unser Mathelehrer Herr Mayer fiel mir ein. Was genau ist erlaubt, Herr Mayer? Er sah mich stirnrunzelnd an und fuhr fort in seinem Versuch mir Vektoren zu erklären.

Die Schreie von drüben sind nicht mehr zu überhören.  Ezio, hilf mir, bitte! Weiter, wir müssen weiter. Es ist schon spät und irgendwann werde ich ins Bett müssen.

Ein weiteres Mal verbinde ich mich mit Ezio und wir kämpfen synchron, er mit Schwert und Dolch, ich am Controller. Der Lärm des Kampfes und die Schreie von draußen vermischen sich in meinem Kopf. Ezio kennt nur seine Mission. Schwert gegen Schwert, Klingen bohren sich durch Gewänder und ein Gegner nach dem andern sinkt zu Boden. Beinahe bringen wir Borgia zur Strecke, doch er entkommt. Dass ihm die Flucht gelingt ist wohl Teil der story. Wichtig ist nur, dass ich, Ezio in den Bund der Assassinen aufgenommen werde.

‚Wo Andere blindlings der Wahrheit folgen, bedenke: nichts ist wahr‘.

‚Wo Andere begrenzt sind von Moral und Gesetz, bedenke: alles ist erlaubt‘.

Eine Frauenstimme schreit jetzt eindeutig um Hilfe, kein Zweifel. Auch die Stimme des Jungen ist Bestandteil des Lärms von der anderen Seite des Daches. Es gibt viele Gründe zu schreien. Angst, Schmerzen, Entsetzen. Ich habe sie alle gehört, aber nichts ist wahr. Nichts ist wahr. NICHTS IST WAHR!

Nun bin ich Ezio und weiß was zu tun ist. Ich tippe die Nummer des Notrufs auf meinem Handy und warte, bis sich die Stimme auf der anderen Seite meldet.


Vierter Platz: Als mein imaginäres Kind der Bananenspinne begegnete“, Anna Stadler

Es spricht alles dafür, dass es sich hierbei um eine Hodenentzündung handelt. Keine schöne Sache, aber auch nicht so arg.

Die Ärztin beugt sich über ihren Ordinationstisch und setzt mit einem Kugelschreiber ihre Unterschrift auf das Rezept.

Ich schreibe Ihnen etwas auf und in ein paar Tagen sollte es abgeklungen sein.

Georg zieht an seinem Pullover und nickt, vielen Dank, sagt er, schon im Aufstehen und streckt die Hand nach dem Rezept aus.

Die Ärztin lässt den Zettel noch einen Moment außer seiner Reichweite in der Luft schweben.

Ich würde Ihnen empfehlen in einigen Tagen, wenn sich der Infekt gelegt hat, Ihre Zeugungsfähigkeit testen zu lassen. Nur zur Sicherheit. Die Wahrscheinlichkeit eines Schadens ist gering, aber möglich ist es natürlich schon, wissen kann man es nie. Ich gebe Ihnen die Adresse.

Wieder beugt sie sich über die schwere Tischplatte und zieht einen weiteren Zettel aus ihrem Block, den sie dann sorgfältig auf die Überweisung klebt.

Georg nimmt die Zettel entgegen, bedankt sich noch einmal und verlässt die Praxis.

 

Am Heimweg fallen Georg die ganzen Kinder auf, als wäre diese Sorte Mensch gerade erst erfunden worden. Es gibt sie in allen Größen, sie bewegen sich schnell, reden laut und scheinen überwiegend fröhlich zu sein. Er versucht ihnen aus dem Weg zu gehen, aber sie stolpern ihm vor die Füße, kugeln durch die Gegend, bis sich in ihm unweigerlich ein Bild seines möglichen Kindes zusammensetzt.

Die Fingernägel sind abgebissen, merkt er und fragt sich, was seinem Kind Sorgen macht. Die Haare hängen dem Kind ins Gesicht – es sieht so aus, als würde es sich nicht gerne frisieren lassen – es hat etwas Entschlossenes an sich, das Georg Respekt einflößt.

Es geht jetzt neben ihm her am Gehsteig, trödelt herum, weil es noch links und rechts alles anschauen muss. Jammert, warum es so früh schon raus muss und Georg bemerkt, dass die Schuhbänder an den Kinderschuhen offen sind. Wie auch er scheint es kein Morgenmensch zu sein. Er hält an und kniet sich vor das Kind, um ihm die Schuhbänder ordentlich zu binden. Georg ist beeindruckt von dem kleinen Wesen und es wird im gleichzeitig ganz schlecht, wenn er sich vorstellt, wie fein und schmal die Knochen des Kindes in den dünnen Armen sind.

Er wagt nicht, das Kind anzusprechen, also gehen sie eine Weile schweigend nebeneinander her. Es hält sich jetzt an seiner Jacke fest und bremst jeden seiner Schritte. Das Kind beginnt auf Verschiedenes zu zeigen und nach Namen und Funktionen zu fragen. Er versucht präzise Antworten zu finden, aber bevor er noch richtig zu einer Antwort ansetzen kann und alle Gedanken beisammen hat, fragt es schon weiter, als ginge es ums Fragen allein.

Ist das eine Stadt?, will es wissen.

Das ist einfach: Ja, antwortet er erleichtert und löst die kleinen Finger von seiner Jacke, nimmt die kleine Hand in seine Hand, um das Kind besser ziehen zu können.

Was ist das, eine Stadt?, will es wissen.

Jetzt bekommt er es schon mit der Angst zu tun.

Stadt, das ist da, wo viele Menschen wohnen, antwortet er hastig.

Das Kind nickt zufrieden.

Aber ihm wird sein Fehler schon bewusst, nein warte, er schüttelt den Kopf und will sich korrigieren, Stadt, das ist wie eine zentralisierte und abgegrenzte Siedlung, mit einer eigenen Verwaltungsstruktur.

Das Kind hört ihm schon nicht mehr zu und bückt sich nach einer halbvollen Coladose, die am Straßenrand steht und klopft gegen die Dose.

Eine Weile ist es mit dem Geräusch beschäftigt, das die Dose macht und ihm wird ganz anders bei dem Gedanken, dass er die Vorstellungen des Kindes mit jedem Wort prägt, das er jetzt sagt.

Das Kind hat jetzt aber ohnehin mit dem Fragen aufgehört und ist weiterhin mit der Dose beschäftigt. Als es daraus trinken will, schreit er auf. Nein, das darfst du nicht.

Das Kind schaut ihn ratlos an und er schaut ratlos zurück.

Wegen der Bakterien, da hat schon ein anderer draus getrunken, setzt er an.

Das Kind meutert und er muss seine Erklärung mehrmals wiederholen, ihm schließlich die Dose aus den Händen ziehen und das heulende Kind von der Dose wegtragen, die er wieder auf den Boden gestellt hat.

Ich will die haben, schreit es.

Er setzt sich neben das Kind auf den Gehsteig, als es nicht mehr weitergehen will.

Das Kind schmollt und beginnt in der Nase zu bohren.

Georg schüttelt den Kopf, aber das Kind ignoriert ihn beleidigt.

Nicht in der Nase bohren, sagt er müde. Er wird ein Normkind aus ihm machen, dafür muss er sich nur gesellschaftliche Konventionen vor Augen führen. Heute können sie ihm nützlich sein.

Warum?, will das Kind wissen.

Georg zuckt mit den Schultern.

Das Kind zuckt mit den Schultern und bohrt weiter in der Nase.

Sie sitzen am Straßenrand und Georg hofft, dass das Kind die mitleidigen Blicke der Vorbeigehenden nicht bemerkt.

Als Vater habe ich versagt, oder?, fragt er das Kind.

Das Kind nickt: Als Baby hast du mich auf den Kopf fallen lassen, sagt es.

Georg erschrickt, wirklich, ist dir was passiert?

Natürlich nicht, sonst säße ich nicht so da.

Aber, du sitzt nicht da, will er einwenden und ist aber gleichzeitig erleichtert, dass es dem Kind trotz seiner Unfähigkeit gut zu gehen scheint.

Und das ist nicht das Schlimmste, sagt das Kind.

Georg schluckt und traut sich kaum zu fragen. Er starrt auf den Randstein und will das Kind nicht mehr anschauen. Was ist das Schlimmste, flüstert er.

Das Kind antwortet ihm nicht, es will nicht darüber sprechen.

 

Um es auf andere Gedanken zu bringen, fährt er mit dem Kind ans Meer. Sie gehen zurück zur Wohnung und Georg packt alles, was ihnen nützlich erscheint, in das Auto und sie fahren los.

Sie spielen verschiedene Autospiele, bis das Kind nach Wörtern zu fragen beginnt. Warum heißt gerade das Ding dort Baum?, will es wissen und zeigt auf die Stämme, an denen sie vorbeirasen. Und seit wann heißt der so? Warum heißt er nicht: –

Es beginnt neue Wörter zu erfinden, die lustig klingen. Georg ist froh, dass er so der Verlegenheit entkommen ist, mit dem Kind die Willkür der Sprache zu diskutieren. Er fügt wie das Kind verschiedene Laute zusammen und das Kind lacht laut über den Klang, den das macht. Sie unterhalten sich über ungeahnte Dinge in der neuen, lustigen Sprache. Sie sprechen über alle Möglichkeiten, die das Kind in dieser Welt hat und über vieles, über das sich in unserer Sprache nichts sagen lässt.

 

Wann ist dein Geburtstag?, fragt er das Kind später, als sie im Sand sitzen und ihre Füße vergraben.

Ich werde im Oktober so alt, antwortet das Kind und zeigt eine vage Anzahl an halb gekrümmten Fingern.

Was werden wir an deinem Geburtstag machen?, fragt er.

Wir werden einen Ausflug machen, sagt es und schiebt den Sand mit den Händen zusammen.

Wird er schön sein?

Das Kind zögert.

Wird es schlecht?

Ich werde jammern, dass ich lieber daheim geblieben wäre – und dann wirst du zu schreien anfangen, dass es dir jetzt wirklich reicht, dass ich undankbar bin, dass du stundenlang einen Parkplatz gesucht hast und der Eintritt in den Freizeitpark voll viel kostet und du Achterbahnen sowieso zum Kotzen findest, dass ich das anstrengendste Kind der Welt bin. Ich werde weinen, still sein und Angst vor dir haben und weil du dich nur ironisch entschuldigen kannst, nur nicken, wenn du: Tschuldigung, war nicht so gemeint, in einem komischen Tonfall sagen wirst.

 

Sie vertiefen sich beide über mehrere Stunden in das Suchen von Krebsen, die sich zwischen den Felsspalten ruhig halten, sodass sie nicht von ihnen gefunden werden. Das Kind schreit dann jedes Mal begeistert auf, wenn es einen entdeckt und schiebt ihm vorsichtig kleine Algenkugeln zu, die sich der Krebs dann mit seinen schnellen Zangen holt. Es ist fasziniert von der Art, wie der Krebs sich bewegt und auch Georg staunt darüber. Den ganzen Tag redet das Kind über die Gangart des Krebses und sie brauchen lange für den Weg vom Meer bis zum Zelt, weil das Kind nur mehr auf Krebsart gehen möchte.

 

 

Georg wartet schon seit drei Stunden, aber es tut sich wenig im Wartezimmer des Krankenhauses. Er döst ein bisschen und sagt dem Kind, es soll ihn wecken, wenn er aufgerufen wird, es könne solange in der Kinderecke spielen. Das Kind macht sich mit Begeisterung daran, die Bauklötze zu hohen Türmen zu stapeln und Brückenbögen zu arrangieren. Georg erinnert sich, dass das Kind am ersten Tag noch alles kaputt gemacht hatte, was er ihm gegeben hat. Er hätte erwartet, dass das Kind alle Türme umwerfen würde, sobald sie stehen, doch statt dessen winkt es ihm und deutet aufgeregt auf die Gebilde vor sich. Eine Stadt, formt es lautlos mit dem Mund.

 

Er wacht davon auf, dass ihn jemand am Ärmel zieht. Lass das, murmelt er und will das Kind von sich schieben, aber als er die Augen öffnet, merkt er, dass es nicht das Kind ist, das ihn nicht weiterschlafen lässt, sondern eine alte Frau, die neben ihm sitzt.

Man hat sie jetzt schon vier Mal aufgerufen, sagt sie und deutet auf die Überweisung auf seinen Beinen, auf der sein Name steht. Hastig springt er auf und will der Frau noch sagen, auf das Kind aufzupassen, aber er sieht es nicht, die Spieleecke ist leer.

Eine Schwester winkt ihn schon in ein Zimmer am Ende des Ganges, und er wird den Gedanken nicht los, wo sein Kind geblieben ist.

 

Wir haben jetzt Ihr Ergebnis, sagt die Schwester.

Georg geht zu dem Arzt und lässt sich sagen, dass seine Fähigkeit ein Kind zu zeugen eingeschränkt ist, aber möglich sei es schon.

 

Als er wieder draußen auf der Straße ist, fällt ihm ein, was das Schlimme ist, von dem sein Kind gesprochen hat.

 

Er ist jetzt selbst sein Kind und schon kein Kind mehr, sondern erwachsen. Er sieht sich selbst als sein Kind, zwar mit braunen Haaren, aber sonst auch in manchem Georg ähnlich, in einem Haus stehen, es muss das zukünftige Haus seines Kindes sein.

Er ist allein und es ist schon Abend. An der Decke des Zimmers bewegt sich ein schwarzes Tier in schnellen Bewegungen.

Als er das Tier sieht, ist er sich sofort sicher, es muss eine Bananenspinne sein. Man könnte ihn fragen: Aber du isst ja keine Bananen, wie soll die denn hier herein gekommen sein? Es macht keinen Unterschied, er weiß, dass es eine ist, nur das zählt. Er reagiert schnell, was ihn selbst überrascht, man kann es ja nie wissen, wie man in einer solchen Situation mal reagieren wird. Er ist aber wirklich schnell, schüttet sein Wasserglas sofort vor sich auf den Boden aus und stülpt es mit einer hastigen Handbewegung über das schwarze Vieh, das mittlerweile auf dem Bücherregal sitzt und sich seiner selbst ganz sicher zu sein scheint, springt dann wieder zurück.

Erst langsam wagt er es wieder näher heranzurücken und das Wesen genauer zu mustern, das jetzt panisch seine Runden im Glas dreht. Grundsätzlich hat er keine eigentliche Angst vor Spinnen, er begegnet ihnen häufig und ist mittlerweile sehr geschickt darin, sie zu fangen. Er kennt die verschiedenen Spinnenarten, die sein Haus bevölkern, gut. So gut, dass er sofort weiß, diese ist keine von ihnen.

Es muss eine Bananenspinne sein. Immer wieder liest man von Fällen, wenn eine die lange Kühlung überlebt hat, plötzlich im Supermarkt auf Jagd geht. Es sind Jäger, sie setzen zum Sprung an, ducken sich und können bis zu sieben Meter auf ihre Beute zu springen. Ein einziger Biss endet tödlich.

Im Nachhinein kommt es ihm irrsinnig vor, dass er einfach so das Glas über sie gestülpt hat. Er hatte Glück, dass sie ihn nicht angesprungen ist. Eine Weile beobachtet er sie in ihrem Glas, sie hält sich jetzt ganz ruhig und scheint abzuwarten, wie es weitergeht. Auch er wartet ab, von ihr ist jetzt zunächst nichts mehr zu erwarten, er muss sich jetzt etwas einfallen lassen. Behutsam schiebt er ein Blatt Papier unter das Glas, sodass die Spinne darauf stolpern muss und er das Glasgefängnis samt provisorischer Bodenplatte aufheben kann. Als er es fest umschlossen in seinen Händen hält, weiß er nicht weiter und beginnt sich plötzlich zu ärgern. Was soll denn das jetzt hier, als hätte er nicht genug zu tun, gerade wollte er schlafen gehen und dann sieht er diese dämliche Spinne, die er jetzt in seinen Händen hält und es ist auch noch eine Bananenspinne und er sollte sich freuen, dass er noch am Leben ist und wie wird er das Vieh jetzt los und vor allem wo.

Er beginnt sich zu fragen, wie lange der Sauerstoff ausreichen wird, in diesem Glas und versucht umständlich das Volumen des Glases zu berechnen, aber dann, sie ersticken zu lassen, das kann er doch nicht, was kann sie denn dafür, dass sie ein mörderisches Vieh ist, auch anders zu töten, das möchte er nicht, es würde zudem zu viel Kontakt nötig werden, er würde sie gern in diesem Glas lassen, aber sie könnte nicht für immer da drinnen bleiben.

Er stellt sich vor, wie er das Glas einfach im Regal stehen lässt und sie für immer da steht, sein Haustier sein wird, das er Gästen zeigen kann, aber dann, eines Tages wird einer an das Regal stoßen und wenn der mangelnde Sauerstoff bis dahin kein Problem gewesen wäre, dann hätte er jetzt erst recht das Problem, sie kann hier nicht bleiben, er kann sie nicht töten. Bewegungslos starrt er die ebenso reglose Spinne durch die Glaswand an und wird immer verzweifelter, als er ihr ruhiges Abwarten bemerkt, du hast uns in diese Situation gebracht, du musst eine Handlung setzten. Seine Hände beginnen leicht zu zittern, bemerkt er panisch und verstärkt seinen Griff, er müsste sie auslassen, aber wo denn nur und vor allem wie? Wie weit könnte sie denn, wie viel Weg legen die denn zurück, wo müsste er sie denn hinbringen, er könnte sie ja auch nicht einfach über den Zaun zu den Nachbarn hinüberschmeißen, außerdem, wer sagt denn, dass sie sich an Grundstücksgrenzen hält, er müsste sie weiter wegbringen, aber dann andererseits reicht das Licht am Hauseingang nicht sehr weit und er müsste schon sehen, was er tue, wenn er das Glas anhebt, ohne Licht könnte das nicht gehen.

Je mehr Möglichkeiten er durchdenkt, desto unmöglicher erscheint ihm jede. Er hat sich in eine unlösbare Situation gebracht und plötzlich durchfährt ihn das Wissen, dass er eines Tages sterben wird. So deutlich wie in diesem Moment, war es ihm noch nie bewusst, er kann jetzt an nichts anderes denken, findet sich diesem Bewusstsein gegenüber, völlig ratlos, bemüht er sich dennoch, das Glas festzuhalten, damit dieser Moment nicht jetzt ist. Er versucht sich mit dem Gedanken abzufinden, dass er so hier, mit der Spinne in der Hand, stehen wird, bis ihn einmal einer finden wird. 

 

Georg läuft den Gehsteig entlang und stellt sich vor, wie lange sein Kind da gestanden haben mag, vielleicht tagelang, mit dem Glas in der Hand und er fühlt sich ganz elend, dass er an allem schuld ist.

Auch wenn sein Kind sich nicht erinnern kann, er erinnert sich deutlich, dass es nicht das erste Mal war, dass dem Kind bewusst wurde, dass es sterben wird müssen.

Als das Kind sechs Jahre alt war, ist es in der Nacht aufgewacht und hat ihn wachgerüttelt. Mit aufgerissenen Augen hat es ihn zitternd angesehen und erklärt, dass er und die Mama und es selbst und alle einmal sterben müssen. Mit dieser Vorstellung hat es nichts anzufangen gewusst.

 

Von dem Kind jetzt immer noch keine Spur. Er geht allein nach Hause.

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