Geschichten der Lesung ‘kaputt’ vom 26.11.2016

Das war sie: die 21. Lesung des Münchner Kurzgeschichtenwettbewerbs am 26. November. 1500 Einsendungen, 1200 gültige, 23 in der letzten Runde und vier Texte in der Endauswahl.

‘kaputt’ war unser diesjähriges Sujet. Weil es zur Zeit passt? Weil so viel kaputt ist und kaputt gehen kann? Freundschaften im Räderwerk von Mobilität und Zeitenlauf, eine Sandburg in der Flut, eine Staatengemeinschaft in Demagogie und Volksbegehren, ein kategorischer Imperativ im Wirtschaftswachstum, ein Stofftier in liebender Umarmung, die Hilfsbereitschaft im Flüchtlingsstrom, das Stadtbild in der  Bevölkerungsdichte, die Literatur am Literaturmarkt, die Offenheit im Alter, das Hirn bei Parkinson, ein Menschenleben beim Drohnenangriff, Lust und Liebe im Alltag.

Die Einsendungen haben uns bewiesen, dass noch ganz andere Dinge kaputt gehen und manchmal auch wieder repariert werden können. Hier sind die vier bestplatzierten Texte. Über die außerordentliche Qualität der Geschichten haben wir uns sehr gefreut, über die phantasiereichen Bearbeitungen genauso. Für das Mitmachen wollen wir uns bei allen bedanken.

 


Erster Platz (Publikumspreis): „Die Eingeweide meines Sohnes“, Stefan-Manuel Eggenweber

Ich will nichts mehr sagen. Alles sagen kommt zu spät. Meine Hände zittern. Langsam hebe ich den Kopf. Ich habe mich in die Zunge gebissen. Die Eingeweide meines Sohnes kleben an der Windschutzscheibe.

Mit bebenden Fingern stelle ich das Radio lauter, um diese unerträglich wimmernden Polizeisirenen zu übertönen. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf Haydn. Vierundneunzigste Symphonie. Andante.

Zaghaft beginnen die Streicher, der Melodie zu folgen. Ich verachte sie für diese Schicksalsergebenheit und wünsche mir doch nichts sehnlicher, als mich den Bestimmungen meines Lebens ebenso sanft beugen zu können, wie die Musiker den ihnen vorgegebenen Tönen.

 

Im Nachhinein gesehen waren wir ein gutes Team. Ich und mein Sohn. So sagt man das doch. Wölbt dabei mit bebendem Kinn die Lippen, presst die Faust gegen den Mund, blickt nach oben zu den schlecht restaurierten Fresken und stößt mit sich überschlagender Stimme hervor: “Wir waren ein gutes Team!”

Im Nachhinein gesehen kommt mir das wirklich lächerlich vor. Das Schlimme ist, in den Momenten in denen ich mit feuchtem Gesicht vor dem Altar stand und über die Köpfe all dieser Freunde und Verwandten hinweg geschluchzt habe, war ich überzeugt davon, aus der Tiefe meines Herzens zu sprechen. Erst nachdem man die Kirche verlassen hat, aufgelöste Damen, mit verschmierten Augen und schwarz befleckten Taschentüchern zwischen den Fingern, zu der berührenden Rede gratulieren und Männer mit gesenkten Köpfen im Vorübergehen in beiläufig mitfühlender, maskulin assoziierter Manier auf die Schulter klopfen, kommt einem das ganze Reden und Ballen und Zittern und Vergießen irgendwie falsch vor. Alles eine Lüge. Alles nicht passiert. Schweigen hätte mehr gesagt.

Denn im Grunde fühlst du dich leer.

Denn im Grunde habe ich keine Ahnung, was ich eigentlich fühlen soll.

Im Grunde habe ich mich bloß nach den Erwartungen gerichtet.

 

Wenn du bei der Beerdigung des eigenen Sohnes nichts besseres zu sagen hat, als “Wir waren ein gutes Team”, kommst du dir irgendwie nutzlos vor. Wenn dir nicht einmal danach etwas einfällt, nachdem die aufgelöste, beiläufig mitfühlende Schar dir für berührende Reden gratuliert und auf die Schulter geklopft hat und du nur noch stumm hinter dem Lenkrad sitzt und versucht sich auf die Straße zu konzentrieren, bis du merkst, dass du noch gar nicht fährst, fühlst du dich in höchstem Maße unbedeutend.

Meine Frau saß neben mir und ich weiß, ich wollte irgendetwas sagen. Stattdessen startete ich den Motor. Dabei bin ich immer so gut darin gewesen. Im irgendetwas sagen.

Früher, das heißt, bevor der Halswirbel meines Sohnes dieses seltsame Geräusch, wie aus einer dieser Kekswerbungen, von sich gegeben hat, habe ich immer eine Lösung gehabt. Oder zumindest meine in Worte gefasste Ansicht. Zu allem.

Er hat mir das natürlich immer vorgehalten. Ich habe das nie verstanden. Verstehe es nach wie vor nur schwer. Wir leben in einer Welt der Meinungen. Du hast eine Meinung zu haben. Du hast dich zuzuordnen. Nur so hältst du dich am Leben.

Mein Sohn hat sich nie zu etwas zuordnen wollen. Er ist eben jung, habe ich mir gesagt.

 

Nach und nach beginnt sich die kleine Melodie zu entfalten. Wird sanft, wird streng, wird mächtig, wird leise. Erziehung ist etwas furchtbar schwieriges.

 

Erziehung ist etwas furchtbar schwieriges. Noch dazu, wenn es die Richtige sein soll. Mein Sohn hat sich gut integriert. Er wollte keine Meinung haben. Aber einen Platz hat er trotzdem gefunden. Gott sei Dank ist die Meinung, keine Meinung zu haben, eine recht Beliebte unter jungen Menschen. Habe ich mir gesagt.

Er hat sich überhaupt gut angepasst. Er hat alle Dinge gemocht, die ich nie gemocht habe, und doch bin ich stolz darauf gewesen, dass er sie mochte. Und das habe ich ihn auch spüren lassen. Ich habe nie Ballspiele mit ihm gespielt. Oder Actionfilme geschaut. Oder trainiert. Oder über Autos geredet. Oder Bier getrunken. Aber ich habe den Gedanken gemocht, dass er all das tut. Ich habe mich nicht gefragt, weshalb er die Dinge tat, die er tat. Ich frage mich, ob ich andere Aktivitäten meines Sohnes ebenso unhinterfragt gelassen hätte.

Meine Frau hat des Öfteren Sorgen geäußert, wegen dem Alkohol, den Gewaltfilmen, dem exzessiven Sport, doch nie so, dass wir zu dem Schluss hätten kommen müssen, dass sich im Leben unseres Sohnes etwas ändern soll. Und ich bin artig meiner Aufgabe als Familienvater nachgekommen und habe sie beruhigt.

 

Die Hauptmelodie setzt nun ganz sanft wieder ein. Mein Atem gleicht sich aus. Wird Grundrhythmus. Wird Teil der Musik. Mein Beitrag zu Haydns Vierundneunzigster.

Ich wünsche mir, ich hätte das Gefühl, mehr zum Leben meines Sohnes beigetragen zu haben. Als ich das meiner Frau eines Nachts in den Nacken geflüstert habe, hat sie mich geküsst, meine Wange flüchtig berührt und gesagt, wir, sie und ich, hätten es ermöglicht. Ich wünsche mir, ich hätte das Gefühl, mehr zum Leben meines Sohnes beigetragen zu haben, als ein paar Gramm Sperma.

 

In einer anderen Nacht, als ich mich vor dem Einschlafen zu ihm gesetzt habe, hat mein Sohn meinen Unterarm berührt und gefragt, ob ich zufrieden sei, mit ihm. Ich habe ihn auf die Stirn geküsst und gesagt, er mache das alles ganz toll. Mein Sohn hat daraufhin nie wieder laut gefragt, ob ich mit ihm zufrieden bin. Und ich habe vergessen, dass er das jemals gefragt hat. Jetzt fällt es mir wieder ein. Leere Antworten und bitteres Schweigen. Mehr hatte ich am Ende nicht zu bieten.

 

Der Sport ist nicht schuld gewesen. Auch nicht das Bier. Nicht die Gewaltfilme.

Schuld ist das Bügeleisen, über das er gestolpert ist. Kein Snowboard, kein Fußball, kein Autounfall, kein Alkohol, kein Streit. Mein Sohn ist von einem Bügeleisen ermordet worden.

 

Im Spital haben sie sehr viel gesagt. Mir hat der Schädel gehallt und ich habe unterschrieben.

Erst zuhause habe ich verstanden, wozu ich meine Einwilligung gegeben habe. Meine Frau hat gesagt, es sei richtig und ich habe ihr geglaubt.

 

Zwei Tage später war der Tag des “guten Teams”. Nach der Beerdigung fuhren wir nach Hause. Meine Frau stieg aus. Mein Kopf war immer noch wortleer und ich sagte ihr, ich käme gleich nach.

Natürlich kam ich nicht nach. Ich raste. Keine Ahnung, was mich auf die Idee gebracht hat. Keine Ahnung, wieso ich das unbedingt machen wollte.

 

Ich öffne die Augen. Die Eingeweide meines Sohnes kleben nicht nur an der Windschutzscheibe, sondern sind im ganzen Auto verteilt. Der Magen hat sich irgendwie um den Beifahrersitz gewunden. Man könnte mich nun wahrscheinlich einen Mörder nennen.

 

Ich raste und hielt mit klopfendem Motor und verkrampften Reifen vor dem Spital. Wahrscheinlich war es schon zu spät. Vielleicht noch nicht. Mit glühender Stimme und bebender Stirn versuchte ich es zu erklären. Wollte es ihnen klar machen. Dort wurde nur bedauernd der Kopf geschüttelt. Alles schon zugeordnet.

Mit stotterndem Herzen und quietschendem Magen erklärte ich ihnen, dass ich das nicht möchte. Dass ich ja nicht einmal weiß, wo sie meinen Sohn neu einpflanzen. Dass ich nicht will, das das Herz meines Sohnes in irgend so einer alten, behaarten Faschistenbrust schlägt. Dort wurde nur trauernd mit den Schultern gezuckt. Alles schon unterschrieben.

Ich wollte gerade das Spital verlassen, da schaltete ich auf einen anderen Gedanken. Ich sagte, ich möchte sie noch einmal sehen. Ich sagte es so lange und eindringlich und mit tränengetankten Augen (ich ließ sogar irgendwann den Team-Spruch wieder los), bis mir dort mit der Polizei gedroht wurde, bis sie mir Beruhigungsmittel geben wollten, bis sie resignierend meinten, ich solle ihnen folgen.

 

Zwanzig Minuten später saß ich wieder in meinem Auto und konnte nicht fassen, dass es funktioniert hatte. Ich vermute ja, ich wollte einfach gegen jemanden kämpfen. Wenn ich schon nie mit meinem Sohn gerauft habe, wollte ich zumindest für ihn kämpfen. Oder besser gesagt für seine Organe, die jetzt alle in sieben-achtel-gefrorenem Zustand auf meinem Rücksitz lagen.

Wenn man so etwas plant funktioniert es nie. So etwas geht nur gut, wenn man es im Vorhinein zum Scheitern verurteilt hat. Dann, wenn man es nicht erwartet, ist plötzlich alles möglich.

Auch, dass ein verzweifelter Vater mit zweihundertzwanzig km/h, verfolgt von nervigem Sirenenwimmern, zu einem Radiobeitrag über Haydn mit den langsam auftauenden Eingeweiden seines Sohnes irgendeine nummerierte Autobahn der brennenden Abendsonne entgegen rast.

Mit geballter Atompilzstirn und dem Gefühl noch nie klarer gedacht zu haben feuerte ich mein Auto, über das ich nie mit meinem Sohn gesprochen habe, die nummerierte Autobahn entlang und war mir sicher, dass mein Sohn jetzt stolz auf mich wäre.

Dann – action-mäßiges Flashback: Ich betrete das Zimmer meines Sohnes. Er wirkt überrascht. Vielleicht sind es auch nur die nachgezogenen Augenbauen, die ihn so wirken lassen. Seine Lippen sind blutrot und schön und regungslos vor Schreck und ich kann trotzdem die Worte erkennen, die unausgesprochen auf ihnen liegen: „Bist du zufrieden mit mir?“

Ein Schwall von Aggression gegen sich selbst und verzweifelter Männlichkeit sprühte in den Brennraum. Niemand ordnet dich zu wie eine Autobahn.

Deine Frage stumm in mir. In mir rastloses Schweigen.

Das Adagio cantabile der Vierundneunzigsten erklang und, wie um die sanften Töne auszugleichen, stimmte ich mein Gefährt auf zweihundertdreißig km/h. Mein Kiefer fühlte sich verbissen an. Deine Frage aufgequollen in meinem Hals. Niemand nummeriert meinen Sohn durch wie eine Symphonie.

Die Sonne brach jetzt durch die Windschutzscheibe, brannte in meinem Gesicht und wärmte das Innerste. Nicht meines, sondern das, auf dem Rücksitz verteilte, meines Sohnes. Dein Innerstes. Deine Frage in meinem Innersten. Jetzt war sie wieder da. Angeschwollen. Aufgedunsen. Umwürgt von meinem Schweigen. Aus dem Magen hoch in meinen Rachen. Ich musste würgen. Alles was ich noch hätte sagen können, jede erdenkliche Antwort und jede mögliche Reaktion deinerseits auf diese Antworten meinerseits drängten jetzt. Machten die Zunge dick und schwer. Pressten sich an den Gaumen. Füllten mich innerlich aus. Das Traurige war, mein Schweigen ist eine Antwort gewesen. So unausgesprochen wie deine Frage. Bitter. Die Zähne pressten zusammen. Das Kiefer platzte auf. Ich brüllte und hämmerte auf die Pedale ein.

 

Acht Minuten und vierunddreißig Sekunden später stand der rote Zeiger der Tankuhr auf dem gleichfarbigen E, der erste Satz war zu Ende und die tiefe Stimme einer Radiosprecherin berichtete aus Haydns Lebenswerk, während ich mit magenviolettem Kopf fluchend die letzten Töne aus meinem Auto trampelte, aufhörte, zwischen den Pedalen zu unterscheiden und den Wagen mit einem fulminanten Schlussakkord abklingen ließ. So fulminant, dass sich sogar die Innereien meines Sohnes bewegt zeigten und für einige Momente durch das Auto tanzten, ehe sie küssend gegen die Windschutzscheibe applaudierten.

Abgesehen vom Magen, der sich, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, um den Beifahrersitz schmiegte.

Der Geschmack von Blut verteilte sich in meinem Mund. Mein Mund war jetzt leer. Kurz kam es mir so vor, als hätte sich mein ausgebrochenes Schweigen jetzt um mich gesenkt. Tröstend, fast.

 

In diesem zuckersüßen Moment, setzt das Andante ein.

Begleitet von dem dumpfen Atemgeräusch in mir und dem lauter werdenden Wimmern der Sirenen, das sich bald nicht mehr überhören lässt.

Es wird an mein Fenster geklopft, gefragt ob es mir gut ginge. Ich werde gebeten auszusteigen. Ich schaue mich noch einmal im Wagen um, murmle irgendetwas von Faschistenmörder, das ich selbst nicht genau verstehe und steige aus.

Die Sonne brennt grell. Ich fühle mich leer. Irgendwo hinter mir heißt es “riesen Sauerei” und “alles rausholen”. Ich werde zu einem Notarztwagen geführt. Dort bricht die Leere in mir und ich falle der Sanitäterin in die Arme. Plötzlich habe ich das Bedürfnis, mich zu erklären. Dies ist meine wahre Grabrede. Zwanzig Meter entfernt von dem, mit den Eingeweiden meines Sohnes gefüllten, Autos. Ich heule auf. Denke, dass das Herz meines Sohnes in einer Faschistenbrust vielleicht auch etwas Gutes bewirken könnte. Denke an den Abend, an dem er meinen Unterarm berührt hat und hoffe, dass mein Sohn so sein konnte wie er sein wollte. Denke, dass seine Organe ja vielleicht auch in freundlichen Menschen gesät werden. Hoffe, dass er vielleicht jetzt all das sein kann, wozu er in seinem Leben nie die Gelegenheit bekommen hatte. Erkenne, dass mein Sohn, der nie eine Meinung haben wollte, nun auf einmal viele Ansichten vertreten wird. Sofern ich das nicht gänzlich verhindert habe. Da ist Machtlosigkeit, die mir die Stirn ballt. Da ist der Wunsch, sich gegen irgendetwas aufzulehnen. Sich für irgendetwas aufzugeben. Dann denke ich, es ist alles Heuchelei. Ich denke an die Dinge die ich nicht gesagt habe. Jetzt noch etwas sagen ist nur Heuchelei.

Ich bin ein Heuchler, denke ich, presse meinen Kopf gegen die Schulter der Sanitäterin, hebe ihn, denke an all das und jaule mit fest entgleitender Stimme: “Wir waren ein gutes Team.”

“Ich und mein Sohn”, jaule ich: “Wir waren ein richtig gutes Team!”


Zweiter Platz: „Wassergeburt, falschrum“, Denis Leifeld

Ben steht nackt auf dem Zehnmeterbrett, tagsüber. Warum? Weil er einfach nur blöd ist. Würde Anton denken. Aber Ben ist nicht Anton, sondern Ben und deshalb steht er da und blickt ruhig in die Tiefe. Ein aufgeregter Bademeister gestikuliert und schreit nach oben. Aber nichts stört Ben da oben. Nichts. 

 

Ben war einfach aufgestanden und gegangen. Sein Chef hatte ihn noch kurz vorher angerufen. Ein kurzes Telefonat, von Büro zu Büro. Unpersönlich wie immer. Ben hatte genickt, wie er immer nickt, wenn der Chef neue Arbeitsanweisungen gibt. Aber diesmal stand Ben auf und ging. Anton folgte ihm hektisch.

 

Anton: »Was hast du denn?«

Ben überruhig: »Ich gehe.«

Anton: »Wohin?«

Ben: »Weg!«

Anton: »Wie? Weg?«

Ben: »Na weg eben. «

Anton hektisch: »Wir müssen doch –, du musst doch –, und außerdem geht das nicht, du kannst doch nicht einfach –«

 

Doch! Er konnte. Und er ging. Anton wild diskutierend hinterher. Immer weiter bis sie bei mir waren, im Freibad. Da standen sie auf meinem Handtuch mit ihren schwarzen Lederschuhen. Anton wollte Ben unbedingt ins Büro zurückbringen. Mit überhitztem Gesicht redete Anton auf ihn ein. So ein pflichtbewusstes Überzeugungszeug sprach er. Ich hörte Worte wie Aufgabenaufteilung, Teamgedanke und Verpflichtung. Ben redete wirres Zeug zurück, von Vampiren, Arschhaaren und Tsunamis. Er sprach von so Sachen wie Freiheit. Freiheit sind Arschhaare im Licht. Und solches Zeug. Keine Ahnung, dachte ich mir. Was wollt ihr eigentlich? Lasst mich doch in Ruhe! Anton redete weiter auf ihn ein. Dabei hörte er gar nicht richtig hin, was Ben sagte. Anton war zu beschäftigt, Bens Wortschwall zu unterbrechen. Erfolglos natürlich. Ich hörte einfach nur zu. Was anderes blieb mir sowieso nicht übrig. Niemals wäre ich dazwischen gekommen. So eine laute Kamikazediskussion. Anstrengend, echt. Die beiden hatten mich brutalst aus meiner Freibadruhe gerissen, trotzdem machte mich dieser Wortschwall noch müder. Kein Wunder also, dass ich noch immer regungslos auf meinem Handtuch lag als es passierte. Und es ging wirklich blitzschnell, für mich war es das zumindest, blitzschnell: Ben war plötzlich nackt, rannte auf das Zehnmeterbrett zu, mit seinem leicht aggressiven Grinsen. Der Bademeister hatte uns schon vorher gemustert und sprang auf. Anton verstummte für einen Moment. Und das muss etwas heißen. 

 

Und jetzt steht Ben nackt da oben. Und ich denke: Genau jetzt sind seine Arschhaare im Licht. Wie sagte er vorhin? Sie drehen sich wie Blütenkelche zur Sonne. So hat er es lauthals angekündigt. Genau jetzt, auf dem Zehnmeterbrett, fühlen sich Bens Arschhaare wie Vampire, die erstmals das Sonnenlicht sehen, befreit vom Fluch, sich im dunkelsten Winkel verkriechen zu müssen. Ekstatisch atmen sie die Sonne ein. So fühlen sie sich, seine Arschhaare. Ganz bestimmt. Und natürlich auch Ben. Der fühlt sich auch so. Der spürt das. Ganz bestimmt. Oder meint das zu spüren, da oben.

 

Ich werde hier springen, scheißenochmal für Sekunden total abgelockert sein. So etwas denkt Ben. Oder so etwas Ähnliches. Einfach nur schwachsinniger Blödkram. Hat Anton gesagt. So redet Anton immer, so in seiner Kritikerhaltung, die jede noch so schwache Zündung einer Handlung sofort im Keim erstickt. Aber es geht hier nicht um Anton, sondern um Ben. Der denkt ganz anders. Der denkt an Ekstase, Freiheit und Tsunamis. Das will er spüren. Alles zusammen. In diesem Moment. Das hat er gesagt. Ein Tsunami­totalgefühl in ihm drin. Und wegstürzen, von allem weg.

 

Irgendetwas ist dann Anton eingefallen. Irgendein neuer Gedanke. Sein überrationales Kritikergesicht verwandelt sich zu einem überentsetzten Anti-Anti-Gegengesicht, völlig unentspannt. Was hat der denn? Sein Gesicht viel schlimmer als das des Bademeisters. Bevor Ben sich fragt, warum Anton so blickt und so schreit und eben nicht nur kritisch, besserwisserisch daherguckt, so wie sonst, springt er. Ben springt. Schnurstracks nach unten, eine Kerze.

 

Anton: »Nein, du Depp! DAS DARFST DU NICHT!«

Ben mit Tsumifreiheitsgesicht: » – «

Aufprall.

Ich: »Was denn?«

Anton: »10 Meter sind das! Nackt!«

Ich: »Und?«

Anton: »Das ist ein Arschlochwasservergewaltigungsaufprall!«

Ich: »Ein was? «

Anton nochmal für Dumme wie mich: »Arschloch-Wasser-Vergewaltigungs-Aufprall!«

Und ich so: » – « 

 

Dann nach ein paar Sekunden. Jetzt. Ich verstehe. Das meinte Anton. Wassermengen quetschen sich durch Bens Arschloch, genau jetzt zerreißen sie irgendwelche Hautformationen da unten und drücken sich durch Darmwindungen nach oben. Sonst ist da eine Badehose. Aber ohne – nicht gut. Gar nicht gut. Alles tsunamimäßig nach oben.

 

Anton so: »AHH. OH GOTT.«

Ich so: »SCHEISSENOCHMAL.«

Und Ben bestimmt: »OH. AH.«

 

Das muss man sich vorstellen. Ben im Wasser nach unten, das Wasser in Ben nach oben. Und Anton wusste es mal wieder. Aber ein bisschen zu spät. Das Wasser in Ben links, rechts, in Kurven nach oben. Bis zum Hals. Wir sehen es genau. Es kommt. Da kommt es raus. So heftig, der Wasserdruck in ihm drin, dass alles aus seinem Mund herausquillt. Es ist wie Zeitlupenkotzen unter Wasser. Alles, was da drin war, wird herausgepresst und schwimmt da schwerelos im Wasser. So überall. Blut ist da auch irgendwo dazwischen. Eine brutalste Totalentleerung. 

 

Trotzdem ist Ben in Ekstase. Das sehe ich an seinem Gesicht. Das sagt so etwas wie: Genau das ist es. Genau das will ich, genau, genau, haargenau das! – Warum? Keine Ahnung. Ich verstehe seine Ekstase nicht. Sie ist unerschüttert. Sie ist sogar ansteckend. Unheimlich. Ich fühle mich so, wie soll ich es sagen, so seltsam aktiviert. So etwas wie ein Gefühl entwickelt sich in mir: Steh auf, steh auf, mach etwas, glotz nicht immer nur so narkosemäßig daher! Trau dich was, du faule Sau, steh auf! Das sagt es mir, das Gefühl.

 

Ben inspiriert mich also. Und ich fühle mich ertappt. Das ist jetzt irgendwie peinlich, wenn ich dir das jetzt erzähle. So ein Klischee! Inspirationsgefühle. Aber jetzt habe ich es schon gesagt. Egal. Es ist eben wie Ansteckung. Sein Schmerz ist größer als alles, was ich bin. Und das Gefühl, mein Gefühl, das macht mich größer als ich bin. Aber auch irgend­wie kleiner. Macht das irgendwie Sinn? Egal.      

 

Jedenfalls gibt es noch mehr zu erzählen. Eigentlich kommt jetzt das wichtigste. So wichtig ist es vielleicht auch nicht. Aber es ist zumindest der Grund, warum ich überhaupt rede. Also ist es doch wichtig. 

 

Also weiter in der Geschichte: Unterwasser passiert noch mehr. Wie gesagt ist Ben in seiner Tsumamiekstase, da unten. Alles mögliche Zeug ist schon aus seinem Mund gekommen, so Innenzeug, Darmsachen und Innereienkram. Aber es ist noch nicht zu Ende. Das sehen wir ganz genau: Irgendetwas Großes drückt Ben aus seinem Mund. Und es ist wirklich so, Ben würgt und presst.  

 

Ben so: » – «   

Anton so: » – « 

Und ich so: » – « 

Und der Bademeister sowieso so: » – « 

 

Ja, etwas Seltsames kommt da heraus. Wir wissen, wir sind Zeugen von etwas Außergewöhnlichem. Das passiert da in Bens Mund, etwas, das keiner von uns vorher gesehen hatte. Anton nicht und ich nicht. Und auch der Bademeister nicht. Der hätte das sowieso nicht erwartet. Wir sehen es haargenau: Ben presst einen Kopf aus seinem Mund! Ja, einen Kopf! Wie bei einer Geburt, ein kleiner Kopf so quillig-quellig aus ihm heraus. Und auch ein kleiner nackter Körper hängt da dran, an dem Kopf. Dieses Ding, ich nenne es einfach Ding, das da rausgepresst wird, das fällt aus seinem Mund und kann sofort schwimmen. Verloren und seltsam hektisch schwimmt das Ding im Freibad­wasser herum. Diese kleine Mundgeburt hat ein seltsames Gesicht, das erwachsen wirkt. Überhaupt nicht wie ein Baby. Irgendwoher kommt es mir bekannt vor, dieses seltsame Gesicht. Es sieht aus wie von einem faltigen, überarbeiteten Mann mit erhöhtem Geltungs­bedürfnis in seiner Midlifecrisis. Jetzt, ja, jetzt weiß ich es. Die Mundgeburt, sie sieht aus wie Bens Chef, genau, nur in Babygröße. Miniminichef.

 

Das ist alles schwer vorstellbar, ich weiß. Aber es ist auch schwierig zu erklären. Ich versuche es nochmal und etwas genauer. Das Minichefding ist eigentlich doch nicht wie ein Baby. Sondern es ist einfach nur Bens Chef, aber eben in mini. Wie bei diesem Film, in dem sich Brad Pitt falschrum entwickelt und als Baby total erwachsen aussieht. Bestimmt kennst du den Film. Wie war der Titel nochmal? Egal. Du weißt, was ich meine. Hoffentlich. Jedenfalls ist es so als hätte sich eine Miniversion seines Chefs in Ben irgendwie eingenistet. Nein, ich muss es genauer sagen: sie hat sich tatsächlich (!) eingenistet. Sein Chef ist ein Parasit, ein Darmbandwurm in irgendeiner Darmwindung. Vielleicht hatte er sich im Blinddarm festgesetzt und sich dort von Ben ernährt. Und jetzt hat er ihn los. Ben hat ihn rausgespült. Rausgepresst. Rausgeworfen. Eine Innenraus­reinigung sozusagen. Und jetzt schwimmt der Minichef da nackt und total hilflos herum. Irgendwie tut er mir leid. Ja, ehrlich. Wie er so miniklein seinen Mund aufmacht. Wie ein hungriges Piepsküken. Er ist bestimmt hungrig, super hungrig, aber ohne Ben hat er nichts zu essen und schluckt nur Wasser. Der arme kleine Minipiepschef.  

 

Und es kommt noch mehr aus Bens Mund. Ja, ich weiß, es ist eklig. Aber ich muss weitererzählen. Das ist wichtig, zumindest für die Geschichte. Also: Ben würgt noch mehr aus seinem Mund. Wie bei einer Nachgeburt. Platzentamäßig presst Ben. Ich sehe, wie es in seinem Hals arbeitet. Sein Gesicht hat immer noch diesen inspirierend ekstatischen Ausdruck. Anton kann alles nicht fassen, die ganze Situation ist ihm völlig fremd, mit dem Minichef, dem Geburtspressen und so. Aber das, was da jetzt aus Ben rauskommt, ist für Anton nochmal unverständlicher. Er erkennt ein Merkblatt über die möglichen Folgen einer Befreiung von der Rentenversicherungspflicht! Das würgt Ben aus sich heraus. Anton glotzt nur. Das Merkblatt über die möglichen Folgen einer Befreiung von der Rentenversicherungspflicht saugt sich mit Wasser voll und sinkt langsam nach unten. Der kleine Minichef schnappt es sich aber noch in einer schlangenbiss-schnellen Bewegung und wickelt sich behände damit ein. Eine Windel aus einem Merkblatt über die möglichen Folgen einer Befreiung von der Rentenver­sicherungs­pflicht! Die bedeckt nun seinen Intimbereich. Das hat Anton noch nicht gesehen. Und ich natürlich auch nicht. Und der Bademeister sowieso nicht. Der steht da wie ein unförmiger Steinsockel am Beckenrand. 

 

Und Bens Rausreinigung ist noch immer nicht zu Ende. Das musst du mir glauben. Da kommt noch mehr so würg-kotzmäßig aus seinem Mund. Unglaublich. Ich erkenne ein Dokument mit Unterschriften und noch ein Dokument und, das gibt es nicht, noch eins. Und es hört und hört nicht auf. Das sind seine siebzehn befristeten Kurzzeitarbeits­verträge! Anton weiß das, ich weiß das. Nur der versteinerte Bademeister weiß das nicht. Das Blau der Unterschriften löst sich im Wasser als erstes auf. Und was der bewindelte Minichef macht, ist noch unglaublicher als alles andere. Er taucht blitzschnell zu den Verträgen und kleidet sich damit ein. Mit flinken Fingern knüpft er irgendwie einen Langarmbody aus den Dokumenten und zieht ihn sich behände über die Rentenversicherungspflichtwindel. Und aus Bens befristeten Verträgen macht er sich noch mehr Kleidungsstücke: eine blaue Jogginghose,  eine rote Strumpfhose mit Mickey-Mouse-Motiv, zwei schicke Socken in Grün, ein gestreiftes Oberteil mit Froschmotiv, eine blaue Daunenjacke mit einem Dinosauriersticker, rote Babylederschuhe mit einem braunen Fuchs darauf, blaue Babyhandschuhe mit zwei roten Herzchen drauf und eine grünblau gestreifte Mütze mit einem kleinen gelben Zipfel oben drauf. Er kleidet sich stattlich ein, und warm als wäre es Winter. Blitzschnell passiert das alles. Und das Wasser zieht natürlich in die Klamotten ein. Es plustert den Minichef mit seinen neuen Klamotten regelrecht auf. Er wird zu einer fetten, bunten Kleiderkugel. Wir alle glotzen stumm ins Freibadwasser. Und ich habe immer noch dieses Ding von Gefühl in mir: so etwas wie Inspiration, die mich aktiviert und lähmt. Peinlich, echt. Aber es geht hier nicht um mich. Also weiter.

 

Bens Gesicht sagt alles als er auftaucht, wirklich alles. Und wir sagen nichts. Anton, ich und der Bademeister sagen nichts mehr. Das sage ich dir. Nichts. Stumm. Schweigen. Ende. 

 

Ach so, doch noch kein Ende. Mist, das wäre ein gutes Ende gewesen. Egal. Was ist aus dem Miniminichef geworden? Das habe ich ganz vergessen. Das muss ich natürlich auch noch erzählen. Der Minichef ist kurz nach Ben auch aufgetaucht und aus dem Becken geklettert. In seiner mit Wasser vollgesaugten Selfmade-Montur aus befristeten Verträgen ist er davon gekrabbelt. Flink an den Handtüchern der Freibadgäste vorbei. Im Mülleimer neben der Freibadkasse wurde seine letzte Spur gefunden. Die vollgeschissene Windel aus dem Merkblatt über die möglichen Folgen einer Befreiung von der Rentenversicherungspflicht. Die lag da rum. So berichtet es der Bademeister zumindest. Und seitdem wurde er nie wieder gesichtet, der Minichef mit den Kleidern aus Bens befristeten Arbeitsverträgen. Anton sah ihn nicht mehr, ich nicht mehr und Ben sowieso nicht. So, jetzt bin ich fertig. Oder? Ja, alles gesagt. Es ging ja um Ben und nicht um Anton und auch nicht um mich. Also ja, fertig!


Dritter Platz: Die Tonpuppe“, Ludwig Fleischer

Lange ist Martin nicht mehr in Wien gewesen. Zuletzt als seine Großmutter begraben und die kleine Wohnung in dem Zinshaus nächst der Kaiser-Jubiläumskirche „aufgelöst“ wurde. Nach der Auflösung ist Martin nach Tucson heimgeflogen und hat seine Kontakte zur Heimat weiterhin auf einen spärlichen Briefwechsel mit der Mutter beschränkt. Das seinerzeitige Leben in der engen Wohnung an der Donaunahe war unerfreulich gewesen und er hatte versucht, es zu vergessen: die vielen Streitereien zwischen Mutter und Großmutter, die vielen Ohrfeigen, die er bekommen hatte, den noch allgegenwärtigen Nazimief, die Not der Nachkriegszeit und auch den zögernd einsetzenden Wohlstand danach, der ihn aus der Wohnung der Großmutter befreit hatte.

Es hat sich hochgearbeitet, einen akademischen Grad erworben und sich einer kurzen, unglücklichen Ehe jenseits des Atlantiks eine solide Existenz aufgebaut. Nun haben ihn Geschäfte nach Wien geführt. Sie sind erfolgreich verlaufen und nach ein wenig Kultur – Burgtheater, Staatsoper, Musikverein – und dem unvermeidlichen Mutterbesuch hat er sich eine kleine Sentimentalität erlaubt und die Gasse seiner Kindheit aufgesucht, darauf gefasst, dass es sie in der einstigen Form gar nicht mehr geben würde. Vielleicht wäre ja auch das gelbe Gründerzeithaus nicht mehr da, in dem – wie man so schön sagt – einst seine Wiege stand.

Aber es gibt das Haus noch, vierschrötig und mit schmutzig-gelber Fassade wie eh und je. Nachdem er vor der klotzigen Kaiser-Jubiläumskirche aus dem Taxi gestiegen ist, schreitet er – in einer Stimmung zwischen Hochmut und Wehmut – die kleine Gasse ab. Rechts an der Ecke war einmal das Gasthaus Roužal, eine verrauchte, nach Bier und Zwiebel stinkende Donauschifferkneipe, in der ihm sein Wochenendvater ein paar Mal ein kleines Gulasch und ein Glas Apfelsaft kaufte und ihn von seinem Bier kosten ließ. Der alte Roužal hatte nur noch einen Arm. Den anderen hatte er im Krieg verloren. Jetzt ist in der ehemaligen Kneipe ein Elektroramschladen untergebracht. Martin hört eine Schiffsirene greinen: Das Tröten der Schiffshörner und die Pfiffe der Dampflokomotiven der Donauuferbahn hatten den Soundtrack vieler seiner Knabenträume ausgemacht, sich quasi in seine Träume von Ausbruch und Auswanderung gefressen.

Wo der Schrottplatz war, steht jetzt ein Gemeindebaukomplex. Ramschläden mit Donaudampferware auch hier. An das ehemalige Roužalhaus schließt ein weiterer riesiger Gemeindebau an, der auch das Areal des einstigen Elektrizitätswerks für sich beansprucht hat. Neben dem Roužalhaus befand sich einst Eberharters Stadtbauernhof. Eberharter war ein knorriger Tiroler mit weißem Lockenschädel, den es der sogenannten Liebe wegen nach Wien verschlagen hatte. Hier richtete er sich sein Gehöft ein: ein ebenerdiges, an eine Zinskaserne geducktes Häuschen mit zwei Zimmern, einen Stall mit drei Kühen, die niemals das Tageslicht zu Gesicht bekamen und einen Schuppen voller Bergbauerngeräte, die in dieser Umgebung nutzlos waren: Sensen, Sicheln und Kraxen gab es da, und manches andere, das der kleine Martin nicht benennen konnte. Die Vegetation auf Eberharters Gehöft bestand in etwas Gras und Kamillenkraut, das zwischen den Pflastersteinen wuchs, eine Parodie auf die Tiroler Weiden, an deren Rand Eberharter seine Kindheit verbracht haben mochte. Der Stadtbauernhof war einer kriegsbedingten Bevorratungsinitiative der Nazis zu danken. Im Kirchenpark baute man damals Erdäpfel und Kohlköpfe an, in der schlimmen Zeit, von der die Großmutter so oft erzählte, um den Kindern Dankbarkeit für den relativen Überfluss beizubringen, in dem sie lebten. Irgendwie hatte Eberharters Stadtbauernhof den Krieg und auch die Nachkriegszeit überstanden. Bis Anfang der sechziger Jahre konnte man jeden Tag zwischen zwölf Uhr mittags und drei Uhr nachmittags kuhwarme Milch, Butter und Käse kaufen, allen Hygienebestimmungen moderner Großstadtverwaltungen zum Trotz. Aber Wien war damals nicht  großstädtisch, und diese Gegend an der Donau ein halbstädtisches Notstandsgebiet, schäbig und von Kriegsschäden verunstaltet.

Am Ende der Gasse war das E-Werk mit seinen Schloten aus rotem Backstein. Im sogenannten Kultursaal des E-Werks konnte man damals fernsehen: Ein einziges Programm in Schwarz-Weiß, auf einer Kinoleinwand, um einen Schilling Eintritt.

Martin muss eine Viertelstunde warten, bis er in das Haus hinein kann: als nämlich ein schnurrbärtiger Drillichmann aus dem Tor tritt: Der Versuch, sich mit Hilfe der Haussprechanlage Zutritt zu verschaffen, ist Martin erspart geblieben.

Ich habe hier als Kind gelebt, murmelt er. Dem Drillichmann ist es egal. Das schwarze Tor mit den kleinen Glasquadraten ist dasselbe wie vor fünfzig Jahren. Damals gab es noch keine Haussprechanlagen. Wer in das Haus nach neun Uhr abends eindringen wollte, musste einen Schlüssel haben oder die Dienste der Hausmeisterin in Anspruch nehmen, was einen sogenannten Sperrschilling kostete und mit bösen Blicken und gedämpftem Keifen verbunden war. Von Mai bis September aber blieb das Tor vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit weit geöffnet, weil rund um die kürbisförmige Deckenleuchte im Hausflur Schwalben nisteten und beständig aus- und einflogen, um Nahrung für die gierig fiependen Schwalbenkinder herbeizuschaffen.

Der Flur ist unverändert, der Deckenkürbis ist noch da, ebenso wie die weiße Inschrift in der gelben Marmortäfelung: Erbaut von J. Modern, 1875.

Schon als Kind hatte Martin nicht gewusst, ob man den Namen des Erbauers auf der ersten oder auf der zweiten Silbe betonte. Die Betonung mo-DERN schien ihm wahrscheinlicher, MO-dern passender, denn nach Moder roch und riecht es hier. Auch nach Schweiß, Zwiebeln und Kraut, wie ihm vorkommt, doch ist er unsicher, ob nicht die Gerüche der Erinnerung jene der Gegenwart überwölken. In einem Eckkabinett im Parterre  wohnte die alte Hocholka. Sie beherbergte eine flügellahme Taube, die stets auf ihrer rechten Schulter saß, wenn die Alte – was selten war – ausging oder – beide Arme auf das Fensterbrett gestützt, stundenlang beobachtete, was sich auf der Straße abspielte. Eines Tages hatten die Zwillinge vom Hochparterre die Taube entwendet und sie so lange immer wieder in die Luft geschleudert, bis sie tot war. Martin – um drei Jahre jünger als die Zwillinge – hatte zugesehen, halb entsetzt, halb bewundernd. Einer der Zwillinge hatte den toten Vogel dann über die Plakatwand auf den Schrottplatz geworfen. Die Zwillinge waren von der Hocholka verflucht worden. Einer war später mit dem Moped tödlich verunglückt, der andere wegen diverser Diebstähle im Gefängnis gelandet.

Die Zwillinge hießen Toni und Nochwie. Sie hatten eine Schwester namens Heli, die hinkte. Die Eltern waren ein Herr und eine Frau Dezsö. Letztere wurde im Haus „Vera“ genannt. Sie war stets unordentlich gekleidet, soff und stank. Saufen tat auch der kleine, fette Glatzkopf Dezsö, der im Sommer in kurzen Hosen, Strickhemden, Stutzen und Halbschuhen herumschlurfte (worin er dem knochendürren Eisenbahnheizer Horvath vom dritten Stock glich, der gelegentlich mit ihm beim Roužal einen hob). Mutter erklärte, Dezsö sei ein Pusztawürschtel und ein Hilfsarbeiter, wobei sie den Mund verzog, und Großmutter sagte, die Dezsös seien ein Gesindel, das man nicht grüße und der versoffene Dezsö sei nur noch deshalb mit der stinkenden Schlampe Vera zusammen, „weil sie es so gut“ könne. Der kleine Martin ahnte, was sie so gut konnte, und er ekelte sich noch mehr vor Vera.

Noch immer ist da der gusseiserne Flugdrache mit dem Hundekopf am Anfang des Stiegengeländers zum „Hochparterre“. Dort wohnte die Pretsch, die noch mehr stank als Vera, aber auf eine sozusagen weniger anrüchige Weise. Langsam, langsam steigt Martin die Treppen hoch, von den Genien und Gerüchen der Kindheit umgaukelt. Bis zum Hochparterre ist der Fußboden mit bräunlich geblümten Fliesen gekachelt, ab dem ersten Stock mit einem schwarz-weißen Schachbrettmuster. Weiteres Personal des Kindheitshauses fällt Martin ein: die schwerhörige Milli, die ihn und seine Schwester mit wabbeliger Schweinssülze fütterte, die Sudetendeutsche Surmann, die auf die Tschechen schimpfte, die alte Siegl mit ihrem im Nacken geknüpften Kopftuch und ihrer Promenadenmischung, zu der sie sagte: Komm, Rexi-Bulli, setz dich scheen auf meine Fieße. Sie war die Schwiegermutter von Herrn Ackermann. Nach einem Streit mit der Großmutter, bei dem es um das Recht ging, vor welchem Gangfenster wer seine Wäsche zum Trocknen aufhängen durfte, grüßte man einander nicht mehr. Wenn der fette Ackermann eines Mitglieds von Martins Familie ansichtig wurde, pflegte er diesem demonstrativ die Kehrseite zuzuwenden, weshalb Martins Familie diesen Nachbarn nur noch den „Herrn Arsch“ nannte. Vor dem Streit um die Sockentrocknungsrechte hatte der Herr Arsch den kleinen Martin manchmal mit sauren Drops und süßlichen Redensarten verwöhnt, was dieser ihm mit einer gewissen Zuneigung dankte, doch nun musste Herr Arsch schon aus Sippenhaftungsgründen verabscheut werden.

Als Martin vor der einstigen Wohnungstür seiner Familie steht, fallen ihm auch die alte Betschwester Beck, die Kabinettbewohnerin Pachym und ihr tauber Vater ein, der nebst einigen Wienerischen Flüchen nur Ungarisch konnte. Genug der Reminiszenzen, denkt Martin, als ihm aus der Wohnung, in der er Kind war, eine türkische Kopftuchfrau entgegentritt und ihn – was Wunder? – misstrauisch mustert.

Enough is enough. Martin ist in einem Alter, da es ohnedies immer schwerer fällt, die Erinnerungen zu verwalten. Sein Gedächtnis hat heute geschuftet wie ein alter Zirkusartist, der bei einer Benefizveranstaltung noch einmal über sich hinauswächst. Den Keller hat sich Martin zum Schluss aufgehoben. Der Keller hat ihn fasziniert als Kind, weil man allein nicht hinein durfte und nur beim Kohlen Tragen oder bei Hilfeleistungen in der Waschküche Zutritt hatte. Officially, denkt Martin, und dabei beginnt ein weiteres Gespenst aus Kindertagen in ihm zu spuken: ein kleines, pummeliges Mädchen vom ersten Stock, das wegen seiner bläulichen Gesichtsfarbe von den Hauskindern „Zwetschke“ geheißen wurde. Wie sie wirklich hieß, fällt Martin nicht mehr ein. Während er langsam die Treppen hinabsteigt, probiert er einige Namen aus. Bald heißt die Zwetschke Traude, bald Susi, bald Marie. Sie war ein sogenanntes blaues Baby gewesen, also schwer herzkrank, wahrscheinlich, weil ihre Mutter in der Schwangerschaft die Röteln bekommen hatte. Die Zwetschke wurde von den Zwillingen und dem blöden Demmayer vom Nachbarhaus auf alle mögliche Weise sekkiert und gehänselt. Im Winter bewarf man sie mit Schneebällen, man stellte ihr das Bein, bespritzte sie mit kaltem Wasser aus der sogenannten Bassena, versteckte ihre Puppe (ein scheußliches Ding aus Ton) und fragte sie, wie viel Schnaps sie gesoffen habe, weil sie so blau sei. Martin hat es gehört, hat zugesehen, wie er zugesehen hat, als die Zwillinge die lahme Taube der alten Hocholka zu Tode quälten. Und er ahnt, dass die Erinnerung an die Zwetschke eine unangenehme, beschämende Erinnerung ist, aber die Erinnerung lässt sich nicht mehr verscheuchen. Wie ein Geist aus der Flasche steigt sie hoch, überwölbt ihn, umhüllt ihn. Er sieht das kleine, pummelige Ding mit der bläulichen Haut genau vor sich, als er in den Keller eindringt, in die Unterwelt seiner Kindheit hinabsteigt, wo die Wände mit Schimmel beflockt sind wie mit Schnee, aus dem man Schneebälle formen wollte und natürlich scheiterte. Martin sieht die Zwetschke vor sich und er weiß, dass die Zwetschke Traude heißt und über alle Schmähungen zu lächeln versucht, unbeholfen und unüberzeugend, sodass der blöde Demmayer sagt: Lach nicht so deppert. Und einmal ist der Knabe doch allein in den Keller gegangen (so wie jetzt sein Nachlassverwalter, der alternde Mann), und das bedeutete: er ging ohne das erwachsene Erziehungspersonal, allein mit den Zwillingen und dem blöden Demmayer und der Zwetschke, die in die Finsternis gezerrt, geschoben und gestoßen wurde, und der Knabe sah zu, entsetzt, bewundernd, ein bisschen verlegen und vor allem ratlos. An den Kellerwänden lehnten links die hölzernen Waschtröge wie Särge, jeder mit der Wohnungstürnummer des Besitzers versehen, und die Zwetschke Traude, das unbeholfen lächelnde blaue Baby, wurde in den hintersten Kellerwinkel geschoben, wo sich ein Geheimgelass befand, das stets versperrt war und von niemandem benutzt wurde. Zwilling Toni hielt in der linken Hand eine Taschenlampe und in der rechten einen sogenannten Sperrhaken, mit dem er die Tür zu dem Geheimgelass auftat, und dann wurde die jetzt wohl nicht mehr lächelnde, weil zeternde Zwetschke hineingeschoben und trotz ihres Bettelns „Bitte nicht, bitte nicht“ vom Zwilling Toni eingesperrt. Und der kleine Martin beobachtete alles, soweit man es in der Finsternis beobachten konnte, und der Zwilling Nochwer namens Adolf packte den kleinen Martin an beiden Schultern und schrie: Wenn du was sagst, dann hauen wir dich deppert, und der blöde Demmayer wiederholte es und dem kleinen Martin schlotterten die Knie, auch dann noch, als sie ihn fortgejagt hatten und er am geflügelten Drachen mit dem Hundekopf vorbei in Richtung zweiter Stock empor floh.

Martin weiß nicht, wie lange die Zwetschke eingesperrt war, aber er weiß, dass sie bald nach dem Abstieg in die Unterwelt ins Spital gebracht und dort gestorben ist. Das erschien allen im Haus logisch, denn sie hatte ein schwaches Herz und blaue Babys lebten nie lange.

Martin steht vor dem Geheimgelass, das Feuerzeug in der Linken, und rüttelt an der Tür, die sich plötzlich ganz leicht, wenn auch unter leisem Greinen öffnen lässt. Ist sie die fast fünfzig Jahren unversperrt gewesen, seit jenem Nachmittag, da die Dezsö-Zwillinge die Zwetschke wieder aus dem Verlies befreiten? Martin versucht, das Gelass mit der Feuerzeugflamme auszuleuchten. Dann kniet er jäh auf dem modrigen Boden nieder und tastet nach dem Gegenstand, den er erspäht hat. Mit schmerzenden Knien erhebt er sich wieder. Langsam, seinen Fund an sich drückend, steigt er Richtung Tageslicht empor.

Im Taxi betrachtet er die kleine Figur auf seinem Schoß und der alte Taxler dreht sich halb herum und sagt: Selten, solche Pupperln, heutzutag. Wo ham’S denn die her?

Martin überlegt, ob er die Puppe in seinem Garten in Tucson, Arizona, begraben oder sie in die Wohnzimmervitrine stellen wird, damit er sie nicht wieder vergisst, und er gibt dem alten Taxler eine etwas verspätete Antwort: Aus meiner Kindheit, und er spricht es mit starkem amerikanischem Akzent aus.


Vierter Platz (Jurypreis): Das Lied der törichten Kinder“, Amanda Lasker-Berlin

Ich tauche unter, um die Melodien des Wassers zu hören, frage mich, welches Lied es gerade für mich singen will, das Wasser. Es ist angenehm warm und der Schaum, der auf der Oberfläche schwimmt, knistert sinnlich in sich zusammen, sodass immer mehr von meinem Körper sichtbar wird. Ich schaue zu ihr. Wie sie dasteht, vor dem Spiegel, sich die Wimpern tuscht, den Lippenstift aufträgt, die Haare nach hinten bindet.

Paula, frage ich vorsichtig und erkenne, dass meine Stimme immer noch kratzt, so als wollte sie die Erlebnisse der letzten vier Stunden in den Spiegel ritzen.

Hm, macht sie nur, nimmt ihr Armband aus dem Schmuckkästchen und legt es sich um.

Nichts, sage ich lieber, tauche noch mal unter, weil ich nicht hören will, wie sie sagt:

Ich muss jetzt los. Hab nen schönen Abend, bleib nicht so lange im Wasser, sonst löst du dich noch auf.

Also halte ich meine Ohren und Augen unter das Wasser und höre wie die Wanne zuerst das weiche Lied über Paulas Hand singt, aber dann, ganz heimtückisch, gerne würde ich unerwartet sagen, mit dem der törichten Kinder beginnt. Mit jeder Welle des Wassers schwappt das Lied in meine Ohren, schält sich in meinen Kopf, schlängelt sich durch das Gehirn, das es nicht schafft, das Lied in seinem komplex gewundenen Labyrinth zum Aufgeben, zum Rückzug zu bewegen. Und so heftet das Lied sich wieder an die Schaltzellen meines Körpers und bleibt dort haften.

Ich tauche auf, schüttle die Ohren aus, darauf hoffend, das Lied könnte hinausfallen, und mit dem Badewasser in die Kanalisation gelangen, dort an den Rohren entlanghallen und niemandem die Atemluft gefrieren lassen, außer den Ratten. Ich werde nicht akzeptieren, dieses Lied auch noch in meinem Kopf zu haben. Dieses Lied, das ständig angeschlichen kommt, sich versteckt, in den Geräuschen des Alltags und wartet, bis man entspannt ist, dann auftaucht, und so leicht nicht mehr verklingt.

Schnell richte ich mich auf, lasse das Wasser ab, steige aus der Wanne. Der Raum ist feucht und warm, Nebel hängt in der Luft, und an dem rechten Spiegel klebt noch Paulas Geruch. Als ich das Fenster öffne, um zu lüften, höre ich, wie sie den Motor unseres Autos anlässt und losfährt.  Meine Augen gehen zu dem Spiegel, an dem sie ihren Geruch gelassen hat. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich mit ihr gefahren wäre. Mit zur Vorstellung, mit in die komische, kleine Kneipe, in der man als Jazzkünstler jeden Dienstag für fünfzig Euro Gage auftreten kann, die alten Jazzklassiker singt, oder spielt, für ein Publikum, das sich aus Freunden und Verwandten oder ein paar Musikstudenten zusammensetzt.

Paula singt heute Liebeslieder an den Frühling. Und dann trägt sie ein paar Gedichte vor, die ich geschrieben habe, und dann schauen alle diese wunderschöne Frau an und dann fragen sie sich, warum sie nicht in großen Konzerthäusern singt, warum sie hier ist, in der Gegend, in der sich die Städte und die Kulturschaffenden so eng aneinander drängen und die Straßen von so viel frischer Luft durchströmt werden, dass das abgestandene Alte nie länger hält als eine Woche und das, was noch nach Kioskkultur und Zigarettenschachtel riecht, sich in den Hinterhöfen und letzten schwarzverkohlten Häusern zurückzieht. Paula ist aus Berlin gekommen, um hier zu leben, das kann man dem Programmheft entnehmen, das man bekommt, wenn man zwei Euro bezahlt, um sie singen zu hören. Und alle werden sich fragen, warum ist sie aus Berlin hierhergekommen, denn hier ist das Großartige nicht so offensichtlich, wie in Berlin. Und alle werden erkennen, sie ist wegen der Liebe gekommen, weswegen sonst.

In manchen Cafés, in denen wir aufgetreten sind, liegen noch die Flyer von unserem Duoprogramm. Von meiner dunkleren Stimme und ihrer hellen, die so lyrisch ineinander verschmolzen sind. So hat es einmal ein Kritiker in der Lokalzeitung geschrieben. Und er hat gesagt, dass er auf unseren Durchbruch wartet, dass er sich sicher ist, dass es bis dahin nicht mehr lange dauern kann, denn die Harmonie und die extreme sinnliche Spannung zwischen uns sei so stark, dass niemand sich diesem unbändigen Akt der Hingabe entziehen kann. Ich habe mich beim Frühstück lustig gemacht über den Artikel, habe ihn Paula mehrfach vorgelesen, in theatralischen Betonungen, habe mehr darüber gelacht als sie. Denn sie saß nur da, übermüdet, angespannt, schon wieder alles zerdenkend, sich an einen anderen Ort wünschend, die Philharmonie unserer Stadt, das Konzerthaus um die Ecke, eine Tournee durchs Land.

Dass alle immer vom Durchbruch reden müssen, hat Paula gesagt, Durchbruch ist ja auch irgendwie ein sehr gewaltsames Wort.

Erst vorhin, als ich im Wasser lag, habe ich verstanden, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon wusste, dass das Lied von den törichten Kindern wieder bei mir angekommen war. Dass es leise in der Nacht anfing zu spielen, wenn ich so tief träumte, dass ich es eigentlich nicht hören konnte, dass es bald auch schon in den wagen, unsicheren Minuten vor dem Aufwachen seine letzten Klänge spielte. Paula hatte vielleicht noch mehr Angst vor dem Lied als ich. Hatte nie daran geglaubt, dass wir zusammen in richtigen Konzerthäusern stehen würden, hatte sich nie ganz auf mich verlassen, immer ihr Einzelrepertoire geübt, mit Agenten Soloabende verabredet. Paula hatte, anders als ich, nie geglaubt, dass das Lied der törichten Kinder nie wieder kommen würde.

Ich schmiere mein Gesicht mit einer Creme ein. Im Moment liebe ich alles, was einen Schutzfilm um den Körper legt, alles, was verhindert, dass Wind oder Worte ungefiltert auf die Haut treffen.

Was machen sie denn jetzt den ganzen Tag, wird man ständig gefragt, von den Nachbarn, die einen mochten, als man halbwegs erfolgreich war, denen man die Blumen gegossen hat, wenn sie verreist waren.

Ich bade sehr viel, antworte ich dann immer. Und die Leute, die gefragt haben, sehen mich mitleidig an, denn mein Verfall ist nicht nur an meiner krächzigen Stimme zu erkennen, sondern auch an der Art, wie ich meinen Körper halte, wie er hängt, im Treppenhaus oder in der Straßenbahn. Er ist der Körper einer der Figuren geworden, die den ganzen Samstag durch den Supermarkt schlendern, weil sie nichts anderes zu tun haben, als sich zu überlegen, was sie alles kaufen könnten, wenn die Zeiten anders geworden sind.

Ich drücke meine Schultern durch, ziehe den Bauch ein, atme tief aus, versuche dann den Ton zu singen, den Paula auch gerade singt. Im Moment ist sie sicher dabei, sich einzusingen. Beim Autofahren. So wie wir das immer machen, denn wir sind jedes Mal zu spät, wir haben nie die Zeit, uns ordentlich vorzubereiten vor dem Auftritt, denn irgendwie ist unser Leben immer einen Hauch schneller als wir und wir sind mit nichts Anderem beschäftigt, als mit dem Versuch, es einzuholen.

Ich bekomme den Ton nicht, die Stimme stürzt ab, lässt nur noch gehobelte Luft aus meinem Mund kommen. Schnell dreh ich den Wasserhahn auf, flute mein Gesicht. Spritze mir die Sequenzen der Badewannenmusik um Augen, Nase und Mund, benetzte meine Wangen mit der Illusion, ich könnte heute noch gute Lieder hören.

Schnell ziehe ich mich an, gehe in unser Schlafzimmer, schreibe Paula eine SMS:

Viel Erfolg nachher. Ich denk an dich. Fahr vorsichtig.

Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass ich ihr das letzte Mal so eine SMS geschrieben habe. Vielleicht, als sie noch in Berlin war, wegen ihres Studiums, und ich im kleinen Stadtteil an der Ruhr saß, auf die Fahnen der Musikhochschule geschaut habe, den Geruch von klaren Wasser und juniwelkenden Blumen einatmete. Vielleicht, als sie gerade ihr Abschlusskonzert gesungen hat, zu dem ich nicht kommen konnte, weil ich im Krankenhaus war. Mal wieder eine Lungenentzündung, mal wieder ein Gespräch mit einem Psychologen, mal wieder die Aufforderung, mehr auf mich zu achten, denn lange konnte ich so ja nicht weitermachen.

Ein Gespräch mit Paula, die als einzige von dem Lied der törichten Kinder wusste, die geweint hatte, als ich ihr den Text gesagt hatte, die mich festhalten wollte, ich sie aber wegstoßen musste, weil ich mit Halt nicht umgehen konnte, nicht mit fremdem, nicht mit eigenem.

Vorsichtig laufe ich ins Wohnzimmer, schleiche, weil ich nicht mag, wenn ich meine Schritte höre, weil es mir lieber ist, nicht zu klingen. Mein Handy nehme ich mit, vielleicht antwortet Paula noch vor dem Konzert. Vielleicht auch nicht, denn sie muss mit unserem Pianisten noch ein paar Kleinigkeiten besprechen. Vor jedem Konzert muss sie noch einmal in den Spiegel schauen.

Wenn ich in den Spiegel schaue, merke ich, dass ich da bin, hat sie einmal gesagt, als ich mal wieder durch die Wohnung schlich und sie mit ihren polternden Absätzen und dem Spiegel hinter mir her lief, Aufwärmübungen für die Stimme machte. Paula liebt es, Spuren zu hinterlassen und deshalb lieben sie alle, denn Paula sendet mit ihren Blicken allen die Idee, sie, Paula, nicht mehr zu vergessen.

Im Wohnzimmer mache ich mir den Fernseher an, schaue aber nicht wirklich hin.

Ich friere immer ein bisschen nach dem Baden. Aber ich will mir auch keine Decke nehmen, denn wenn ich noch kränker werde, macht das ja auch nichts.

Wenn ich jetzt wieder eine Lungenentzündung bekomme, dann operieren sie mich vielleicht. Dann kommt das Lied vielleicht endlich raus.

Paula glaubt das nicht, schüttelt jedes Mal den Kopf, wenn ich davon anfange, dass eine Operation an der Lunge alles leichter machen würde. Sie sagt:

Man kann Lieder nicht aus dem Körper schneiden.

Ich habe ihr gesagt, dass sie mich einfach nicht versteht. Das mein Körper anders ist. Dass er aus verschiedenen Tonaufzeichnungen besteht, aus Tonbändern, digitalen Datenträgern, die sich aneinander fügen, mit den Organen verwachsen. Jedes Lied, hat seine Stelle im Körper. Paula findet, ich soll nicht so rumspinnen. Ich soll mich mit meinen wirklichen Problemen beschäftigen und das wäre ja in erster Linie nicht die Lunge.

Sie versteht es eben nicht, weil sie immer alles rauspoltert, was ihr passiert. Bei jedem Konzert spuckt sie alles, was sie erlebt hat, in den Zuschauerraum, bei jedem Schritt hämmert sie das, was sie stört, in den Boden.

Bevor ich baden gegangen bin, haben wir wieder über meine Lunge gesprochen. Sie war genervt, hat sich hübsch gemacht, Ohrringe rein, Make-up verrieben.

Wie kommt denn das Lied bis zur Lunge? Da, wo es dir wehgetan hat, ist doch weit weg von den Lungen.

Ich hab ihr gesagt, dass sowas nicht nur an der Stelle wehtut, an der es passiert. Ich habe ihr gesagt, dass die Lungen die einzigen im Körpers waren, die das mitbekommen haben, weil die Lungen sich nie abstellen können. Sie atmen weiter, egal was ist.

Und der restliche Körper stellt sich tot?, hat Paula gefragt, ganz leise, ganz so, als wäre sie nicht sicher, ob sie das fragen könne.

Der restliche Körper ist dann tot, habe ich ihr gesagt und sie hat kaum merklich genickt.

Ich hab ihn immer eingeatmet, als er da war, musste ich noch ergänzen, damit sie es wirklich verstehen konnte.

Und als er da war, hat er gesungen.

Das Lied von den törichten Kindern, hat Paula mich ergänzt, damit ich nicht sprechen musste.

Das Lied von den Kindern, die alles sagen, was ihnen passiert ist.

Und den Müttern und den Geschwistern, die dann sterben.

Und den Kindern, die am Ende verhungern. Denen der Mund zusammenwächst, denn sowas erzählt man nicht weiter.

Ich bin dann in die Badewanne gegangen und Paula ins Schlafzimmer, um ihren schwarzen Overall anzuziehen, die Lackschuhe und das rote Halstuch.

Und dann, als Paula gegangen ist, hat sie mit Sicherheit nicht gesagt: Ich muss jetzt los. Hab nen schönen Abend, bleib nicht so lange im Wasser, sonst löst du dich auf.

Sondern leise, ganz leise, ist sie zur Badewanne gekommen, hat meine Hand in ihre gelegt, und in die Nähe meiner unterwasserliegenden Ohren geflüstert:

Vielleicht geht das Lied ja weg, wenn du dich traust, es rauszuschreien. Mutige Kinder lassen sich nicht den Mund zuwachsen.

Durch das Wasser klang ihre Stimme weitentfernt, vernebelt, verwischt. Doch Paula hat ihren Worten das Schwimmen beigebracht.

Dann hat sie meine Hand geküsst, sich noch einmal im Spiegel angesehen, ihren Geruch daran geklebt, damit ich sie nicht vergesse in den drei Stunden und ist gegangen.

Und ich stehe jetzt auf, lasse den Fernseher laufen, tapse auf den Balkon. Es riecht nach den Tomatenpflänzchen, die Paula eingepflanzt hat, nach dem Regen, der gleich beginnen wird und nach dem frischen Wind, den engumschlungenen Straßen dieser Stadt. Ich stelle mich hin, so gerade wie ich kann, spanne mich an, den ganzen Körper, öffne den Mund, lasse Luft in mich, in jede verbeulte Ecke meiner Lungenflügel, und beginne damit, es zu singen. 


Fünfter Platz : Middle of the road“, Adele Gerdes

Ich versuche immer wieder, den Fehler zu finden, was ein Fehler ist.

Ich sortiere die Bilder im Kopf, geh sie durch, wie man einen Foto­stapel durchgeht, mal liegt das eine, mal das andere oben. Da gibt es diese Bilder, auf denen siehst du gut aus, die liegen am besten immer oben. Und dann gibt es das Mittelfeld, die Masse, und dann schließlich die, darauf siehst du so aus, wie du eigentlich nicht gerne aussiehst, oder die anderen so, wie du sie eigentlich nicht sehen willst. Oder die Welt so, wie sie nicht aussähe, wenns nach dir ginge. Und schließlich ist da mindestens eines dieser Bilder, die du am liebsten ganz nach unten in den Stapel schiebst, oder, sehr gerne, aussortierst und entsorgst. Aus dem Kopf, was ja ohne Drogen nicht so einfach ist. Und überhaupt weg damit, aus der Welt. Was, ich sag jetzt mal, auf die Gefahr hin, den Vergleich entscheidend zu überstrapazieren, was früher, in den guten alten Zeiten der Bloß-Papier-Bilder, ging.

Sie ist am Sonntag, als ich zur Schicht war, nochmal allein hin, weil sie ihr Handy vergessen hatte.

Und auf dem Rückweg ist es passiert: Da ist sie ungebremst, mit etwa 90 Sachen, von hinten in den Radfahrer, auf freier Strecke, kein Gegen­verkehr, kein gar nichts. Er noch am Unfallort gestorben, und sie weiter, ohne anzuhalten.

Es gab so einen Fall, da bekam die Frau dann wegen Jugendstrafrecht zwei Jahre auf Bewährung, aber Lara ist fünfundzwanzig, das ist zu alt für Jugendstrafrecht, sie wird also wohl in den Knast gehen. Und soll ich dir mal was sagen, jetzt mal ehrlich, eigentlich finde ich das richtig, ich meine, am Steuer mit neunzig Sachen Whatsappen, ich habe mittlerweile eine Scheißangst, wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin auf solchen Strecken. Gut, vielleicht bin ich eh der vorsichtige Typ. Aber diese Vorstellung, du fährst an nem schönen Sonntagvormittag nen bisschen Rad, die Sonne scheint, ganz entspannt, die Straße frei bis zum Horizont, du weißt, wenn da jetzt ein Wagen auf der Bundesstraße hinter dir ist, der überholt problemlos, kein Gegenverkehr, alles prima. Und auf einmal jemand mit fast hundert Sachen von hinten voll in dich rein. Horror. Ich krieg das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Als Fußgänger gehst du ja links, da siehst du die Autos wenigstens noch auf dich zukommen, aber als Radfahrer, diese Vorstellung, da fährt jemand auf freier Strecke ungebremst von hinten in dich rein. Und, wie der Bulle sagte, dass sie immer mehr solche Fälle haben und die Handys am liebsten, wenns gekracht hat, vor allem auf ganz freier Bahn, ohne Gegenverkehr, ohne Fremdverschulden, so heißt es, sofort sicherstellen.

Aber ich wollte ja von davon erzählen, warum sie da noch mal hin ist.

Da wohnt meine Cousine, und bei ihr, vielmehr bei ihrer Mutter, hab ich früher die Ferien verbracht, da war ich Samstagabend zum Essen eingeladen. Nichts besonderes, alle paar Jahre war das eben mal wieder dran. Und sie mit. Keine Ahnung, warum. Ich meine, wahrscheinlich hatte einfach sonst niemand Zeit, und sie wollte nicht alleine sein. Mit uns beiden, das lief ziemlich mau und wäre wohl sonst bald aus gewesen.

Sie also: ››Was machstn Samstag?‹‹

Ich: ››Abendessen, aufm Land, dahin, wo ich quasi meine Kindheit verbracht habe.‹‹  

Sie: ››Komm ich mit.‹‹

Viel mehr war da vorher zu nicht gesagt worden, und ich weiß noch, als ich auf den Hof einbog, versuchte ich, das mit ihren Augen zu sehen: die Autowracks, der Silohaufen, vor der irgendwie passenden Hochtemperatur­reaktor-Ruine. Und in der Haustür Rita, fünfundsechzig auf einsfünfundsechzig, Kittelschürze mit Blumen in Rot-Blau-Weiß, Johannes-Rau-Gesicht, gerahmt in diese Dauerwelle á la Atze, so sieht sie es, dachte ich, und dass dieser Besuch keine gute Idee war. Aber: Bleib sitzen, wir fahren wieder, sowas sagst du ja nicht wirklich, und sie war auch schon ausgestiegen, iPhone in der Hand, kurz dachte ich, sie macht jetzt ein Foto und stellt das erstmal ein, mit so etwas war bei ihr eben zu rechnen, aber sie stand bloß und guckte. Sah aus wie nicht ganz überzeugt von diesem Unternehmen, aber wie üblich top, ich habe diesen Abend quasi in Standbildern  abgespeichert, im Kopf, dafür brauch ich kein Handy. Sie steht da, streicht sich die Haare nach hinten, starrt auf den Silohaufen und fragt sich vielleicht, was das ist. Theoretisch hätte sie sich jetzt umdrehen können und sagen, ››Ich will wieder weg‹‹. Aber sie ließ ihre Haare los, schlug die Wagentür zu, schon wieder ganz Pose, und wandte sich Richtung Haus. Ich holte sie ein, da war sie schon an der Tür, und dann schob Rita uns in den Hausflur, dämmerig, muffig, endlos lang. Lara ging vor mir her, ganz in Weiß, Weiß siehst du in der Dämmerung tatsächlich am besten, das sollte man sich als Radfahrer merken, sie hatte ein Kleid an wie das, in dem die Monroe auf dem Gitter tanzt, wo die Abluft ihr den Rock hochbläst, Fehler, dieser Besuch, das wusste ich ganz sicher, als ich meine weißgekleidete Freundin, silberne Tasche in der einen Hand, das weiß ich noch, und das iPhone in der anderen, auch silber, vor mir hergehen sah in diesem Flur.

Rita bugsierte uns in die Küche und war auch schon wieder weg, und diese Küche. Diese Sorte Küche kennt man in der Stadt so nicht: schäbig, riesig, und trotzdem heimelig, irgendwie, wobei, das kann auch an meinem ganz persönlichen Ich-verkläre-meine-Kindheit-Ding liegen. Das Linoleum war schon in den Achtzigern durchgetreten und irgendwo unentscheidbar zwischen braun und grau, in der einen Ecke eine große Eckbank mit Tisch, und dieser Geruch. Die Gerüche unserer Kindheit vergessen wir ja nicht, und hier war es der Geruch nach Hundefutter und schwarzem Tee, immer schon und noch.

Wenn ich die Augen schließe, seh ich Lara, wie sie in der großen leeren Mitte steht, zwischen Eckbank und Herdstelle, und auf den exakt in der Mitte von der Decke hängenden Leimstreifen mit den toten Fliegen starrt: in diesem weißen Kleid, rote Stöckelschuhe, ihre Haare von der Sonne silberblond. Der Leimstreifen ist uringelb mit Stich ins Orange.

››Retro, hm?‹‹, frage ich ihren Rücken, höre von ihr bloß dieses genervte Ächzen, sie klemmt die Tasche unter den Oberarm, dafür ist die gedacht, hat sie mir mal erklärt, nimmt das Smartphone in beide Hände und fängt an, hin und her zu gehen: hin und her, ich weiß noch das Geräusch, das ihre Absätze machen auf diesem starren Linoleum. Linoleum ist ja eigentlich eher nicht hart, sondern weich, aber wenn es steinalt wird, ist es eben ganz dünn und hart. Ich glaube, ich dachte jetzt zum dritten Mal, dass ich mir diesen Besuch anders vorgestellt hatte, und dass das mit ihr wohl nicht mehr lange gehn würde. Ich dauernd müde und sie so, na ja, ich sag mal, ich war nicht halb so tough, wie sie schön war. Was ich hatte, waren jede Nacht Albträume in HD, damals war ich noch im Wachdienst, da kriegst du eben die zerbrochene Flasche in Hochauflösung in die Fresse, und dabei genug Angstschweiß, um die Sahara zu begrünen. Ich ging ans Fenster und zählte die Autos auf der Bundesstraße, auf der anderen Seite sah man den Friedhof, als die Tür aufdonnerte und Rita erschien, die in den letzten Jahren zugelegt hat, vom Kochen rotes Gesicht, verschwitzte Ringellöckchen und Blumenschürze, sie sah exakt aus wie ihre Mutter. Und aus dem Hausflurdunkel rückte auch Gerd vor, der erste der Usurpatoren. Einsfünfundsiebzig, untersetzt, Halbglatze, hängende Unterlippe, Bierbauch unter dunkelblauem Busfahrer-Polyester. Aber eben kein Busfahrer. Man sah es eigentlich sofort, man sieht das ja eigentlich immer sofort, einfach daran, wie Leute dastehen, Kopf und Schultern steif und seltsam gerichtet, und spätestens, als er ››Hallo‹‹ sagte mit vage ausgestreckter Hand. Ich griff sie mir, sagte ››Hi, ich bins, Hannes‹‹ oder so, und wohl ››Schön, dich mal wiederzusehn‹‹ oder so. Aalglatt, kann ich auch, dann sagte Rita ihm, ich hätte meine Freundin mitgebracht, und schob ihn weiter in die Küche. Gerd sagte: ››Hi Lara‹‹, mit ausgestreckter Hand in ihre Richtung. Lara murmelte so was wie ››Hallo‹‹ und rührte sich ansonsten nicht, hielt mit beiden Händen diese silberne Handtasche. Gerd ließ die Hand wieder sinken, wie in Zeitlupe, und dann fasste er mit seiner einen Hand seine andere.

Rita schob uns zum Tisch, auf die Eckbank, Gerd, mich daneben und Lara, und gab uns schon mal Suppe auf, die ich immer bloß da esse: Fleischbrühe mit gelben Würfeln, Eierstich, und war dann noch mal weg, etwas holen, Lara daddelte auf ihrem Handy, ich zerrupfte das Etikett der Bierflasche. Etwas fehlte hier, in dieser Küche, aber ich kam nicht drauf. Gerd fragte: ››Wisst Ihr, wie ich Rita kennengelernt habe?‹‹

Lara schrieb ne SMS, ich schüttelte den Kopf. Dann dämmerte mir, dass er beides nicht sah. ››Nein‹‹, sagte ich.

››Ich bin über sie gestolpert‹‹, sagte Gerd, und Rita, die wieder da war, gab ihm eine Bierflasche und den Öffner.

Und dann tischte sie auf, Braten, Kartoffeln, Erbsenundmöhren, das ganze Programm. Lara schwieg und nippte am Essen. Gegenüber Gerd, der in sich hineinschaufelte als gäbs kein Morgen, sein Hemd nach der Brühe mit Bratensoße eindeckte.

››Wie ist es gelaufen, das letzte Jahr, für euch?‹‹, hab ich dann gefragt. Gut sei es gelaufen. Rita habe angefangen mit Kreistanz und Yoga, Gerd sei Vorsitzender des Blindenvereins, der jetzt anders heiße. Und der Kleine könne schon laufen und jetzt gerade schlief er. Hoffentlich noch lange, dachte ich.

Woher Lara und ich uns kennen, fragte Rita.

››Berufsschule‹‹, sagte ich, und weil das ja nun schon Jahre her war mit der Berufsschule, werde ich wohl noch so was nachgesetzt haben wie: ››Und dann sind wir uns neulich zufällig wieder über den Weg gelaufen.‹‹

Rita jedenfalls beäugte uns beide und lächelte und machte sich am Geschirr zu schaffen.

››Jeder wie ers kann und mag‹‹, sagte Gerd, der jetzt seinen Teller zur Seite schob und sich zurücklehnte.

Dann, wie das manchmal so geht, wenn mans am Tisch nicht mehr aushält, ich steh also auf und geh zum Fenster, und da kommt er. Kommt, kann man eigentlich nicht sagen. Ich aus der Küche und vors Haus, ihm entgegen. ››Hey Kumpel‹‹, sage ich, und als er das hört, schnüffelt er am Boden, Milchaugen, grauer Star, Fell quasi nicht mehr vorhanden, und den Titel Hässlichster-Hund-aller-Zeiten hatte er auch schon früher sicher. Und dann gingen wir über den Hof, mein Spielplatz früher, ich kickte ihm einen der herumliegenden schmutzigen Bälle, er sah es vielleicht gar nicht. Keine Ahnung, wie viel ein Hund mit Star noch sieht. Ich dann die Augen zu, blind über den Hof gehen, wie früher. Wenn der Boden unter deinen Füßen von Asphalt zu Beton wechselt, das hörst du. Bei Beton weiß ich, jetzt ist links der Silo, acht Schritte weiter stehen rechts die Getränkekisten. Tausche Bierverlag gegen Hartzvier. Ich drehe mich nach rechts, öffne die Augen, vor mir das Krombacher.

Zurück über den Hof, langsam, im Gleichschritt mit ihm, und den dunklen Flur und die Küche, mein Heimatplanet, der jetzt okkupiert ist. Lara ist noch da, hab ich gedacht, sie sei weg? Und der Junge. Ein Dreijähriger mit großem Kopf und altem Gesicht, das Gesicht von einem Mann so um die Vierzig, strenggenommen das Gesicht vom Vater, hängende Unterlippe, Fischaugen. Er klammert sich an Ritas Bein und steckt den Kopf unter den Blumenkittel, und die sagt, ››Scheu ist er‹‹, bückt sich und nimmt ihn hoch und strahlt, als sei die Sonne aufgegangen nach Jahren der Finsternis. Bis der Hund in die Küche schleicht, der Kleine ihn sieht und jauchzt und sie ihn absetzt und er fällt über den Hund her, als sei der ein Angorakaninchen. ››Pass auf mit Middle of the Road‹‹, sagt Rita. So heißt der Hund, aber das möge jemand anderes Lara erklären, die im Mein-Smartphone-meine-Welt-Modus auf der Eckbank sitzt. Hat sie was zum googeln.

Rita legt Gerd die Hand auf den Unterarm und fragt: ››Jetzt?‹‹ Und der trabt aus der Küche und ist sofort wieder da und bringt einen Eighties-Ghettoblaster an den Start und Tatsache ist, dass ich mir unter Kreistanz, wenn überhaupt, was anderes vorgestellt habe. Hund und Kind treten den Rückzug an, auf eine Decke unter der Eckbank, zehn Minuten später, das weiß ich, weil ich mich bücke und nachschaue, zehn Minuten später also schläft das Kind und der Hund kaut selig auf der Tasche. Was Lara nicht sieht, weil sie guckt nur auf eines, glaube ich, auf ihre Füße, und Gerd stampft um sie herum und brüllt, ich halte das spontan für Schrittkommandos, und in der nächsten Sekunde sitze ich auf der Bank, hinter dem Tisch, und versuche mit jeder Körperzelle zu signalisieren, dass ich weiter nicht gehen werde mit meinem Engagement hier und jetzt. Ich ziehe von Flaschen die Etiketten und klopfe mit dem Fuß den Rhythmus und höre Lara lachen, und du hättest mal sehen sollen, wirre Haare und dreckige Füße und das Kleid nichts Monroemäßiges mehr, mit dieser dicken Frau im Blumenkittel, während dieser große blinde Hulk irgendwelche Kommandos brüllt, und in der Ecke zerkaut der Hund seinen silbernen Knochen.

Als Lara und ich zurückfuhren in dieser Nacht, weil es Sommer war, hörte man schon die ersten Vögel, lag die angesabberte Tasche auf dem Rücksitz, und ob das Handy drin war, hat sie nicht mehr kontrolliert. Tatsächlich lag es dann ja unter der Eckbank.


Sechster Platz : Susa“, Stephanie Gessner

Sommer, wir wohnen in der Wittelsbacher, draußen dröhnt der Verkehr vierspurig, wir schlagen uns die Nächte um die Ohren an Orten, wo es noch lauter ist, nur so ist Heimkommen erträglich. Ich bin im dritten Semester, Susa macht etwas Kohle mit ihrem Instagram-Account, 100.000 Follower hat sie. Wir halten uns mit unterbezahlten Jobs über Wasser, sind chronisch klamm, können uns alles leisten. Die Hitzewelle dauert schon Wochen, Frankfurt macht einen auf Barcelona, Nächte voller Fußgänger, nackter Haut, Erdbeer-Minz, Hugos und Gin Tonics, wir sitzen am Sachsenhäuser Ufer, das Museumsuferfest atmet heftig ein und aus, wir brauchen Drinks, lassen uns anquatschen von zwei mit Bauchansatz und kurzen Stoffhosen, um die dreißig, kriegen uns kaum ein, als sie den Mund aufmachen. „Hauptsache, sie zahlen“, sagt Susa, zieht ihr Handy aus der Tasche, Brust raus, Bauch rein, Männersandalen mit Socken und Senfrest auf Pappteller, genialer Schnappschuss, den vertickt sie ans hessische Fremdenverkehrsamt, unter Garantie. Ich verschlucke mich und spucke den Drink in die Wiese. Knapp diesseits der Promillegrenze springen wir auf.

 

Sie will ins Faber, wir laufen am Ufer entlang, dann über die Brücke. Auf dem Eisernen Steg Konferenz der Liebespaare, „ist ja eklig“, sagt Susa, „wieso schlecken die sich so ab?“ Wir laufen an Pärchen vorbei, kurz vorm Ende der Brücke stoppt Susa, steckt sich eine Zigarette an, fragt zwei, die knutschend am Brückengeländer sitzen nach Feuer, der Typ kramt in seiner Lederjacke, das Mädchen schaut mit nassen Lippen abwesend durch Susa hindurch, Kopf im Nacken, wenn sie auf dem Boden läge, würde ich sie für tot halten. Er holt ein Zippo raus, lässt es aufschnappen. Susa nickt ihnen zu, bläst den Rauch in Richtung des geöffneten Munds.

„Netter Typ“, sagt sie, als wir weiter gehen.

„Sieht kaputt aus“, sage ich.

„Kaputt ist gut.“ Sie lächelt. „Kann nicht mehr kaputtgehen.“ Dann dreht sie sich um. „Hast du seinen Blick gesehen?“

„Nein, wieso?“

„Ich glaube, da ginge was.“

Sie dreht sich noch einmal um, bevor wir die Treppen von der Brücke hinunter auf die Straße gehen.

„Siehste, siehste, siehste.“ Sie stößt mich mit dem Ellenbogen in die Seite. Ich wende mich noch einmal nach dem Zippobesitzer und seiner Freundin um. Sie sitzen ineinander verschränkt am Geländer, Münder weit geöffnet aufeinander, Augen geschlossen, rosa Museumsmeilenlichter auf den Gesichtern.

„Sieht aus, als wollte er sie wiederbeleben“, sage ich.

„Nein, er frisst sie gerade, dann ist er sie los.“

„Hättest du wohl gerne.“

 

Im Faber steht Franco, wie immer, er kommt auf uns zu, Hände in den Hosentaschen, Susa strahlt ihn an, er küsst sie auf die Nasenspitze, sein Glasauge schaut mich über ihre Schulter hinweg an, es irritiert mich jedes Mal, aber er hat nur ein Auge für Susa, er streichelt ihr über die Haare, niemand sonst darf das, begleitet uns zur Bar, gibt dem Mann hinterm Tresen ein Zeichen. Franco wirkt ungekämmt und verschlafen, dabei ist er einer der ausgeschlafensten Typen überhaupt, jüngster Gastronom der Stadt, drei Läden gehören ihm schon, alle drei brummen seit dem ersten Tag. Er trägt die Hosen unterhüftig, dazu ein Shirt, auch im Winter nie mehr als ein Shirt, meistens eines mit einer schrägen Aufschrift, die er selbst erfindet. Heute steht „Vorsicht, Glas“ auf seinem Rücken. Auf der Brust prangt ein schillerndes Auge Gottes. Wir bestellen Weißwein, Susa und Franco reden über Neuigkeiten in der Szene, sie lacht viel, wirft den Kopf zurück, mäht den Raum mit ihrem Blick ab, genau wie er. Eine Gruppe von Leuten betritt den Laden, darunter mehrere Mädchen, auffallend dünn. Eine von ihnen wird Franco ein Jahr später heiraten, aber das ahnen wir noch nicht. Franco legt die Hand auf Susas Schulter, nickt mir zu, geht den Ankommenden entgegen, nimmt Hände, männliche, schüttelt sie, legt seine Hand an Wangen, weibliche, scheint alle gleichzeitig zu umarmen, führt sie an einen Tisch, es sieht ungemein lässig aus, wie er das macht. Keine Frage, er hat einen Knall, aber ich muss ihn anhimmeln. Susa seufzt.

„Hoffentlich hat er die Million bald zusammen, damit ich ihn heiraten kann.“

Ich schiebe dem Barmann mein Glas hin. Er kommt und gießt nach.

„Habt ihr das wirklich ausgemacht?“

Sie runzelt die Stirn.

„Wieso fragst du das jedes Mal? Sonst merkst du dir doch auch alles.“

„Und du glaubst, er meint das ernst?“

„Logisch. Synergie, mein Engel. Er macht die guten Deals, ich habe den Draht zu den Followern und Presseleuten. Wer weiß, vielleicht expandiert er so, dass er eine eigene Unternehmenssprecherin braucht.“ Sie schaut rüber zu Franco, seine Hand liegt gerade auf dem Oberschenkel einer geschätzt Fünfzehnjährigen. „Wir wären ein unschlagbares Team.“

„Ich kriege das Gefühl nicht los, dass er auf ganz Junge steht.“

„Ach was, er ist einfach nur geschäftstüchtig.“

„Eben“.

Wir überlegen, ob wir noch einen trinken, ab jetzt kostet es, das sehe ich dem Barmann an. Es ist kurz nach eins, der richtige Moment für einen Ortswechsel. Wenn wir uns beeilen sind wir rechtzeitig zu unserem Lieblingslied bei Rick’s.

 

Wir sitzen in Susas rostigen Peugeot, der in der Nähe des Ufers geparkt war, sie lässt den Motor heulen, ihre blonden Strähnen zittern wie ein Kometenschweif im Fahrtwind. Sie trägt ein limettengrünes Shirt mit dem Aufdruck „Bitch happens“ und den schwarzen Mini mit Beinfreiheit. Während der Wagen die Friedberger hinauf knattert, dröhnt ein uralter Song aus dem Radio, I’ve got you babe. Susa dreht bis zum Anschlag auf, rockt auf dem Sitz. «I’ve got you to talk with me. I got you to kiss good night, I got you to hold me tiiiiight!» Sie schnippt ihre Zigarette aus dem Fenster.«I got you and I won’t let go. I got you to love me soooo!» Ich habe mich schon oft gefragt, woher sie diese uralten Songtexte kennt.

 

Bei Rick’s ist kein Tisch mehr frei, nur ein Spalt an der Theke. Die Bedienung muss neu sein, passt nicht ins Beuteschema, zwei geflochtene lange Zöpfe, weiße Bluse, einwandfrei am Zapfhahn. Ganz offensichtlich übersieht sie uns. Susa kramt nach dem Zigarettenpäckchen, legt es auf den Tresen, beugt sich vor.

„Zwei Bier, bitte.“

Die andere zapft zwei Gläser voll, stellt sie vor uns ab, wortlos, blicklos.

Susa hebt ihr Glas.

„Die sollte Kühlschränke verkaufen, da wäre sie mit der eingefrorenen Optik gut aufgehoben.“

Sie dreht sich auf ihrem Hocker und sieht in den Raum. Aus der Ecke hinten rechts am Fenster blitzen Augen in ihre Richtung. Susa zwinkert kurz, schnalzt nur für mich hörbar mit der Zunge.

„Was macht eigentlich Jonas?“ Ich finde es ist Zeit, die Frage endlich mal zu stellen, auch wenn Susa sie hasst.

Jonas ist Susas Freund, studiert Architektur an der FH, sie haben sich auf einer Feier kennen gelernt. Susa dreht sich wieder, schaut beharrlich in die hintere rechte Ecke.

„Höchstwahrscheinlich kiffen, was sonst.“

„Klingt, als wärst du schon bedient.“

Sie nickt, Augen immer noch auf die gleiche Raumecke gerichtet.

„Wenn du mich fragst, auf Dauer ist es nichts. Dieses dümmliche Grinsen, wenn er breit ist, nee. Aber solange niemand anderes aufkreuzt.“ Sie schaut mich an. „Selber machen war noch nie mein Ding.“

In die hintere rechte Ecke kommt Bewegung. Der Typ erhebt sich, zwängt sich an Leuten vorbei, kommt auf die Bar zu. Susa schaut mich an, lächelt.

„Auch sehr nett, oder?“

„Du kennst Jonas seit vier Wochen. Mir wäre das zu anstrengend.“

Susa bläht die Lippen auf als wolle sie den Einwand wegblasen.

„Treue ist eine Verschwendung natürlicher Ressourcen. Außerdem habe ich gar nicht vor, ihn zu betrügen.“

„Sieht gar nicht danach aus.“

„Ich beende die Geschichte vor dem Seitensprung. Innerlich.

„Das muss ich mir merken.“

„Ich dachte, du gehst als Jungfrau in die Ehe.“

„Das tun alle, die Ende September geboren sind.“

Ich nehme einen Schluck von meinem Bier.

„Und wenn Jonas heute Abend eine andere aufreißt?“

Sie rutscht vom Barhocker, macht dem Typen Platz.

„Hi, wie geht’s?“

„Great.“ Susa lächelt, nippt an ihrem Glas, redet weiter mit mir.

„Kann er nicht. Er arbeitet. Aber abgesehen davon, sollte ich davon erfahren, so wäre das mit Sicherheit das Ende, ist klar.“

„Völlig klar. Und wie nennt man das?“

Sie kichert. „Das nennt man das Ich-darf-alles-der-andere-nicht-Syndrom. Ganz einfach.“

Der Braunäugige stellt sich mit Tyler vor, reicht uns die Hand, fragt, was wir trinken wollen.

„Es läuft sogar ausgezeichnet heute“, sagt Susa. „Wenn das so weiter geht, machen wir Plus. „

Die Bedienung stellt drei volle Gläser ab und lächelt.

„He, Kühlschrank taut ab.“ Susa zwinkert mir zu. „Was dagegen, wenn ich ihn klarmache?“

Aus den Boxen dröhnt Ain’t Nobody, sofort fangen alle an zu swingen. In einer Minute stehen sie auf Stühlen und Tischen, haken sich unter, singen mit, wie in einem Bierzelt. Das geht nur hier.

Susa nimmt ihr Glas und dreht sich langsam zu Tyler um.

„That’s Lisa“, sagt Tyler und zeigt auf die Barfrau. „Mein Girlfriend.“

„Neun Euro sechzig“, sagt Lisa und hält die Hand über den Tresen. Susa rollt die Augen. „Oh Mann, gib mal deinen Schein“. Ich ziehe einen Zwanziger aus der Tasche, gerollt, doch sie schüttelt den Kopf, „den brauchen wir noch“, kramt nach Münzen in der Jeansjacke, die ich über den Barhocker gehängt habe, zählt ab.

„Bitte sehr“. Sie knallt der Bedienung einen Haufen Münzen hin.

Sie schaut mich an. Ich weiß, was jetzt kommt. Susa geht um die Bar herum, verschwindet auf der Toilette, die aus nichts weiter besteht als der Schüssel zum Draufsetzen und dem Papierabroller, an dem selten eine Rolle steckt, keine Ablage, kein Eimer, kein Haken, nichts, gerade eine Person passt hinein, eine Drogenzelle, weshalb ich nie mitkomme, was ein Problem ist, denn abgesehen von der Angst, erwischt zu werden ist meine Angst, sie allein gehen zu lassen noch größer, die Vorstellung, sie könnte irgendwann die Tür aufstoßen und heraus fliegen oder aber nicht mehr die Tür aufkriegen, verfolgt mich jedes Mal. Ich schaue auf die Uhr, jetzt ist sie seit fünf Minuten weg. Wenn sie in den nächsten sechzig Sekunden nicht kommt, gehe ich hin. Ich trinke, beobachte durchs Bierglas hindurch Tyler, der mit seiner Freundin redet, ich verstehe nicht, was sie sagen, die Musik ist zu laut, aber ihr Englisch klingt geschliffen, soviel höre ich und werde sofort neidisch. Manche sind zwei oder sogar mehrsprachig eloquent, ich bin es noch nicht mal einsprachig. Wenn ich etwas zu sagen habe, schreibe ich es auf. Susa hat sich daran gewöhnt, manchmal, wenn sie mich wieder einen Abend lang an die Wand geredet hat und mir später, meistens am nächsten Morgen, etwas dazu einfällt, schreibe ich es auf und lege ihr einen Zettel hin. Sie sammelt meine Zettel. Das war aber wieder ein besonders gelungener Satz, sagt sie, wie bist du darauf gekommen? Meine Redenschreiberin, stellt sie mich manchmal anderen Leuten vor, was mir immer sofort den Sprachhahn zudreht, ich habe ihr gedroht, keine Zettel mehr zu schreiben, wenn sie nicht aufhört, jetzt lässt sie es, meistens. Nicht, wenn sie zugedröhnt ist.

Die Toilettentür geht auf, sie hat die Sonnenbrille aufgesetzt, dazu ihr Werbelächeln, die Zähne sind das schönste an mir, behauptet sie immer, schiebt sich durch die Menge, zwängt sich neben mich an den Tresen, Prost, trinkt, leckt sich über die Lippen. Fixiert die Barfrau, starrt sie an, ich erkenne es durch die Sonnenbrillengläser, es bedeutet Unheil.

„Da hinten wird ein Tisch frei.“ Ich lege die Hand auf ihre Schulter, Susa reißt ihren Blick los, wendet sich mir zu.

„Ich habe noch Durst.“

„Haben wir noch Geld?“, frage ich.

„Nur deinen Schein.“

„Dann teilen wir ein Bier und du lässt dir einen Zehner rausgeben.“

Sie nimmt ihr Zigarettenpäckchen vom Tresen und zählt.

„Kippen brauchen wir auch noch.“

„Und ich brauche Montag fünf Euro für Kopien.“

„Was für eine Verschwendung!“ ruft sie und winkt der Barfrau. „He, Liselotte, ein Bier, bitte, danke.“

Ich nehme mein fast leeres Glas und ziehe sie an den freien Tisch. Sie wirft Tyler eine Kusshand zu und folgt mir.

„Was findet der nur an dieser Langweilerin?“

„Vielleicht muss er nichts zahlen.“

„Wir haben sein Bier bezahlt!“ Sie schreit, niemand hört es.

Tyler bringt unser Getränk an den Tisch, platziert einen sauberen Bierdeckel zwischen Susas aufgesetzte Ellenbogen, stellt das Glas ab, deutet eine Verbeugung an. Susa kichert, rutscht auf der Bank zur Wand, weist auf den freien Platz neben sich.

„Have a seat.“

„Oh, thanks.“ Er holt sein Bier und schlendert zurück an unseren Tisch. Susa textet ihn zu als sei eine Blase mit Wörtern in ihr geplatzt, sie strömen aus ihr heraus, Englisch und Deutsch, umspülen Tyler, überfluten ihn. Ich sitze daneben, Sekretärin ohne Stenoblock oder Diktiergerät, nicht nötig, Susa weiß, ich behalte alles, vielleicht schreibe ich ihr etwas dazu auf, später. Einen Satz zu dem ganzen Unsinn, den sie verzapft, worüber sie lachen kann am nächsten Tag, wenn sie fragen würde „verdammt, wie hieß dieser Typ noch mal, den ich den halben Abend zugelabert habe?“ Ich freue mich schon jetzt auf diesen Moment, wenn wir am Nachmittag in den abgeranzten Sesseln meiner Oma in unserer Küche sitzen, sie Tee mit viel Milch, ich Kaffee ohne alles, sie mit noch mehr Sonne als sonst in ihrem hellen Haar, sie sitzt immer auf der Sonnenseite, freiwillig, ich vertrage keine im Gesicht. Sobald es draußen wärmer wird, reißt sie das Küchenfenster auf, zieht ihr T-Shirt aus, rückt den Sessel zurecht, lässt sich maximal bescheinen von der Stirn bis zum Bauchnabelpiercing, den Kopf zurückgelegt, Kippe zwischen den Lippen. Sie nimmt einen tiefen Zug, schüttelt mit geschlossenen Augen langsam den Kopf, lacht in sich hinein. Bis ich aufstehe und das Fenster zumache, weil man bei dem Verkehr das eigene Wort nicht versteht. Wir spülen zusammen das Geschirr, das sich in den Tagen davor angesammelt hat. Manchmal saust Susa mit dem Staubsauger durch die Wohnung, sie singt dabei und merkt es nicht. Später essen wir asiatische Tütensuppen in ihrem Bett und schauen Serien auf meinem Laptop. Danach kauen wir den vorangegangenen Abend durch, einmal, zweimal, je nachdem, wir haben Zeit, das Handy piept selten am Sonntagnachmittag. Manchmal ruft Jonas an, er jobbt am Wochenende am Flughafen, befördert Koffer in die richtige Richtung, hin und wieder auch in die falsche, poshe Koffer, wie er sagt, die er nach Texas statt nach Dubai schickt. Er ist total verknallt in Susa. Mich kann er nicht leiden. Ist mir egal. Er muss noch lernen, was ich längst weiß, aber meinen Vorsprung holt er nie mehr auf. Mach dich geschmeidig, Jonas, wenn er mir das nächste Mal dumm kommt, sage ich es ihm. Nur so hast du eine Chance. Wenn du dich bei Susa nicht geschmeidig machst, ist sie weg.

 

Auch die Sonntagssonne ist irgendwann weg, dann wird Susa unruhig. Sie geht ins Bad, duscht, schminkt sich, hängt sich ans Handy. Sobald sie jemanden erreicht, springt sie auf und geht. Nur auf einen Sprung. Nur auf ein Tütchen.

„Komm mit“, sagt sie in der Tür.

Vielleicht später. Ich bin noch nicht soweit.


Siebter Platz : Auf dem Platz“, Demian Lienhard

Wochenlang sagte er nichts als: Was für ein herrlicher Tag!

Die ersten Schüsse hauen rein, keine Frage.

Als Charlie bei mir Anfang August das erste Eisen kaufte, bestand er aus Haut, Knochen und Neugierde. Damit fängt alles an. Dein Tag war Scheiße. Und der davor: Auch. Und der davor: Sowieso. Und dann streichst du am Landesmuseum entlang. Vielleicht willst du gar nicht, vielleicht gehst du nur zum Gleis 18, weil dein Zug nach Basel fährt, und dann schaust du einfach einmal vorbei. Kommt alles vor. Wirklich. Und vielleicht gibt’s ne Kostprobe für lau. Du sagst dir: Mega schlimm wegen einmal. Und dem Schlepper: Warum nicht. Holst dir beim Filterlifixer einen Löffel und etwas Ascorbinsäure. Lässt dir von irgendeinem Drögeler helfen. Einer ist immer da, der dir dabei zur Hand geht. Wenn der nur seinen Anteil kriegt. Kocht dir das Zeug auf und du ziehst es hoch. Oder, wenn du ganz hart bist, besorgst du dir gleich ein Eisen. Zuerst fröstelt’s dich im Unterarm, als würd‘ dir einer in die Vene pinkeln. Aber dann reißen die Ränder des Himmels auf und die draußen können dich alle mal. Zum ersten Mal in deinem Leben weißt du, wozu du dir den Arsch aufgerissen hast die ganze Zeit.

Geht allen so. Ich war schon dabei, als es oben an der Riviera losging. Damals war ich das Küken am Ufer. Und ein Landei. Zumindest dachte das die Clique. Dabei bin ich in Spreitenbach aufgewachsen. Ein Block aus grindigem Beton, wo der Fernseher auch beim Mittagessen läuft. Und dann kam alles, wie es kommen musste. Ich breche meine Schule ab, man findet meinen Vater erdrosselt im Wald. Oder umgekehrt. Vielleicht habe ich sie abgebrochen, weil sich mein Vater erschossen hat. Erdrosselt? Das weiß keiner so genau. Meine Chance: Die Riviera.

Ich heiße Jacky.

In meinem Kopf ist ein kaputter Balkon, von dem ich herunterfalle, wenn ich spreche.

 

Aber jetzt von Charlie. Wenn ich zurückdenke an die Riviera, den Hirschenplatz, den Platzspitz und den Letten, dann sind diese Jahre ein bezogener Himmel. Ein grauer Himmel aus schmutzigem, mit Moderflecken durchsetztem Papier. Geschichten fallen dir keine ein. Oder erst im Nach­hinein. Geschichten – Naja. Eher Fetzen schnell abbrennenden Lebens, die kurze Zeit lodern wie Zeitungspapier im Feuer, verglimmend in die Höhe steigen und sich dann in den Baumkronen auflösen.

 

Charlie jedenfalls war wie eine Naturkatastrophe. Er war plötzlich da. Wenn der Supermarkt hinter dem Museum gegen acht den ersten Ansturm bewältigte, zeigte sich Charlie noch nicht. Wenn das Geschäft gegen 12.30 Uhr zum zweiten Mal so richtig brummte, tauchte er mit den anderen Bankern auf, um sich den Mittagsfix zu holen. Um halb zwei waren sie wieder draußen und verschwanden in der Bahnhof­straße, wo die Nadelstreifen und die Kamel­haar­mäntel über dem Asphalt so sternenhaft grell leuchteten, dass mir heute noch die Augen schmerzen, wenn ich nur daran denke.

 

Ob’s für seinen ersten Schuss war, weiß ich nicht, aber jedenfalls kreuzt Charlie ziemlich bald bei mir am Denkmal auf. Will ein Eisen haben.

– Macht einen Fünfliber das gebrauchte.

– Hast du ein frisches? Und Säure?

Ich kapiere sofort: Da ist ordentlich Kohle im Spiel.

– 10 Schtutz für das neue.

Ich fackel nicht lang und rück‘ die Spritze raus, noch in der Verpackung und alles.

– Und Ascorbin?

Gab’s gratis natürlich. Solche Typen muss man sich warmhalten. Ich weiß, wie man das macht. Bin ja nicht auf den Kopf gefallen.

Ab da hatte ich Charlie an der Angel. Das war nicht so lukrativ mit ihm, weil er am Anfang nur einmal am Tag kam, aber eins musste man ihm lassen: Geizig war er nicht. Von seinem Sud hat er immer was abgegeben, und das ist schon viel im Park.

 

Charlie, das ist vor allem zigarrenbraune, ledrige Haut und eine vernarbte Höhlung. Als er acht war, hat ihm ein Böller das Gesicht weggenommen und übriggelassen, was übrig blieb. Der Rest von ihm steckte in dunklen Anzügen. Er trug polierte Lederschuhe und das Haar ge­scheitelt. Charlie arbeitete am Paradeplatz, ein typischer Bürogummi. Irgendeine Bank, man kennt sie. Und wenn’s die nicht ist, dann ist es die andere, die man kennt.

 

Dann kam Alan dazu. Das war irgendwann im ersten Winter, als sich die Dinge langsam zuspitzten. Wollte sich nur mal das Schlachtfeld anschauen. Im Landesmuseum war es ausgestellt, ein Zinnfigurenmodell der Schlacht bei Murten. Die wichtigste Schlacht der jungen Eidgenossen, sagt man. Aber Alan geht die hundert Meter weiter in den Needle Park und bekommt das echte Schlachtfeld zu Gesicht. Ums Denkmal überall Müll und Filterlifixertischchen aus Holzkisten und Gepäckwagen vom Bahnhof. Andauernd stolpert er. So viele Fixer, die in ihrem eigenen Blut liegen, dass man schauen muss, wo man hintritt. Die Leute steigen einfach über die Liegenden hinweg. Wenn du keinen Stoff geladen hast, kommt es dir hoch, wenn du zum Wäldchen gehst. Die Leute haben Durchfall und aus den Rhododendrenbüschen am Ufer, wo sich die Frauen was dazu verdienen, stinkt es nach Fäulnis und Erbrochenem. Kurzum: Wo Alan auch hinsah, konnte er Lektionen fürs Leben lernen. Was nicht heißen soll, dass er diese Lektionen auch gelernt hat.

Alan gehörte anfangs zu den Schaulustigen auf Elendssafari. Aber dann hat er den Braten gerochen: Er leiht von seiner Oma 15 Mill für eine Ausbildung und will daraus eine Million machen am Platz. Als ich ihn kennenlernte, hatte er nur noch eine Million Probleme: Schulden bei den Dealern, eitrige Wunden, die nicht mehr heilen wollten, ein fauler Zahn, der ihm im Kopf brummte, solange er unten war.

Also knackt Alan ein Auto am Sihlquai. Ich schiebe Wache, Charlie ist für den Verkauf zuständig. Jeder das, was er kann. Charlie vertickt das Ding an irgendjemanden, der irgendjemanden kennt, der irgend­jemanden und so weiter. Dann legen wir das ganze Geld beim Libanesen an und jeder kriegt seinen Anteil. An einem Sonntagabend ist’s dann so weit. Ich hatte extra drei Eisen aufgehoben, dass wir gleichzeitig und so.

Charlie stand am meisten zu, weil: Ohne ihn keine Piepen. Wir setzen uns also vorne an die Limmat, ich wasche die Löffel im Fluss. Man bindet sich die Arme ab, legt an. Alan trifft nicht, schießt sich fast ein Ei unter die Vene. Er flucht. Wir ziehen das Ding raus und versuchen’s erneut. Wieder geht die Chose schief. Alan zeigt auf den Hals und ich nicke. Er schließt die Augen und zieht Luft.

Kaum habe ich das Ding wieder rausgezogen, höre ich ein Klatschen im Schnee.

Charlie.

Der Typ ist zusammengesackt wie ein riesiges Tier, das man mit einem einzigen Schuss erlegt hat. Aber sein Atem weht weiß vom Mund weg und über die Nase, klebt als Reif am Haaransatz. Alan schlägt ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Einmal zweimal dreimal. Aber Charlie tut keinen Wank. So geht das die ganze Zeit. Ganz schön scheiße, wenn du einen Lappen investiert hast in einen Schuss und du dich dann die ganze Zeit um deinen Kumpel kümmern musst. Aber so ist das eben.

 

Seither waren Charlie und ich wie Pech und Schwefel. Schwefel, das war ich, denn ich war dem Teufel schon lange vom Karren gefallen, aber er hatte vor allem Pech. Charlie und ich waren auch wie Tag und Nacht, und ich war die Nacht. Ich kam aus Spreitenbach, das ist da, wohin der Besen der Armut und der Mietpreiserhöhung den kleinen Mann hingefegt hatte damals. Aber Charlie, muss man wissen, war von der Goldküste, sein Vater Unternehmer. Einer also, der’s geschafft hat. Das hieß, dass Charlie gar nichts mehr schaffen musste.

Und das hatte er auch gar nicht vor.

 

Naja, und dann verschwand Charlie zum ersten Mal. Einfach so. Alan hat in der Langstraße nachgefragt, im Niederdorf, hat sogar die Studenten bei der Spritzenabgabe abgeklopft. Aber es blieb dabei: Charlie war weg.

Klar, am Anfang, wenn du es nicht gewohnt bist, machst du dir auch ein paar Sorgen. Wenn du unten bist, schiebst du dir sogar die absurdesten Filme. Aber bald fängt das mit dem Zittern an, du kommst auf den Hund und hast echt andere Probleme. Dann lässt dich jemand von seinem Sud kosten, und du weißt: Alles halb so wild.

 

Aber irgendwann steht plötzlich einer vor meinem Gepäckwagen und sagt mit verstellter Stimme, er wolle ein Eisen.

Als ich aufschaue, schaue ich in ein halbes Gesicht: Charlie.

Wir umarmen uns.

Ich habe ja gesagt, er sei wie ein Unfall: Plötzlich da.

Charlie steckt sich eine Zigarette an.

– Die ersten drei Tage sind die schlimmsten, heißt es, aber jetzt sind es schon vier Wochen, und ich warte immer noch darauf, dass die ersten drei Tage vorbeigehen.

Ich verstehe nicht.

– Also? frage ich.

– Also mach den Filter parat.

Charlie ist wieder ganz der Alte.

Für einen Moment bin ich glücklich.

 

Nach dem abgebrochenen Entzug kreuzt Charlie immer häufiger auf. Und eins kommt zum andern. Er verliert die Arbeit, die Frau brennt mit einem anderen durch, er kann die Wohnung nicht mehr halten und muss in den Kreis 5 ziehen. Immerhin, der Weg zum Park ist jetzt kürzer. Und wenn’s mal schnell gehen muss, kann er jetzt auch in der Konradstraße oder am Quai.

Trotzdem, Charlie war immer noch der lustige Typ, von dem du sagst: Dem scheint die Sonne zum Arschloch raus.

Natürlich, verändert hat er sich schon, tut ja jeder. Aber das merkst du nicht, wenn dir das Zeug durch die Adern fließt. Und wenn, wäre es dir egal.

 

Irgendwann ist Alan gestorben. Ich habe nichts mitbekommen davon, habe nur bemerkt, dass er seit ein paar Tagen verschwunden war. Sonst kein Wort. Aber am Platz ist das immer so, wenn einer geht, für immer oder für einen Abend: Man verabschiedet sich nicht. Es ist eher so etwas wie ein Weggeweht werden.

Spritzeninfekt, Streit mit dem Dealer, Aids: Die Drögeler starben wie die Fliegen. Aber denen da draußen war das egal. Wahrscheinlich rieben sie sich sogar die Hände und dachten: Wieder einer weniger. Aber man hatte das Gefühl, dass für jeden Toten drei neue Fixer dazukamen.

Erfahren habe ich es von Charlie. Hinter dem Chez Michel, wenn man zum Stadelhofen läuft, hat er Alan noch gesehen. Ein Hund und er stöberten ohne Rivalität in einem Haufen von Austern und Zitronenschalen.

– Ich war auf dem Weg zum Spitz, wollte die S-Bahn, hatte länger nichts mehr gehabt. Ich denke mir, wenn jetzt dann nicht gleich, dann … Und sehe Alan. Und ich so: Ob er was brauche, aber er schaut mich nur an und antwortet nicht. Als ich zurückkomme, ist er tot.

Das ist Charlie. Sich sogar noch als Kurier anbieten, selbst wenn’s drängt.

 

Bald sollte die Karawane weiterziehen. Aber Charlie ist nicht mehr mitgegangen zum Letten. Noch bevor die Schmier ernst gemacht hat mit der Schließung des Platzspitz, ist er nämlich endgültig verschwunden.

Aber davor hatten wir noch einen guten Sommer. Als Alan weg war, fing das nämlich mit uns an. Weil Alan weg war? Keine Ahnung. Keine große Sache jedenfalls. Er hat mich ein paar Mal die Woche genommen in den Büschen.

– Habt ihr kein Zuhause? hat mal einer gerufen.

– Das ist unser Zuhause, grölt Charlie und durchbohrt mich von hinten wie einen dieser Käfer in der Vitrine, während der andere stehen bleibt und gafft.

– Ohne Handschuh? fragt der Gaffer und macht große Augen. Er meint die Ansteckung.

– Ist ja nicht strafbar, und wenn, glaubst du, wir würden uns von denen da draußen was vorschreiben lassen?

Die da draußen, das waren die Bürgerlichen. Und Charlie, sollte man wissen, hasste die Bürgerlichen. Weil sie nicht halfen und uns nur die Schmier auf den Hals hetzten. Und er hasste die Sozis. Weil sie halfen. Das ist nämlich so ziemlich das Letzte, was du willst, wenn Du dir einen Schuss für hundert Eier geholt hast und dir irgendjemand was über staatlich finanzierte Entzugsprogramme erzählen will.

 

Und dann war da dieser Mord. Stand in allen Zeitungen, habt’s sicher gelesen. Ein Drögeler mampft Schokolade am Ufer. Kommen zwei Typen dazu und wollen ein Stück. Der mit der Schoggi schüttelt mit dem Kopf: Kauft euch selber welche. Aber das lassen die Typen nicht auf sich sitzen. Sie würgen ihn und schleifen den bewusstlosen Körper über den Limmatsteg. Als er drüben vor dem Hotel erwacht und losschreit wie die Feuerwehr, fesseln und knebeln sie ihn. Dann plumpst der Körper in die Limmat.

Glück für Charlie, dass die Schmier ziemlich schnell Wind gekriegt hat von der Sache.

Die Polizeitaucher nämlich legen sofort los. Und finden unten bei der Lettenbadi gleich den Toten. Zunächst große Verwirrung: Der ist gar nicht gefesselt. Und dem Typen mit der Schoggi sieht er auch nicht ähnlich. Da stellt sich heraus: Das ist Charlie. Den andern haben sie erst zwei Tage später gefunden im Wehr.

Natürlich habe ich das erst Tage später erfahren. Rumgefragt habe ich, aber viel dabei rausgekommen ist nicht. Und wenn‘s die Szene nicht weiß, wen willst du fragen? Die Schmier etwa? Ja und selbst wenn: Ich wusste nicht, wie Charlie mit bürgerlichem Namen hieß.

Wir benutzten ihn nie.

Wir waren ja keine Bürger mehr.

Charlie jedenfalls ist ertrunken. Im Rausch wahrscheinlich, das weiß ich nicht. Wer hätte es mir sagen sollen? Der Vater sicher nicht. Der taucht nämlich ein paar Tage später mit dem Sturmgewehr auf dem Platz auf und fragt, wer ihm die letzte Dosis verkauft hat. Dann stellt er auf Fleischsalat und entleert das Magazin über die Köpfe hinweg.

 

Und heute? Im Park blüht es wie wild, als hätte man die Rabatten mit Champagner gegossen, und gerade ist das frisch renovierte Museum mit großem Pomp wiedereröffnet worden.

Zürich, Anfang August.


Achter Platz : Halbfinale“, Jürgen Helm

Ghosts crowd the young child’s fragile eggshell mind. (Jim Morrison)

Nach dem Vorrundenspiel gegen Dänemark hatten sie ihn zum Kapitän gemacht. Moreau hatte bei der Schluss-Sirene schon auf dem Operationstisch gelegen. Der möglicherweise letzten Aktion seines Handballer-Lebens war ein mustergültiger Angriff vorausgegangen, doppelte Kreuzung, hunderte Mal im Training geübt und wie immer eingeleitet von ihrem quirligen Mittelmann Einarsson. Blitzschnell hatten sie den dänischen Mittelblock auseinandergespielt, und entschlossen war Moreau auf die entstandene Lücke gegangen. Als er im Sprung war, traf ihn Jakobsens Stoß von der Seite. Ein Allerwelts-Foul, keine Bösartigkeit, nicht mehr als ein kleiner Rempler, doch Moreau, das französische Kraftpaket, verlor die Kontrolle über achtundneunzig Kilogramm Körpergewicht, riss Jensen, den dänischen Abwehrspezialisten, und Baumann, den eigenen Kreisläufer, mit und landete in einem Knäuel aus Männerkörpern auf dem harten Hallenboden. Der Däne und der Deutsche rappelten sich rasch wieder auf, nur Moreau blieb am Boden liegen. Bleich und entsetzt starrte er auf seinen linken Fuß. Für Moreau war die Weltmeisterschaft gelaufen.

Noch am Abend, beim gemeinsamen Essen, hatte der Trainer seine Entscheidung bekannt gegeben, ihn an Moreaus Stelle zum Kapitän zu ernennen. Wie immer ein einsamer Entschluss des Spaniers, dennoch zustimmendes Gemurmel unter den Mitspielern, aufmunternde Blicke und Schulterklopfen. Er hatte versucht, zuversichtlich zu lächeln, und stumm genickt. Ein stummes Nicken wie damals, als sie seinen Vater beiseite drängten und mit den anderen Männern auf die rechte Seite des weiträumigen Hofes trieben. Er müsse jetzt auf seine Mutter und auf seine Schwester aufpassen, hatte sein Vater ihm, dem Zehnjährigen, über die Schulter zugerufen.

Nun stand er an der Spitze seines Teams im Tunnel unter der Tribüne, einen etwa neunjährigen Knaben als Einlaufkind an der linken Hand, hinter sich die beiden Torhüter, der eine aus Schweden und der andere aus Montenegro. Dahinter der Rest der Mannschaft, bunt zusammengewürfelt aus allen Teilen Europas. „Weltauswahl“ hatte die wohlmeinende Presse kommentiert, „Söldnertruppe“ war eine weniger schmeichelhafte Bezeichnung für ihre Nationalmannschaft, und von manchen Zeitungen mussten sich seine Kollegen und er als „Vaterlandsverräter“ beschimpfen lassen. Schreiberlinge. Was wussten sie von Söldnern, was wussten sie von Vaterländern? Rechts neben ihm stand Stefanovic, der Kapitän der Serben, ebenfalls ein Kind an der Hand, und schaute konzentriert nach vorne. Wenige Minuten zuvor hatten sie sich mit einer sportlichen Umarmung begrüßt, als sie nahezu gleichzeitig aus ihren Kabinen auf den Gang getreten waren. Sie freuten sich über das Wiedersehen. Damals in Spanien hatten sie sich ein wenig angefreundet und waren nach dem Training oft gemeinsam unterwegs gewesen. Dennoch wussten sie nicht viel voneinander. Sie hatten über die Gegenwart und die Zukunft gesprochen, über die Vergangenheit hatten sie das große Schweigen gelegt, das sie in ihrer Kindheit und Jugend gelernt hatten. Keine Fragen, keine Antworten.

Das Brodeln der Halle mit ihren über zehntausend Zuschauern kam nur gedämpft in ihrem Tunnel an und konnte die Scherze nicht übertönen, mit denen sich die serbischen Spieler gegenseitig anfeuerten. Serbisch und Bosnisch sind nicht weit voneinander entfernt; anders als die meisten seiner Mannschaftskameraden konnte er jedes Wort verstehen. Die Kommandos der Soldaten, mit denen sie die Familien auseinanderrissen, hatten sie auch verstanden. Frauen und Kinder nach links, halberwachsene und erwachsene Männer nach rechts. Als sein Vater sich entfernte und ihn über die Schulter mit seinen dunklen Augen ansah, war für einen Moment die Zeit stehen geblieben. Plötzliche Stille, bis ihn seine Mutter an die Hand nahm und sich mit ihm der linken Seite des Fabrikgeländes zuwandte. Dann hatte er wieder die Befehle der Soldaten, die Schreie und das Rufen der getrennten Familien gehört. Heiß war es gewesen, Mitte Juli, und sie hatten kaum etwas zu trinken. Er fühlte die Wärme in dem Tunnel unter der Tribüne, er schwitzte mehr als sonst nach dem Aufwärmen, sein Mund war trocken. In seiner linken Hand spürte er die kleine Hand des Knaben, der gleich mit ihm auf das Spielfeld laufen würde. So musste sich seine Hand für seinen Vater angefühlt haben, bevor sie ihn wegstießen.

Halbfinale, ihr siebtes Spiel im Turnier. Von den bisherigen sechs Begegnungen hatten sie nur das Spiel gegen Dänemark verloren. Für jedes gewonnene Spiel bei dieser WM fünfzigtausend US-Dollar, und beim Gewinn des Titels eine lebenslange Leibrente von achttausend Dollar monatlich für jeden Akteur. Das war die Abmachung, dafür hatten er und seine Kollegen die Staatsbürgerschaft des Emirats angenommen. Ein solches Angebot hatte er nicht ablehnen können. Er musste an die Zeit nach dem Handball denken, und er musste dafür sorgen, dass es seiner Schwester gut ging. Mit seinem ersten lukrativen Profivertrag in Spanien hatte er sie aus der engen Wohnung geholt, in der sie eines Morgens, als sie von der Nachtschicht nach Hause kam, ihre Mutter gefunden hatte, mit seinem Wechsel ins Emirat hatte er ihr das Haus kaufen können, und wenn sie den Titel holten, bräuchte sie nie wieder zu arbeiten. Jetzt müsse er auf seine Mutter und auf seine Schwester aufpassen, hatte ihm sein Vater zugerufen.

Am Ende des Fabrikgeländes hatten die Busse gewartet. Die Fahrer hatten in Grüppchen zusammengestanden, schwarze Hosen, weiße Hemden mit hochgekrempelten Ärmeln und dunkle Sonnenbrillen. Sie standen da und rauchten, und immer wenn ein serbischer Milizionär von dem vordersten Bus ein Zeichen gab, löste sich eine Gestalt aus einer der kleinen schwarz-weißen Versammlungen. Kurz darauf setzte sich der Bus in Bewegung, und während er die rückseitige Ausfahrt des Geländes ansteuerte, hatten die Soldaten schon begonnen, die ankommenden Frauen und Kinder in den nächsten Bus der Reihe zu kommandieren. Alles verlief ruhig. Die Hektik des Fabriktors, wo die Frauen und Kinder von ihren Männern und Söhnen, Vätern und Brüdern getrennt worden waren, hatten sie hinter sich gelassen. Fragen nach dem Ziel der Busfahrt beantworteten die Serben mit aufmunternden Gesten, die andeuteten, dass am Zielort alle mit Essen und Trinken versorgt werden sollten. Die Armlehne zwischen den beiden Sitzen hatten sie hochgeklappt, sodass er zwischen seiner Mutter und seiner Schwester sitzen konnte. Seine Mutter hatte ihren Arm um ihn gelegt, seine große Schwester hielt seine rechte Hand. Dennoch wusste er, dass die beiden ihn nicht beschützen konnten. Schutzzone, davon hatten seine Mutter und sein Vater immer gesprochen, bevor sie ihr Dorf verließen. Sein Vater war nicht mehr bei ihnen. Und dieser überfüllte, stickige und heiße Bus war keine Schutzzone. Er spürte die Angst seiner Mutter, und er spürte die Angst seiner Schwester. Und er spürte seine eigene Angst, und dazu hatte er unerträglichen Durst.

WM-Halbfinale, das wichtigste Spiel seiner bisherigen Karriere. Seine Zunge klebte am Gaumen, vor dem Anpfiff musste er unbedingt noch etwas trinken. Am Vorabend hatten sie Videos der serbischen Spiele angeschaut, und er hatte Stefanovics Bewegungsmuster wiedererkannt. Nichts Neues im eins gegen eins, alles noch wie damals in Spanien in den vielen Trainingsspielen. Zuerst die Körpertäuschung rechts und dann der Durchbruchsversuch gegen die Hand. Vielleicht würde er zwei oder drei Offensivfouls provozieren können. Stefanovic schaute sich um, ihre Blicke begegneten sich. Sie lächelten sich zu. In Spanien hätte er ein echter Freund werden können, aber dazu hätten sie auch über die Vergangenheit reden müssen. Am Ende des Tunnels, am Übergang zum weiten Oval der Halle, winkten die beiden schwedischen Schiedsrichter. Der Knabe an seiner linken Hand sah ihn mit einem scheuen Blick an. Er nickte dem Jungen beruhigend zu, dann setzten sie sich gleichzeitig mit Stefanovic und dessen Einlaufkind in Bewegung. Mit jedem Schritt nahm der Lärm der Halle zu und wurden die Rufe der serbischen Spieler lauter. Ein kurzer Handschlag zwischen den Kapitänen und den Schiedsrichtern, dann wandten sich die beiden Schweden um und betraten das Spielfeld. Die Mannschaften folgten ihnen. Endlich schwiegen die Serben.

Angst und Durst, alle anderen Erinnerungen an die Busfahrt hatte er verloren. Er wusste nicht mehr, ob sie damals eine, zwei oder drei Stunden unterwegs gewesen waren. Am Ziel wurden sie von Soldaten in Empfang genommen und in ein Gebäude des verlassenen Flughafens geführt. Ihnen wurden Trinkgefäße ausgehändigt, mit denen sie sich in die Schlange der vor einem Wassertank wartenden Frauen und Kinder einreihten. Unmittelbar vor dem Terminal, am Rand des ehemaligen Flugfelds, stand eine mobile Militärküche, wo sie sich eine Schüssel Eintopf und Brot holten, nachdem sie ihren Durst gestillt hatten. Dann saßen sie zu dritt auf den Stühlen des Wartebereichs und löffelten schweigend die dickliche Suppe mit den verkochten Fleischstücken, von denen die Männer an der Essensausgabe gesagt hatten, dass sie vom Kalb seien. Seine spanische Freundin hatte regelmäßig über seine strikte Weigerung gespottet, Schweinefleisch zu essen. Sein Islam sei ihm sonst ja auch nicht wichtig, sagte sie immer. Maria, die schwarzhaarige Schönheit. Bei den Kameltreibern werde sie nicht leben, hatte sie gesagt, er müsse überlegen, was ihm wichtiger sei, viel Geld verdienen oder mit ihr zusammen bleiben. Sie trennten sich, noch bevor er den Vertrag für das Emirat unterschrieb. Er musste an die Zeit nach dem Handball denken, und er musste für seine Schwester sorgen. Schon auf dem verlassenen Flughafen hatte er das Versprechen gebrochen, das er seinem Vater gegeben hatte. Sie waren nachts gekommen. Lärmend und grölend waren sie durch das Flughafengebäude gezogen und hatten den Frauen und Kindern mit ihren Lampen ins Gesicht geleuchtet. Seine Mutter und seine Schwester wurden zusammen mit anderen Mädchen und Frauen auf das Flugfeld getrieben und mit Bussen abtransportiert. Tage später wurden die Frauen zurückgebracht. Älter sahen sie aus, müde und erschöpft, und sie waren schweigsam. Erst viel später wurde ihm klar, was die Soldaten ihnen angetan hatten. Und als er es wusste, wurde er die Bilder nicht mehr los. Bilder und Szenen, die allein seiner Fantasie entsprangen und die sich dennoch real und bedrohlich anfühlten und ihn bis in seine Träume verfolgten. Weder mit seiner Mutter noch mit seiner Schwester hatte er jemals darüber gesprochen. Er schämte sich. Er hatte doch genickt, als sein Vater ihm zurief, jetzt müsse er auf die beiden aufpassen.

Bei den ersten Tönen ihrer Nationalhymne wurden die serbischen Spieler wieder laut. Wenige Meter vor ihnen stand das Fernsehteam, das den Schwenk über die Gesichter der Spieler produzierte. Die rechte Hand auf die linke Brustseite gelegt, sangen die Serben über serbische Länder, serbischen Ruhm und serbisches Geblüt. Den Jungs konnte man keinen Vorwurf machen, sie waren Profis wie er. Und wie er waren sie während des Krieges Kinder gewesen. Unschuldige Kinder. Trotzdem hätte er sich am liebsten die Ohren zugehalten. Die Ohren zugehalten und die Augen geschlossen wie nach Kriegsende bei den ersten Radio- und Fernsehberichten über die Massengräber. Zu dieser Zeit wohnten sie schon zu dritt in der fremden Stadt, wo man ihnen eine kleine Wohnung in einem verlassenen Wohnblock zugewiesen hatte. Sein Schulweg führte vorbei an zersplitterten Fenstern, an Fassaden mit Einschusslöchern und an verwilderten Grünanlagen, wo er nachmittags mit seinen Schulkameraden Patronenhülsen sammelte und in den Autowracks herum kletterte. Als er dreizehn wurde, begann er mit dem Handball. Sein Sportlehrer war Jugendtrainer im größten Verein der Stadt. Einen Linkshänder könne jede Mannschaft gebrauchen, und einen Linkshänder, der seine Altersgenossen um einen Kopf überrage, erst recht, hatte der Lehrer zu ihm gesagt und ihn ins Training eingeladen. Von da an zweimal wöchentlich Training, an den Wochenenden Punktspiele, und nach noch nicht einmal einem Jahr die Berufung in die nationale Jugendauswahl des noch jungen Staats. Es war sein Sport. Wenn er Tore warf, wenn er den Kreisläufer anspielte oder seinen Außen bediente, wenn er in der Deckung zupackte oder wenn sie auch nur im Training Spielzüge einübten – auf dem Spielfeld war er ganz bei sich. Zwischen den beiden Sechsmeterräumen verloren sich die Bilder in seinem Kopf. Der Blick seines Vaters, als sie ihn zur rechten Seite des Fabrikgeländes drängten. Seine Mutter und seine Schwester nachts auf dem Flugfeld, bevor sie abtransportiert wurden. Die stumpfen Augen seiner Schwester, als die Soldaten sie zurückbrachten. Das erschöpfte und ausdruckslose Gesicht seiner Mutter, die seitdem nicht mehr laut gelacht hatte.

Seine Mutter und seine Schwester freuten sich mit ihm über seine Erfolge im Handball, aber begeistert waren sie nicht von seiner Leidenschaft. Er solle auch an die Schule denken, vom Handball könne man nicht leben, er sei doch ein intelligenter Junge und könne bestimmt einmal die Universität besuchen. Er hatte ihnen Recht gegeben, aber alle Versuche, sich auf den Schulstoff zu konzentrieren, waren zum Scheitern verurteilt. Sobald es still um ihn wurde und er allein vor seinen Büchern saß, wurde er von den Bildern heimgesucht. So wurde es nichts mit der Universität. Stattdessen spielte er in der Ersten Liga seines Landes, wurde als Neunzehnjähriger in die Nationalmannschaft berufen und unterschrieb mit zweiundzwanzig einen Vertrag in der spanischen Profiliga. Nun war er dreißig, stand vor dem WM-Halbfinale auf der Platte und hörte, wie die Serben ihre Hymne in die Welt schrien. Wenn alles gut ging, konnte er vielleicht noch fünf oder sechs Jahre hochklassig spielen. Er hatte nichts anderes gelernt. Der WM-Titel war die Chance seines Lebens.

Schweigend ließen er und seine Mannschaftskollegen die Hymne des Emirats und den unvermeidlichen Schwenk der Fernsehkamera über sich ergehen. Niemand erwartete von ihnen, dass sie den arabischen Text mitsangen. Söldner, Vaterlandsverräter. Er hatte kein Vaterland, das er verraten konnte. Im Land seines Vaters war sein Vater ermordet worden. Vor wenigen Jahren hatten sie seine Leiche unter den unzähligen anderen identifiziert. Zu spät für seine Mutter. Sie hatte die Ungewissheit über das Schicksal ihres Mannes nicht mehr ausgehalten. Über Monate musste sie die Tabletten gesammelt haben. Er war damals schon in Spanien gewesen, um endlich für die beiden sorgen zu können. Jetzt müsse er auf seine Mutter und auf seine Schwester aufpassen, hatte ihm sein Vater zugerufen.

Nach den Hymnen das rituelle sportliche Abklatschen der beiden Teams und schließlich der eng geschlossene Kreis seiner Mannschaft, mit dem sie sich gemeinsam auf die Begegnung einschworen. Als Kapitän gab er den Schlachtruf vor. „World Cup“ rief er, „World Cup“ antworteten die Jungs. Seine Jungs. Sie vertrauten ihm. Er ging zur Bank, um etwas zu trinken. Dann ging er zurück zur Mittellinie. Die fünf anderen der Startformation standen schon bereit und schauten ihn an. Er nickte, ohne etwas zu sagen. Baumann warf ihm den Spielball zu. Anpfiff. Die Bilder verschwanden.


Neunter Platz : Warten auf Vazka“, Lisa-Viktoria Niederberger

Es ist eine ungewöhnlich laue Nacht für Mitte September, er kann noch ohne Jacke draußen sitzen. Er ist müde, erledigt von der Arbeit, den schlaflosen Nächten der letzten Tage. Kann nicht schlafen, schaut auf das Gartentor und die Straßenlaternen dahinter. Wartet, wartet auf Vazka. Hofft, dass sie heute endlich kommt, auf einmal dasteht, nach drei Tagen der Abwesenheit und ihn anschaut, aus diesen dunklen schönen Augen, so als würde sie sagen wollen, was hast du, ist doch eh alles in Ordnung. Vor sich das Bier, aus der Flasche, wofür ein Glas, er ist alleine, muss niemanden beeindrucken und echte Biertrinker wissen sowieso, dass es aus der Flasche am besten schmeckt. Neben dem vollen Aschenbecher, diese gelben, stinkenden Kerzen, die noch vom letzten Italienurlaub übrig geblieben sind, von denen er denkt, dass sie die Mücken nur noch mehr anlocken, anstatt sie zu verjagen, die sich die Ursula aber immer wieder eingebildet hat. Er schaut über die Buchsbaumhecke, der Nachbarin im Haus gegenüber ins Badezimmer hinein. Sie schminkt sich ab. Dann ist es also schon wieder zehn. Die Nachbarin geht immer um zehn schlafen. Wenn man im Haus nicht rauchen darf, dann ist man perfekt informiert über die Routinen seiner Nachbarn. Er sitzt im Dunkeln, braucht kein Licht, hat die Terrasse mit dem Schwiegervater vor ein paar Jahren gemeinsam gebaut, kennt jeden Zentimeter. Bloß die Glut seiner Zigarette leuchtet, die Mückenkerze und das Display von seinem Telefon.

 

 

Die Kleine hat gerade über WhatsApp ein Bild mit von den neuen Stiefgeschwistern geschickt, sie sollte doch jetzt gar nicht mehr munter sein. Ein Selfie mit Starbucks-Bechern in der Hand. Richtige Teenager sind die Mädchen schon geworden, mit Glitzerohrringen und gefärbten Strähnen. Viel zu reif, viel zu alt als Umgang für die Kleine.

So nett hat er sie letztes Jahr gefunden, als sie im benachbarten Caravan in der Union Lido gewohnt haben, so schön ist es gewesen, dass sich die Kleine mit den – klar etwas verschissenen, aber trotzdem lieben – Wiener Fratzen verstanden hat. Hätte er damals schon gewusst, was da noch auf ihn zukommt, dass die Ursula und der nette alleinerziehende Papa, der den Nerv hat, mit den pubertierenden Töchtern auf einen Campingplatz zu fahren, wo es vor lauter

gelangweilten und notgeilen jungen Deutschen nur so wimmelt, sich viel zu gut verstanden haben.

Nummern ausgetauscht haben – wann? Beim Geschirr abwaschen, heimlich nachts, ganz offensichtlich neben ihm, während er am Strand im knietiefen Dreckswasser die vier Mädchen

bespaßt hat? Er, der ja immer gesagt hat, dass er da sowieso nicht hin will, dass der Lido die Kloake des Mittelmeeres ist, dass man das alles vergessen kann, allem voran die schrecklichen Tagesausflüge nach Venedig, zu denen man sich aber irgendwie wieder verpflichtet fühlt, wenn man schon mal dort ist. Und dann so was, als ob er es gewusst hätte, Italien, eine blöde Idee, ein gutes Jahr später, dieses, du das geht nicht mehr, ich bin jetzt weg, ich meine so richtig, nach Wien und zwar gleich, ich weiß das geht jetzt schnell, aber die Kleine, du verstehst, da geht die Schule eine Woche eher los, als bei uns. Wenn Umzug und Trennung, dann gleich, ich muss das jetzt tun, für mich, ich weiß, du verstehst es nicht. Aber keine Sorge, die Schule ist gut, ich hab alle verglichen, da haben sie sogar Schuluniformen, das ist doch gut, da muss man sich nicht denken, das Kind wird zur Markensau erzogen, oder in der Umkleidekabine blöd angeschaut, weil sie billige Strumpfhosen trägt, du weißt doch, wie schlimm Kinder, vor allem die Mädchen zueinander sein können. Das mit dem Lido-Kerl, von dem er den Namen sogar schon wieder vergessen gehabt hat, weil er eben so unwichtig gewesen ist, bloß eine Urlaubsbekanntschaft, zumindest für ihn, anscheinend nicht für die Ursula, hat sie erst viel später zugegeben.

 

Und dann die Kisten, der Postnachsendeantrag, die Telefonate mit den Schwiegereltern, bei denen sie nur geschrien hat und dann immer in den Garten gegangen ist, um nachher zu heulen und mit dem beschissenen Wiener zu telefonieren, weil sie anscheinend nicht mal mehr vor ihm heulen hat wollen. Die Nächte, wo aus dem einen Feierabendbier sieben geworden sind, wo er sich das Hirn zermartert hat, was er falsch gemacht hat, wie das passieren hat können, wie sie das angestellt hat, auch logistisch, ist doch nie in Wien gewesen im letzten Jahr, nicht mal einen auffälligen Urlaub mit Freundinnen, gar nichts. Wo er gestritten hat, mit Freunden, mit Fremden, mit dem Barkeeper, ob so was sein kann, so eine Liebe auf den ersten Blick, mit Mitte vierzig, wo man doch meinen sollte, alles hat sich endlich eingespielt, und dann kommt da so einer. So ein Arschloch in lächerlichen beigen Chinos und macht – was? Kann seinen verdammten Elektrogrill so unglaublich sexy bedienen, seinen beschissenen Audi so erotisch umparken, dass die Ursula sich nach einer Woche Campingplatznachbarschaft gedacht hat, der ist so wunderbar, für den mach‘ ich jetzt alles kaputt, was wir in den letzten Jahren aufgebaut haben füreinander. Er hat es nach Bier nicht verstanden und nicht nach Wein und nicht nach diesem ekelhaften Marillenschnaps, der mittwochs in der Bar neben dem Büro immer im Angebot gewesen ist.

 

Und jetzt ist der Hund auch nicht mehr da. Das arme Vieh, von Haus aus schon gestört gewesen, aber gut, das haben sie schon gewusst, das heißt es bei den slowakischen Straßenhunden ja immer, dass die einen Schaden haben, von dem Ganzen, was die vorher erlebt haben, dass die immer mit irgendwas nicht können, mit Autos oder Hühnern oder lauten, plötzlichen

Geräuschen. Trotzdem hat es so einer sein müssen für die Ursula und nicht ein ganz normaler, weil die sind doch so arm, denen muss man helfen. Die Ursula, die immer allen helfen hat wollen, immer Kuchen gebacken hat für die Schulaufführungen von der Kleinen und immer freiwillig die Feiertagsschichten im Krankenhaus übernommen hat, natürlich hat es da ein traumatisierter Straßenhund aus Nitra sein müssen. Und die Vazka, die ist ja am Anfang auch ganz komisch gewesen, so schüchtern und unentspannt, besonders beim Spazierengehen, wenn einen wieder jemand auf sie angesprochen hat – Nein, so eine Liebe, so eine Schöne, ein Bordercollie mit noch irgendwas drinnen, richtig?- da hat es Jahre gedauert, bis sie sich streicheln hat lassen, ohne dass sie vorher den Kopf einzieht. Und auch jetzt hat sie das alles mitbekommen, hat doch immer an den Schachteln geschnüffelt, ganz skeptisch. Manchmal jetzt oben im Schlafzimmer auf dem Boden vorm Bett geschlafen, obwohl es mit der nie ordentlich verheilten Hüfte immer so schwierig für sie gewesen ist, über die rutschigen Holzstufen nach oben zu kommen.

Hat der Kleinen viel öfter ihr Spielzeug zugerollt und die Kleine hat sie auf einmal wieder viel mehr beachtet, als die Jahre zuvor. Nur, dass die Kleine eben tatsächlich gewusst hat, dass da bald ein Abschied ansteht. Und der Hund, der hat es vielleicht vermutet, gemerkt, dass seit Wochen eine komische Stimmung ist im Haus und dass jetzt auf einmal Kisten an Orten stehen, wo sie sonst noch liegen hat können.

 

Und natürlich, vielleicht ist die Vazka deswegen weg, ist vorher noch nie weg gewesen. Vielleicht ist sie weg, weil sie gedacht hat, das große Frauchen und das kleine Frauchen, mit denen ist irgendwas passiert, vielleicht muss man die suchen, vielleicht brauchen die Hilfe.

Da hilft es ihm auch nichts, dass er zufällig den Dorfpolizisten beim Bäcker getroffen hat, der gesagt hat, du nein, ich hab Dienst gehabt die letzten Tage, wenn jemand einen Hund gemeldet hätte, einen Streuner oder einen im Straßengraben, dann würde ich das wissen. Genauso wenig, das Telefonat mit dem Jäger, nein, nichts Auffälliges im Wald, keine Hundespuren, keine toten Hunde, keine toten Hühner, zumindest haben die Bauern im Umland nichts erzählt. Keine

Hunde irgendwo.

 

Da ist die Ursula von Anfang an konsequent gewesen, der Hund bleibt da, hat sie gesagt, den lass ich dir, der kann doch nicht mit nach Wien, ist doch arm da in der Stadt, das Grüne so gewohnt, und außerdem hat die Celina eine Hundehaarallergie, das ginge sowieso nicht. Ach, um den Hund machst du dir Sorgen und um ein fremdes Kind, hat er geschrien, und um mich nicht, was ist mit mir, verdammt. Und überhaupt, was willst du denn mit so einem Arschloch, der sein Kind Celina nennt, das sagt doch wohl alles, das kann doch kein vernünftiger Mensch seinem Kind antun. Was hab ich dir eigentlich getan, dass du das alles machst. Und die Ursula hat nur gesagt, dass er nicht so schreien soll, die Kleine hat morgen einen Test in Musik und muss noch die ganzen Kirchentonarten auswendig lernen und sie ist eh schon so verwirrt, die versteht doch auch nicht was hier passiert.

 

Schlussendlich ist der Hund dann aber doch der Einzige gewesen, der an diesem schlimmen Sonntag letzte Woche halbwegs normal gewesen ist. Die Ursula, die ein letztes Mal durchs Haus gegangen ist, alles noch einmal kontrolliert hat, wie in einem Hotelzimmer beim Auschecken, wo man schaut, ob man auch wirklich nichts vergessen hat. Der Schwiegervater, der gekommen ist, um dabei zu helfen, die Schachteln ins Auto zu tragen, der den ganzen Vormittag nichts gesagt hat, ihm dann aber zum Abschied die Hand in so einer Geste auf die Schulter gelegt hat, die so voller Gefühl gewesen ist, so entschuldigend, so als würde er auch keine Ahnung haben, was da mit seiner Tochter eigentlich falsch läuft. Und die Kleine, auf dem Beifahrersitz, mit diesem hübschen Sommerkleid, aufgeregt und nervös wegen dem Umzug, aber auch voller Vorfreunde, hat ihm aus dem Fenster gewunken und „Tschüss, Papa“ gerufen, so als würde sie bloß mit der Mama an den See fahren, am Abend wiederkommen, dabei hat niemand so wirklich gewusst, wie das jetzt werden wird. Vielleicht zum Herbstfest von der alten Schule, da möchte sie gerne hin, sonst auf jeden Fall Allerheiligen, weil zur Oma ans Grab da müssen wir sowieso, hat die Ursula gesagt, aber das sehen wir dann schon noch.

Und Vazka ist einfach immer überall gewesen, hat der Kleinen das Gesicht abgeleckt,ist am Schwiegervater hochgesprungen, hat sich gefreut, dass alle da sind. Oder vielleicht eben doch noch extra viel Kontakt gesucht, weil sie gewusst hat, da kommt jetzt ein Abschied auf sie zu. Wer weiß schon, was so ein Hund sich denkt? Er jedenfalls hat gewartet, bis Ursulas blauer Kombi um die Ecke gebogen ist, und hat in die Hecke gekotzt.

Und dann plötzlich schießt es ihm. Die Vazka, ist vielleicht ja, ganz unbewusst, zur Komplizin gemacht worden. Vielleicht sind es die langen Spaziergänge mit ihr gewesen, die die Ursula benutzt hat, zur Kontaktaufnahme mit dem beschissenen Wiener. Ja, richtig gut vorstellen kann er sich das jetzt, wie sie da so geht, am Bach entlang und durch den Wald, mit dem Telefon am Ohr und dem Wichser Sachen erzählt – was?! Unwichtiges, vom Wetter hier, am anderen Ende vom Land, oder gröberes? Wichtige Dinge, Sachen, die sie bedrückt haben und belastet, von denen er vielleicht gar nichts gewusst hat? Hat geflirtet mit ihm, über schmutzige Sachen geredet mit ihm, so schön wäre es, wenn du jetzt hier wärst, dann könnten wir hier auf dem Stein, da hinter der kleinen Kapelle im Wald. Und dabei seinen Hund an der Leine und vielleicht auch noch gemeinsame Freunde, Bekannte, Nachbarn getroffen, freundlich gegrüßt und nett gegrinst und währenddessen die ganze Zeit diesen Kerl am Ohr. Und dazu die Vazka, glücklich daneben hergelaufen, als unfreiwillige Zeugin, nichts ahnend und nichts verstehend. Könnte all diese Fragen, von denen er nicht einmal weiß, ob er sie beantwortet haben will, beantworten.

 

Wenn sie reden könnte. Wenn sie nicht vor drei Tagen einfach verschwunden wäre. Er hat immer gewusst, es gibt da Löcher im Zaun, sie ist oft mal raus, war für ein paar Minuten weg, hat das Futter von der Nachbarkatze aufgefressen und ist wiedergekommen. War generell nie gerne alleine. Umso mehr hat es ihn gewundert, als sie auf einmal länger weg gewesen ist. Hat begonnen zu überlegen, wann er sie das letzte Mal gesehen hat, hat es nicht mehr gewusst. Ein Hund, der immer da ist, der immer irgendwo in der Sonne liegt, der fällt einem ja auch nicht auf – erst, wenn er weg ist.

 

Am zweiten Tag hat er sich gedacht, vielleicht eh besser, wenn sie nicht wiederkommt. Bei aller Liebe, und obwohl es schön ist, nicht alleine zu sein, am Abend. Der Hund ist das einzige, was ihn noch an das Haus bindet, ihn davon abhält, sich eine Wohnung in der Innenstadt zu suchen um endlich einen endgültigen Abschluss herstellen zu können. Weg aus dem Haus, wo jeder Quadratmeter mit gefühlten tausend Erinnerungen an eine Ehe, von der er immer gedacht hat, dass sie doch eh in Ordnung ist, zugeschissen ist. Wo im Vorzimmer im Türstock die Markierungen mit Edding sind, wo er und die Ursula an jedem Geburtstag der Kleinen eingezeichnet haben, wie viel sie im letzten Jahr gewachsen ist. Es ist immer ein ganz wichtiges Ritual für alle drei gewesen, noch vor dem Frühstückskuchen hat es erledigt werden müssen, sonst ist es kein ordentlicher Geburtstag. Und die Terrasse, die mit dem Schwiegervater in einem lächerlich heißen Sommer aus dem Nichts herausgestampfte. Verbunden mit viel Schweiß und viel Feierabendbier im Anschluss, wo der sonst so schweigsame Mann oft begonnen hat, Geschichten aus der Kindheit der Tochter auszupacken, in Erinnerungen von gemeinsamen Wanderausflügen geschwelgt ist und mit Stolz von Ursulas perfektem Maturazeugnis geschwärmt hat, und der Freude, wie er dann später allen Freunden und Verwandten erzählen hat können, dass sie jetzt eine Ärztin in der Familie haben.

Kein Vergleich mit dem Schwiegervater mit dem traurigen Gesichtsausdruck, der die Umzugskisten mit so einer Schwermut getragen hat, als wären sie nicht mit Geschirr und Unterwäsche, sondern mit Enttäuschung und Unverständnis über das Verhalten einer Tochter gefüllt, die er so ganz sicher nicht erzogen hat.

 

Aber heute Abend ist es anders gewesen, vielleicht auch, weil er sich den ganzen Tag schon gewünscht hat, dass sein Telefon klingelt, ein Nachbar dran ist, ihm sagt, dass der Hund wieder da ist. Oder zumindest der Polizist, der ihm sagt, die Vazka liegt tot neben der Bundesstraße, irgendetwas, nur um da endlich Klarheit zu bekommen. Weil er eh schon so viel nicht verstanden hat, sich nicht erklären hat können, was da passiert ist in den letzten Wochen, dass sich sein Leben komplett auf den Kopf stellt, da wird man doch vom Universum, Gott oder wem auch immer verlangen dürfen, dass zumindest irgendetwas konstant bleibt, oder erklärbar ist. Und wenn es nur das ist, dass ihm endlich irgendjemand sagt, wo sein Hund ist.

 

Heute ist es richtig leer gewesen, ohne den Hund. Nicht ausgehalten hat er es drinnen. Drum sitzt er draußen, trinkt das vierte Bier. Will den Hund haben, sofort, sich entschuldigen, dass er auch nur kurz in Erwägung gezogen hat, dass es besser wäre, sie würde nicht wieder kommen. Will sie kraulen, am liebsten stundenlang, an dem weißen Fleck hinter dem rechten Ohr, wo sie es meisten mag. Schaut auf die Hecke. Nichts rührt sich in der Nachbarschaft. Er denkt, die Hecke müsste mal wieder geschnitten werden, der Ursula ist das immer sehr wichtig gewesen. Wobei, denkt er dann, die Ursula kann scheißen gehen mit der Hecke.

Die Mückenkerze erlischt, Brenndauer vier Stunden. Er sitzt hier schon viel zu lange. Nun ist es endgültig dunkel, auch die Straßenlaternen brennen nicht mehr.

Irgendwo im Garten raschelt es.


Zehnter Platz : Eis“, Ruth Rousselange

Seit kurzen war eine feuchte Stelle in ihrem Bett aufgetaucht. Nicht, dass sie je gedacht hätte, sie könne von einem Zuviel an Körperflüssigkeiten rühren. Sie fühlte sich klamm an, kalt, merkwürdig. Erschrocken hatte sie ihre Hand zurückgezogen, als sie sie erstmals entdeckte. Sie hatte ihm nicht gleich etwas gesagt. Erst überlegt, überprüft, wie seine Reaktion wohl ausfallen würde. Dann hatte sie es doch gewagt. Nur kurz hatte er seine Hand auf die Stelle gelegt, abwesend, uninteressiert, eine sachte Falte war über seine Stirn gekrochen und eine flüchtige Frage schien ihn anzugehen, das legte sein Blick nahe. Dann hatte er wieder den Kopf ins Buch gesenkt, ohne was zu sagen oder sich zu rühren. Hatte sie etwas anderes erwartet? Gehofft vielleicht, sie könne sein Interesse wecken, mit was, war ihr letztlich egal, sei es mit einem mißverständlichen Wort oder mit einem Fleck im Leintuch, der keiner war. Der blieb unsichtbar, geruchlos, aber eindeutig kühl. So als hätte man ein paar Eiswürfel unter das Laken geschoben. Sie würde ihn nicht wieder darauf hinweisen, was ihr schwerfiel.

Die Tage vergingen, der Fleck aber blieb, er wurde sogar größer. Kurz nach seiner Entdeckung hatte sie es mit Lüften versucht. Hatte die Bettdecken ordentlich zurückgeschlagen, die Kissen außerhalb der Reichweite der Stelle gelegt und sie so der freien Luft zugeführt. Dinge, die sie nicht regelmäßig, gar selten tat. Ordnung halten hatte nie zu ihren leidenschaftlicheren Anliegen gehört. Zuviel anderes gab es, was wichtig war. Immer lag ein Buch bereit, gelesen zu werden, ob sie es nun freiwillig tat oder weil ihr Konto wieder einem recht bedenklichen Minusstand entgegen tröpfelte. Und wieviel mehr Freude bereitete auch die Versenkung in angenehme Lektüre, sogar in unangenehme, im Vergleich zum Herrichten von Betten und Hantieren mit Geschirr. Ihr Mann hatte ihre Bibliophilie, ihre Manie jedes Buch, das sie nur halbwegs erträglich fand, in dem sie nur zwei, drei bemerkenswerte Sätze entdeckte, besitzen zu müssen, hingenommen. Wie er über die Jahre gelernt hatte alles hinzunehmen. Ohne sonderliche Emotionen im Allgemeinen, aber mit tobsüchtigen Anfällen im Besonderen, die soviel nützen, wie ein kurzer Schauer im Hochsommer zur Mittagszeit.

Man hätte sie nicht als stur bezeichnen können, nicht mal als unfreundlich, nur als hartnäckig, unnachgiebig, was die Verfolgung ihrer Interessen anbelangte. Dabei schien sie nichts sonderlich bewußt zu tun, eher hatte es den Anschein, als würde sie getrieben, sei befallen von einer Art Virus, das sie zwang etwas zu wollen, ohne dass sie den eigentlichen Sinn davon verstand. Auch ohne dass es ihr rechte Freude bereitete. Aber sie mußte das Gewünschte in die Hände bekommen, mußte ihren Plan ausführen, mußte sich einem Projekt ergeben, wie einer Krankheit, die sie heimgesucht hatte und die sie nicht loswerden wollte, sondern zu einem Teil ihrer selbst machte. Dieser Charakterzug führte dazu, dass sie zwar nach außen den Eindruck eines gelassenen Gemüts vermittelte, nach innen aber kaum je ihre ständige Unruhe kontrollieren konnte, die sie allmorgendlich überrollte, kaum, dass sie die Augen aufschlug, wie die erste Flutwelle den nackten Strand nach der Ebbe.

Der Grund, warum sie ihre Nervosität so gut verbergen konnte, war eine zähe Verbissenheit mit der sie meist all ihre Launen zügelte. Zügeln mußte, denn sicherlich hätten ihre Leute keinerlei Hingabe oder Interesse für ihre extremen Gemütsschwankungen aufbringen können, ihr Mann am allerwenigsten. Nun also der Fleck. Kurz überlegte sie, ob er nicht doch eine ihrer sogenannten Einbildungen war, die man ihr immer dann vorwarf, wenn man rein gar nichts mehr von ihren meist schwer nachvollziehbaren Überlegungen wissen wollte. Doch legte sie die Hand auf das Laken, war er eindeutig da, blitzend kalt und vollkommen konturlos. Ihrem Mann sagte sie also nichts mehr davon, es hätte auch keinen Sinn gehabt, denn hatte er einmal sein Desinteresse demonstriert, gab es kein Zurück. Eine Diskussion hätte nur wieder zu Streit geführt. Streiten, das taten sie oft in letzter Zeit. Bei genauer Überlegung mußte man einsehen, dass „in letzter Zeit“ dafür nicht mal ausreichte. Im letzten Jahr träfe es genauer. Und es kam ihr vor, als könne sie sich weiter zurück auch nicht erinnern. Die beiden, die abends ständig zusammen durch die Kneipen zogen, mußten wohl zwei andere gewesen sein. Auch die gehörten sicher zu ihren Einbildungen.

So ging sie dazu über den unsichtbaren Fleck allabendlich zu streicheln. Sachte fuhr sie mit der Hand darüber, als müsse sie sich vergewissern, ob er noch da war, was sie damit ja auch tat. Oder als müsse sie ihn beschützen, beschwichtigen vielleicht, damit er nicht zornig wurde. Ihrem Mann fiel dieses Streicheln des Flecks nicht weiter auf. Er hielt es einfach für ein Glattstreichen des Lakens. Überhaupt paßte das Wort auffallen nicht zu ihm. Hätte sie sich wochenlang nicht die Haare gewaschen, hätte sie plötzlich zehn Kilo mehr oder weniger gewogen, wer weiß, ob er es gemerkt hätte. Dabei konnte man nicht behaupten, sie seien bereits eine gefühlt unendlich lange Zeit zusammen. Ein paar Jahre mal gerade, doch hatte der Schrecken der Gewöhnung kaum mehr als drei, vier Monate gebraucht, um in die immer wohler geordnete Zweisamkeit einzuziehen. Morgens sah man sich nicht mehr mit Überraschung an und abends begegnete man sich nicht mehr mit Freude in derselben Wohnung, froh darüber, irgendwann entschieden zu haben, die Leben miteinander zu teilen.

Zuerst hatte sie sich dagegen aufgelehnt. Wollte um keinen Preis, dass die Normalität die Oberhand gewann, beschwerte sich, wenn das Miteinanderreden einschlief oder gar nicht erst in Gang kam, war traurig, wenn man nicht über einander lachte, scherzte, sich unbedingt das Neuste erzählen mußte. Aber desto öfter sie in die Schranken verwiesen wurde, desto öfter sie das Gefühl hatte, die ewig Nörglerische, nur auf einen Fauxpas Wartende zu sein, desto weniger wollte sie noch ihr Interesse an diesem Mann bekunden, der sie einst so faszinierte. Wohl hatte auch ihr Gebanntsein über die Jahre abgenommen, ganz unmerklich, sogar für sie selbst. Mit jeder Zurückweisung, mit jedem geschrienen Wort ein wenig. Nun war Nichtkommunizieren an der Tagesordnung, gute Tage die Ausnahme, Stille und Nebeneinanderher das Gängige. Was einem Zeit ließ, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Viel Zeit. Man lebte nebeneinander, sah sich wenige Stunden am Tage, beide hatten Arbeit, er Ingenieur und sie Rezensentin, zu tun gab es immer etwas, wenn nicht verbrachte man die Zeit mit Kollegen. Morgens sah man sich gar nicht, abends kurz, was die Qual des Redenmüssens auf ein Minimum verkürzte. Im Bett lag man nebeneinander. Aufeinander, ineinander gar, kam ihnen absurd vor. Man schämte sich schon des bloßen Gedankens. Ja, wenn sich ihre Körper nur unabsichtlich berührten, erschraken beide, erröten, wie noch unbedarfte Teenager, die gar nicht recht wissen, was Zungenküsse, was Schamlippen, Schenkel und Schwänze eigentlich en détail und aus nächster Nähe betrachtet, bedeuten sollen. So blieb jeder tunlichst auf seiner Seite, getrennt durch Decken und Bücher, in die man Leib und Kopf stecken konnte, darauf bedacht, sich möglichst wenig zu regen. Auch diese Entwicklung war ihr letztendlich schleierhaft, sie hatten damals häufig Sex, sogar guten, sehr guten könnte man meinen, doch irgendwann kam er nicht mehr vor. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt und befohlen, dass dieses hoch interessante, unerschöpfliche Feld künftig zum ständigen Ärgernis degradiert werden müsse. Sie wunderte sich, immer noch, auch nach anhaltender Enthaltsamkeit, die nun so lange währte, dass man als gesunder Mensch kaum ohne Entsetzen über einen solchen Zeitraum nachsinnen konnte. Denn sie fand ihren Mann ganz sicher attraktiv, was er auch wahr, an den Reaktionen anderer Frauen, und gar einiger Männer, gemessen. Auch mit ihrem eigenen Aussehen hatte sie keine Probleme, nur trug sie inzwischen Sorge, es könne sich vielleicht irgendein Zug um ihre Augen oder ihren Mund gelegt haben, eine Falte in die Stirn genistet haben, die davon kündete, wie wenig Freude ihrem Körper dieser Tage noch zu Teil wurde.

So war die Betrachtung des Flecks, besser seine Betastung, zum Höhepunkt ihrer Tage und Nächte gereift, es war das einzige, was noch Abwechslung und Abenteuer versprach. Saß sie am Schreibtisch und ihr fiel nichts ein, das zu rezensierende Buch langweilte sie, ein Artikel erwies sich als nervtötend widerspenstig, dann schlich sie ins Schlafzimmer, verhuscht und geduckt, als könne sie jemand dabei beobachten, fast mit schlechtem Gewissen und langte unter die Decke nach dem Fleck. Er war da, sie blieb neben ihm sitzen, ein Buch in Händen, ließ die Kühle in ihre ausgestreckten Fingerspitzen wandern. Das schien sie zu beruhigen, warum, hätte sie nicht sagen können, aber plötzlich las es sich leichter, ihre Gedanken schienen wieder eine gefälligere Ordnung anzunehmen. Auch abends glitt ihre Hand ein letztes Mal zum Fleck, bevor sie einschlief, und manche Abende bildete sie sich ein, er wüchse unkontrollierbar, zöge sich stetig in die Länge. Was die Unmöglichkeit seiner Existenz ja nicht noch unmöglicher machte. Sie wußte nicht, ob es sie freuen oder erschrecken sollte, dass sich seine anfänglich handtellergroßen Ausmaße scheinbar unaufhaltsam zur Länge eines Armes weiteten. Kurz hing sie der unvernünftigen Idee nach, doch ihren Gatten noch einmal darauf anzusprechen, ließ es aber bleiben, als sie sich seiner Migräne erinnerte, die ihn seit Wochen plagte und ihn noch stummer werden ließ, als gewöhnlich. Unverständlich war ihr, dass er auch jetzt nicht von selbst die Veränderung im Laken wahrnahm, denn der Fleck schien in seine Richtung zu wachsen, auf seine Seite hin und mußte doch sicher zu einer unangenehmen Kühlung der Decke führen. Sie stricht von oben nach unten und merkte, dass der Fleck heute abend sogar noch größer war. In der Länge teilte er nun das Bett fast in zwei Teile, in der Breite ragte er sicher schon mindestens in Pfostenstärke hinüber in die Gattenhälfte. Der wie immer genüßlich in seine Lektüre versenkt schien. Einen britischen Reißer der schnellen, stets mehrhundertseitigen Machart um Mord, Finanzbetrug und Bankenspekulation, so austauschbar wie eigentlich unaufregend, doch zu größerer intellektueller Leistung könne er sich abends nicht mehr aufraffen, er wolle sich einfach nur entspannen. Den Erfolg dieser Entspannungsübungen konnte sie nie ganz nachvollziehen, morgens war er stets genauso mürrisch, wie am Abend zuvor. Aber bliebe das Betäubungslesen einmal aus, würde er möglicherweise vollends unerträglich.

Soweit sie ihren Arm heute auch streckt, die Kälte nahm kein Ende und auf der Suche nach der Begrenzung des Flecks stieß sie versehentlich mit einem Finger an den Rücken des Gatten. Der, eigentlich entschlossen überhaupt keine Regung zu zeigen, um nicht angesprochen zu werden, drehte sich dann doch ob der Außerordentlichkeit dieses Vorfalls zu ihrer Seite und blinzelte sie träge an, eindeutig nicht willens aus seiner Welt des besänftigenden Thrills aufzutauchen. Er sah sie an, als wäre sie gar nicht da, womöglich übersah er sie auch gänzlich und schaute zur Wand hinter ihr, als könne die ihm offenbaren, was er gerade in seinem Rücken gespürt habe. Sein Benehmen erschreckte sie, obwohl sie ja wußte, dass ihn beim Lesen zu stören ein großes Wagnis war. Schon wanderte sein Blick wieder nach unten auf die Seiten, er knurrte leicht, las weiter und sie drehte sich wieder von ihm weg, ohne herausgefunden zu haben, wie groß der Fleck nun wirklich war. Mit dem Gefühl gerade nochmal entkommen zu sein, schlief sie ein.

Sie hatte die Augen noch geschlossen, spürte aber, dass ihre linke Hand völlig erstarrt schien. Erst dachte sie, sie müsse wohl drauf gelegen und so die Blutzufuhr abgeschnitten haben, bis sie mit zunehmendem Erwachen spürte, dass die Hand eiskalt war und sich die Finger nicht bewegen ließen. Sofort schoß ihr Blut schreckhaft durch die Adern und ein schwindeliges Gefühl bemächtigte sich ihrer, obwohl sie noch lag. Sie versuchte ihre Hand zu heben, langsam, ängstlich sich versehentlich einen Finger abzubrechen. Sie spürte die Hand eigentlich nicht wirklich, es fühlte sich mehr an, als hätte man statt ihrer einen Eisblock auf ihren Arm geschraubt. Sie traute sich kaum die Augen zu öffnen, wollte nicht auf das vereiste Ding an ihrem Arm blicken müssen, doch sie zwang sich dazu. Im Zimmer herrschte diffuses Licht, graue Schleier drangen durch die Ritzen des Rollladens und ließen alle Konturen schemenhaft erscheinen. Sie setzte sich langsam auf, schüttelte die Hand vorsichtig, nachdem sie drauf geschaut und festgestellt hatte, dass sie zumindest im Halbdunkel wie immer aussah. Langsam stellte sich ein sachtes Kribbeln ein zum Zeichen, das noch Leben darin war. Sie atmete aus und drehte ihren Kopf nach links. Die Decke ihres Mannes schien im Dunkeln zu glitzern, das musste sie sich wohl einbilden, sagte sie sich im morgendlich mürben Kopf. Fiel ihr doch nichts ein, womit ein Baumwollzubett glitzern konnte. Darunter sah nur ein Haarschopf heraus, der trotz Zwielicht eine unnatürlich helle Farbe hatte. Ihr Mann hatte dunkelbraunes, volles Haar, das sie immer ganz besonders an ihm gemocht hatte. Jetzt sah es aus, als hätte jemand etwas Milchiges darüber gegossen. Ihre Augen wanderten über den zugedeckten Körper, ruhten auf ihm, nichts hob oder senkte sich, alles sah straff aus. Sie konnte es nicht, aber tat es, reckte ihren rechten Arm und legte ihn auf die Haare. Eis stach sie augenblicklich, ihre Finger schienen kleben zu bleiben an kaltem Stein. Sie wollte schreien, doch die Laute zerbrachen noch in ihrem Kopf. Sie rutschte auf den Fußboden, ging in die Küche, lief fast. Sie hätte geweint, hatte aber vergessen wie man das tut. Sie sah zwei junge Leute, die sich begierig an Bahnhöfen küssten, die Hände auf der warmen Haut des anderen. Sie zerstieß ein Weinglas mit dem Fleischklopfer, der Lärm schien die Dunkelheit zu sprengen, die Läden aufzureißen und den Mond vom Himmel zu holen. Sie spürte Blut auf ihre Füße tropfen, sie nahm die Glassplitter und schluckte.  


Elfter Platz : 600“, Melanie Winter

Ich sehe auf die Uhr, als sie geht. Auf meine Armbanduhr, die sie achtlos auf den Nachttisch gelegt hatte und so zum Liegen kam, dass ich die Zeit ablesen kann. Es ist kurz vor sechs, fünf Uhr sieben und fünfzig Minuten, um genau zu sein.

Vor einer halben Stunde hat sie mich in der Klinik abgeholt und hierher bringen lassen. Nach Hause, dachte ich, und begriff nicht, weshalb der Wagen am Eingang zum Antonius-Haus hielt. Weil es sich nur einen Irrtum handeln konnte, versuchte ich die Leute daran zu hindern, mich ins Haus zu tragen, aber sie haben mein sabberndes Gefasel nicht verstanden und sich an Sonja gewandt, als sie vom Parkplatz dazukam. Sie hat gelacht und bestätigt, dass alles so in Ordnung wäre, mit den Männern gescherzt und mich mit einer hastigen Berührung am Arm zu besänftigen versucht. Immer wieder, weil ich keine Ruhe fand. Bis ich vor Erschöpfung verstummte.

Ich denke zurück an den vernichtenden Schmerz, der vor vierzehn Tagen einsetzte, als ich mich zu Sonja an den Frühstückstisch setzte. Der mit der Heftigkeit eines Axthiebs zuschlug und mich zu Boden warf. Danach war nichts. Gar nichts. Der Schmerz verlosch fast augenblicklich und hinterließ eine zähe, klebrige Dunkelheit, die mich so heftig einzwängte, dass meine Lunge versagte.

Dann wachte ich in der Klinik auf. Das Zimmer weiß und gleisend und sonnendurchflutet. Heiß. Ein anderer Schmerz ballte sich gerade in meinem Hinterkopf zusammen und begann meine Wirbelsäule aufzubrechen. Als ob jemand in meiner Matratze saß und beschlossen hatte, mich zu filetieren. Mich dagegen wehren, konnte ich nicht. Nur den Kopf drehen. Sehr mühsam. Im Bett neben mir lag einer mit aufgesperrtem Mund, als wäre er mitten im Wort, mitten im eigenen Gebrüll gefällt worden. Habe ich auch so ausgeschaut, bevor ich wach wurde? Ich fürchtete schon, weil mein Kinn vollgesabbert war und mein Kiefer so steif, dass ich Mühe hatte, den Mund zu schließen. Und es noch immer nicht geschafft hatte, als eine Schwester kam, um mir das Gesicht abzuwischen und etwas gegen den elenden Schmerz zu spritzen.

Ich spürte mein rechtes Bein nicht mehr. Den rechten Arm auch nicht. Und ich konnte sie nicht bewegen. Als wären sie eingemauert. Und ich glaubte, wieder ohnmächtig zu werden, weil ich den Blick nicht richtig fixieren konnte. Dann lag ich nur noch da und, in der Hoffnung zu gesunden, ließ alles mit mir machen. Hörte mir die Vorträge der Ärzteschaft an, nahm das Gönnerhafte des einen oder anderen schweigend hin – sprechen konnte ich ohnehin nicht, nur grunzen und unverständliche Laute von mir geben – und versuchte, die Geduld der Schwestern nicht zu strapazieren, die noch das Beste an der Klinik waren.

 Die Uhr verschwimmt, ich glaube, der Sekundenzeiger läuft ruckartig. Bleibt stehen. Läuft wieder. Zwinkert mir zu und grinst mich breit an. Ich meine sogar, eine winzige, kichernde Stimme zu vernehmen, die mich verhöhnt. Aber ich bin allein im Raum, der genauso weiß und steril ist wie das Krankenzimmer in der Klinik, das ich gerade verlassen habe.

Ein Stimmengewirr erhebt sich vor der Tür, Schritte schallen auf dem harten Fußboden. Es ist wohl Zeit fürs Abendbrot, und man ist sicher gerade dabei, die Hausbewohner zum Essen zu holen, um sie brav in Reih und Glied an die Tische im Speisesaal zu setzen – an einen Tisch jene, die noch selbständig essen können, am anderen jene, die sich mit weichem Brot und Brei füttern lassen müssen. Sich waschen und anziehen und den Hintern abputzen lassen müssen. Die Windeln brauchen und wie Kleinkinder schreien, wenn sie sich wieder vollgemacht haben. Wie ich.

Ich klemme die Augen zu. Bis es wehtut. Noch immer geht mein Atem zu schnell, noch immer rast mein Herz. Noch immer kann ich nicht fassen, dass Sonja mich hier eingeliefert hat. Noch immer will ich an einen Irrtum glauben. Dass sie einen kurzfristigen Aufenthalt geplant hatte, um sich auf die Schwierigkeiten vorzubereiten, die ihr meine Pflege zu Hause bereiten werden. Solange zumindest, bis eine Pflegekraft kommt, um ihr zur Seite zu stehen. Oder bis eine Besserung eintritt und ich wieder selbständig agieren kann, auch wenn man mir nicht viel Hoffnung machte, weil die CT-Bilder zeigten, dass bestimmte Regionen im Hirn abgestorben sind. Dabei hatte ich mich darauf gefreut, heute wieder nach Hause zu kommen, weil das Wetter perfekt war, der Himmel wolkenlos, die Luft mild. Kaum Wind. Der Herbst nah und doch gnädig. Freute mich auf das Haus, in dem ich geboren und aufgewachsen bin und wie ein Mitgift in unsere Ehe eingebracht habe, das Haus, dessen getäfelte Wände und knarrende Dielen mir als Kind nachts die Geschichten zahlloser Vorfahren erzählte und mir Trost spendeten, wenn Dinge aus dem Lot gerieten. Das schöne, verwinkelte Haus mit dem Schieferdach und den altmodischen grünen Fensterläden, die ich alle paar Jahre eigenhändig abschrubbte und neu lackierte. Tannengrün. Und weil ich nie irgendwo anders gelebt hatte, habe ich auch immer geglaubt, dass es meine Bestimmung wäre, dort zu sterben. In meinem Bett, mit Blick auf die riesige Weißtanne, die Sonja nach ihrem Einzug vor 57 Jahren gepflanzt hatte. Aber warum bin ich so darauf fixiert, im eigenen Bett zu sterben? Wo stirbt man meistens – statistisch gesehen? Es gibt so viele Räume in einem Haus, so viele Orte außerhalb, wo der Tod zupacken kann. Und den Zeitpunkt kennt sowieso kaum einer.   

Weit über mir zieht eine Maschine ihre Bahn. Leise, dröhnend, stetig. Und schon ist die alte Sehnsucht geweckt und mit ihr die große, starke Erinnerung an einen Vater, den ich nur kurz gekannt habe. Der als Flieger in den Krieg zog, als ich in die zweite Klasse ging, und nie zurückkam. Der irgendwo in der Normandie blieb, der Kanal sein Grab, die graue Dünung sein Leichentuch. Vermisst, nicht gefallen, nur vermisst, was die brennende kindliche Hoffnung lange nährte. Es tat unendlich weh, ohne Vater aufwachsen zu müssen. Auf Fragen zu verzichten, die er nie beantworten, auf Erklärungen, die er nie anbieten würde. Auf Ratschläge, die er nicht erteilen und ich nicht einholen konnte. Immer wieder ging ich dorthin, wo wir zusammen gewesen sind. In den schattigen Park am Rheinufer, wo wir Fußball gespielt und Drachen haben steigen lassen. Zur Haltestelle, wo wir samstags in die Bahn stiegen, um ins Kino zu fahren. Oder ins Freibad. Ins Café Ebbinghaus in der Hermannstraße, wo wir an Sommerabenden Eis schleckten und im Winter auf einer gepolsterten Bank in einer warmen Ecke Lebensmittelmarken für Kuchen und heißen Kakao verprassten. Inmitten einer köstlichen Wolke aus Kaffeeduft und Zigarrenrauch – raucht heute überhaupt noch einer Zigarren? Ich stellte mir vor, dass er dort auf mich warten müsste, aus einer erstarrten Vergangenheit wieder fleischgeworden. Lächelnd, lachend, scherzend. Die herrliche, sonore Stimme den Raum um uns füllend. Seine starke, sehnige Rechte, wenn er mich an die Hand nahm, unsere Schritte platschend im Regen oder knirschend im Schnee auf dem Weg nach Hause. Das Knistern im Ofen, wenn die Späne loderten, das leise Krachen, wenn die Kohlen Feuer fingen. Die weiche Wärme, die uns freundlich einhüllte und die Kälte aus unseren Knochen löste. Den heißen Tee, den meine Mutter uns kochte. Eine schöne Geschichte zur guten Nacht und ein leiser Segen. Möge der Herr dich schützen. Seine Haut roch nach Holz, nach frisch geschlagener Tanne. Stark und gesund.

Die Motorengeräusche sind verlöscht, der Himmel wieder leer. Die Erinnerung an Sonjas Gesicht taucht auf, als sie ins Zimmer kam, nachdem die Ärzte ihr eröffnet hatten, wie es um mich steht. Bleich und verzerrt von unterdrückter Wut. Als hätte ich ihre sorgfältige Planung für unsere verbleibenden Jahre absichtlich zerstört. Vorhin, bevor sie ging, ist ihr die Kontrolle entglitten. Diese Selbstdisziplin, die ich immer bewundert und wie einen Wegweiser gebraucht habe, um nicht verloren zu gehen. Ihre Effizienz und Übersicht und ihr unfehlbares Gespür für richtige und falsche Entscheidungen. Aber nun ginge es nicht mehr, meinte sie. Nicht nur wegen der Folgen des Anfalls, sondern auch wegen meiner Widerspenstigkeit. Wegen meiner hartnäckigen Weigerung mich untersuchen zu lassen, obwohl ich in letzter Zeit ziemlich vergesslich geworden bin. Sachen herumliegen lasse, die sie hinter mir her räumen muss. Oder dorthin packe, wo sie nicht hingehören und weiß nicht mehr wo. Weil mir Termine entfallen. Passiert ihr manchmal auch, aber darüber schüttelt sie nur den weiß gewordenen Kopf. Stöhnt, seufzt, lacht. Ihr steht das auch zu, weil sie als Herrin im Hause tausend Dinge um die Ohren hat, an die sie gleichzeitig denken muss. Meine Aufgaben waren und sind stets überschaubar – für den Wohlstand der Familie sorgen und mich um den Garten kümmern. Damals samstags mit den Jungen zum Fußball gehen. Vergnügen pur. Sie musste täglich Hausaufgaben und die Vorbereitung von Klassenarbeiten überwachen. Wie ein Schießhund. Bei Klassenlehrern antanzen. Streit schlichten. Strafen verhängen. Und nebenbei alles erledigen, was zu einem ordentlich geführten Haushalt gehört. Anstrengung pur. Beklagt hat sie sich in all den Jahren nie. Heute erst, vorhin gerade und dabei keine Spur von Altersmilde walten lassen, die sie ihrer Umwelt – auch mir – sonst gern zukommen lässt.  

Aus der Ferne läuten die Glocken von Sankt Elisabeth. Klar und hell rufen sie zur Andacht. Früher, viel früher bin ich dorthin gepilgert. Feste Schritte hallend zwischen uralten Gemäuern. Stehend und kniend in betäubenden Wolken von Weihrauch und Kerzenduft. Geblendet vom Ornat der prächtigen Gewänder, von uralten Liedtexten und betörender Tonkunst. Nie etwas in Frage gestellt, treuergeben und voller Demut. Zweifel keimten erst vor zwanzig Jahren, als kein Gebet und keine Fürbitte meine Mutter vom Krebs zu erlösen vermochte, der sie Stück für Stück aushöhlte. Herr reinige meine Seele, denn ich bin bereit! Einmal, tausend Mal. Bis es nicht mehr ging und sie den Rest selbst erledigte. Dann der Einbruch, weil Pfarrer Heinrichs, der Sonja und mich getraut und unsere Söhne getauft, sich weigerte seiner treuen Dienerin die Messe zu lesen und sie zu beerdigen. Bis mir nichts anderes blieb, als den Lutheraner darum zu bitten. Seitdem habe ich kein Gotteshaus nicht mehr betreten. Mich im Ausgestoßensein gesuhlt und meine Wut gelebt.

Die Jungen hatten sich schon lange vorher abgewendet. Angesprochen darauf sagen sie nur, sie könnten sich mit den Grundgedanken des Glaubens nicht mehr identifizieren, doch auseinandergesetzt damit haben sie sich nicht. Nur ausweichend geantwortet oder meine Fragen abgewiesen. Ihre Kinder nicht taufen lassen und nicht zur Kommunion geschickt. Sollten sie je Fragen haben, werden sie sich wohl allein auf die schwierige Suche begeben müssen. Ein Auge entwickeln für die Säulen des Glaubens. Für verschlungene Pfade, die in der Finsternis liegen und sich nur mühsam erkunden lassen. Für die steinernen Hügel, die erklommen werden müssen, um das Leuchten am Horizont zu erkennen, und für die lichten Täler, die sie schützend empfangen würden.   

Das Glockengeläut verstummt, glimmt aber noch eine Weile in der abkühlenden Luft nach, die sich mit der aufkommenden Abendbrise zu rühren begonnen hat und durch das offene Fenster in das Zimmer, in das man mich ungefragt gesperrt hat, zaghaft ergießt. Ich stelle mir vor, auf meiner Terrasse zu liegen, während ich mich im Anblick tausend grüner Nuancen des Gartens verliere. Den Duft von spätsommerlichen Blüten und frischgemähtem Gras auskoste, und dem besänftigenden Vortrag der Türkentauben lausche, die das Geäst der knarrenden Eiche bevölkern. Sonja bitten, sich eine Weile zu mir zu setzen, wenn sie gerade Zeit findet.

Eine Klingel ist in Reichweite, aber ich brauche sie nicht. Wozu auch? Um mich dem menschlich Bestimmten zu fügen? Dem Ausgeliefertsein? Sich dem Unabwendbaren äußeren Zwangs zu beugen genügt vollkommen.

Mein Gehör funktioniert also. Einwandfrei. Ich höre Flugzeuge am Himmel und das Glockengeläut der Kirche. Und ich höre den Verkehrslärm auf der Straße vor dem Antonius-Haus. Lastwagen, die schwerbeladen vom Steinbruch kommend vor der scharfen Kurve am Berg lärmend abbremsen, und Pkw, die je nach Motorleistung mal heulend, mal schnurrend den Hang in Angriff nehmen. Die vibrierende Stille, die zurückbleibt und über der Straße schwebt, bis sie von der entweichenden Hitze der Asphaltdecke verschluckt wird.

Die Tür springt auf, und eine kleine, stämmige Frau betritt den Raum.

„Guten Tag, Herr Martens, ich bin die Anna“, verkündet eine harte osteuropäische Stimme und beugt sich zu mir herab, als würde sie nach etwas suchen. Meinen Verstand vielleicht, weil ich gerade das Gefühl habe, er wäre mir entglitten.

„Haben Sie Hunger?“ fragt sie. Freundlich, aber bestimmt. So wie Sonja fragen würde, aber mit dem schweren Akzent. „Sicher haben Sie Hunger, und ich würde Ihnen gern etwas bringen.“

Ich schaue in das rundliche, lächelnde Gesicht und erschrecke, weil ich dort eine Brandnarbe entdecke. Rot und frisch. Tief und breit auf der rechten Wange. Da wird ein Fachmann nachhelfen müssen, denn von selbst wird sie nicht verschwinden. Oder die junge Frau will sie behalten und wie einen Orden tragen. Um den Schuldigen zu strafen. Oder sich selbst.

Ich schüttele den Kopf. Wie eine Marionette mit ausgeleiertem Halsgelenk. Nicken und schütteln. Doch anders geht es nicht, denn mein abgehacktes Gerede, mein Gesabber würde sie kaum verstehen. Meine Flüche vielleicht, aber fluchen will ich auf keinen Fall. Nicht vor dieser Frau mit der grässlichen, purpurnen Brandnarbe.

Aber sie besteht darauf, mir zu trinken zu geben. Füllt eine Schnabeltasse mit Mineralwasser, der milden Sorte, und lässt mich daran saugen. Geht trotzdem nicht, obwohl sie sich Zeit nimmt. Es ist wie beim Zahnarzt, wenn er eine Spritze gesetzt hat, bevor er losbohrt. Wasser tröpfelt über mein Kinn, rinnt am Hals hinab und sammelt sich in der Vertiefung oberhalb des Brustbeins. Läuft über, verfängt sich im Brusthaar und lässt mich schaudern.

„Möchten Sie fernsehen?“ fragt sie und zeigt zum Gerät, das rechts von mir oben an der Wand hängt. „Wir bekommen alles – Fußball auf Sky, schöne Musiksendungen, Spielfilme und Dokumentationen.“

Mit ‚Dokumentationen‘ tut sie sich schwer, und weil ich ihr behilflich sein will und mich dabei noch ärger als sie verheddere, müssen wir beide lachen.

Aber fernsehen möchte ich jetzt nicht und schüttele wiederum den Kopf. Anna nickt und lächelt, verabschiedet sich und tätschelt meinen guten Arm, bevor sie geht. Hat nicht gemerkt, dass ich mich gerade eingenässt habe. Und aufgefallen ist es mir selbst nur, weil mein guter Oberschenkel die Wärme meldet, die sich in der Vorlage ausbreitet.

Lichtsäulen stürzen durchs Fenster und bilden schimmernde Pfützen neben meinem Bett. Schwebende Staubteilchen steigen auf und ziehen wirre Kreise. Ich beschließe, sie solange zu beobachten, bis sie zu Boden sinken, schaue aber unwillkürlich auf meine Armbanduhr. Sieben Minuten nach sechs. Vor zehn Minuten ist Sonja gegangen, und ich weiß genau, dass sie frühestens am Sonntag wiederkommen wird. Nach dem Mittagessen. und wenn sie den Aufwasch erledigt hat. Nach ihrem Schläfchen, und wenn nichts Richtiges im Fernsehen läuft. Wenn sie eine Freundin nicht gerade zum Kaffee geladen hat. Und nur wenn das Wetter so ist, dass sie nicht im Garten sitzen kann.


Zwölfter Platz : horch!“, Marlene Schulz

Anneliese Brandt hatte damals mit ihm gestritten. Im Lotto hatte er gewonnen. Ein einziges Mal eine größere Summe. Naja, mittelgroß.

Sie hätte es für besser gehalten, wenn er davon nicht schon wieder Lokomotiven für die Spur H0 gekauft hätte. Die lagen jetzt alle in den Schachteln im Schlafzimmer neben seinem Bett, das seit fünfzehn Jahren leer stand.

Sie sah ihn jede Nacht, hörte ihn, wie er zu anderen sprach, sich mit fremden Frauen abgab, Kinder zeugte, manchmal auch vor ihrem Bett stand und sang: Deine Reise ist zu Ende, Anneliese.

– Da ist etwas durcheinander in Ihrem Kopf, Frau Brandt, sagte Ewa.

Das geht bestimmt bald weg.

– Jetzt singt er wieder, horch! Anneliese Brandt hob den Zeigefinger ihrer rechten Hand.

– Ich höre nichts. Niemand singt.

– Da wäre ich ja verrückt, wenn keiner singen würde.

 

Rebecca lief hinunter zum Wasserhäuschen. Jetzt ein Bier. Dieser Tag war einfach zu nervig gewesen.

Bitte mehr als zwei Sätze schreiben, hatte ihre Klasse mit einem vorbereiteten Fragenblatt aufgefordert über den gestrigen Ausflug zu berichten. Dieser Befehlston, hatte eine Schülerin direkt unter die Bitte auf das Papier geschrieben, verletzt meine Gefühle.

Hallo?

Rebecca hatte die Stirn gerunzelt und den angestauten Atem laut ausgestoßen, als sie das am Nachmittag an ihrem Schreibtisch las. Alles, was mehr als dreieinhalb Minuten Arbeit machte, war für manche Schüler Freiheitsberaubung.

Als sich Rebecca damals – inzwischen war das neunzehn Jahre her – für ihren Beruf entschied, träumte sie von den vielen jungen Menschen, die sie auf deren Weg begleiten würde, hier ein Steinchen legen, dort eines als Anregung, gewillt sie zu fördern, diese sich entwickelnden Menschen zu sehen, wie sie wuchsen und blühten, sich erhoben und standhaft blieben … und jetzt kotzte sie jeder Tag an, der sie mit ihnen in Berührung brachte. Sie konnte das Gegacker der Schülerinnen kaum noch ertragen, auch nicht, wenn sie dasaßen, ein Soll die mal machen! in ihren Armen verschränkten.

 

Anneliese Brandt saß in der Küche. Über das Nachthemd hatte sie den Mantel gezogen. Die Zeiger der Uhr standen auf halb drei. Ewa schlief. Draußen war es finster. Sie sangen.

Komm zu uns, Anneliese. Du musst auf unsere Kinder aufpassen. Wenn du nicht kommst, holen wir deine Tochter.

Sie zog die Küchentischschublade auf und suchte zwischen den Tablettenschachteln, den Topfuntersetzern und geglätteten Metzgertüten nach einem Stift. Hinter den Gefrierbeuteln lag ein Kugelschreiber. Sie nahm ihn heraus. Auf dem Notizblock bewegte sie ihn hin und her bis die eingedrückten Linien blau wurden. Dann schrieb sie. Ihre Hand zitterte.

Holt sie nicht. Sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen.

 

Wie hatte das nur passieren können? Ihr?

Rebecca stand am Fenster ihrer Wohnung und schaute zum Messeturm.

Geschworen hatte sie sich: Niemals mit einem Kollegen!

Dem Schwur zu folgen war ihr wirklich nicht schwer gefallen. Aber jetzt, auf einmal, dieses Fest vor zwei Tagen. Die Abiturprüfungen, die schriftlichen, waren vorbei, die ersten Partys hatten begonnen. Dass da auch Lehrer eingeladen wurden, einzelne, war neu. Rebecca hatte es geschmeichelt, dass sie gefragt wurde. Lena und Finn waren über das Wochenende bei ihrem Vater, sonst wäre sie gar nicht hingegangen.

Rebecca schüttelte den Kopf, konnte nicht fassen, wirklich nicht, wollte nicht.

Oder doch? Sie hielt die Hand auf ihren Bauch als sie dieses Fahrstuhlkribbeln wahrnahm, das ihre Gedanken zuwege brachten.

Er war wirklich … unglaublich. Er und … überhaupt: Alles. Ausgerechnet  i h r  war das passiert. Wäre es wenigstens noch ein Kollege gewesen und nicht Leon!

Seine Abiklausur lag auf ihrem Schreibtisch.

 

– Gell, du willst ins Loch fallen?, sagte Anneliese Brandt, saß in Sonntagskleidung und Hausschuhen im Gartenstuhl.

Rebecca war gekommen, ihre Tochter. Sie stand mit Gummistiefeln und Gartenhandschuhen auf dem Dreckhaufen im Hof, der den Gülletank bedeckte, der damals in Gebrauch war, als sie noch die Toilette im Freien benutzen mussten.

Sie mühte sich mit dem Spaten und zwei Eimern. Einen für die ausgegrabenen Wurzeln und überschüssigen Zweige, den anderen für den Rest. Dabei war eher das Grünzeug der Rest.

Rebecca spürte wie sich der Schweiß durch ihre Gesichtshaut presste, an den Brauen vorbei entlang der Schläfen kroch, sich an der Spitze des Kinns sammelte. Sie wischte mit dem Handrücken die Feuchtigkeit vom Hals. Es war Ewas Idee gewesen.

– Wir können das alles hier weg machen und Salat anpflanzen, hatte sie gesagt. Auch Tomaten.

Das alles hier wegmachen, das sich seit Jahrzehnten angesammelt hatte!

Rebecca hatte die Pflegerin ihrer Mutter in die Pause geschickt und gedacht, dass sie dieses kleine Stück in den zwei Stunden gut schaffen würde bis Anneliese Brandt von drinnen rief:

– Ich denke du machst Besuch, wo bist du denn?

Sie hatte die Gartenhandschuhe einfach auf den Boden geworfen, die Gummistiefel vor dem Haus abgestreift, hatte sich dann zu ihrer Mutter gesetzt, über das Wetter gesprochen und das Mittagessen und wieder über das Wetter, das Essen, den Regen der letzten Nacht.

Rebecca hatte ihre Mutter irgendwann nach draußen dirigiert, sie auf einem Gartenstuhl platziert, ihr eine Tasse mit Tee in die Hand gegeben und ein Stück Marmorkuchen, die Stiefel wieder angezogen und die Handschuhe übergestreift.

Der nächste Spatenstich setzte ein altes Zitronennetz frei, das in all den Jahren kein Stück zerfallen war.

Früher hatten sie alles auf diesen Haufen geworfen, einfach unter die Erde gemischt. Plastiktüten, löchrige Putzlappen, Gummiringe, Aluminiumfolie, Nimm 2-Papierchen aus Plastik mit grün gestreiften Enden, Lutscherstiele, Piccoloverschlüsse, sogar Sardinendosen mit aufgerolltem Deckel. Rebeccas Vater mochte am Abend gerne Fisch auf dem Butterbrot.

Ein halbes Jahrhundert hatte der Müll sich unter der Erde gehalten, nur der Efeu war gewachsen. Kein Spatenstich, der einfach so hätte umgegraben werden können. Zentimeterweise zog Rebecca Plastikfetzen aus dem Dreck, auch einen halben Handfeger mit roten Borsten.

– Ich meine, du solltest das lassen. Hat doch die ganze Zeit niemanden gestört. Jetzt auf einmal!, sagte die Mutter, Marmorkuchenbrei in den Mundwinkeln.

– Sei doch froh, dass jemand den Mist hier wegmacht!

Rebecca stach weiter den Spaten in die Müllhalde.

– Froh! Mit bald vierundachtzig, wenn man in Behandlung ist!

Jetzt bekam auch Rebeccas T-Shirt dunkle Flecken vom Schweiß. Ihr kam es vor, als komme sie kaum voran, auch wenn der Mülleimer sich füllte, ihre Mutter weiter protestierte in immer gleichem Ton, der sich wie Efeu am Dreckhaufen festkrallte.

 

Was, wenn er es erzählt?

Rebecca stand am Fenster ihrer Vier-Zimmer-Wohnung, schaute hinunter auf die Hohenstaufenstraße.

Vielleicht nicht herum erzählt, aber es zum Beispiel Philipp sagt. Beste Freunde. Katrin hat auch die Luft angehalten.

Wenn er damit prahlt: Stell‘ dir vor, ich hab‘ mit der Kronauer … Nein, das kann er nicht machen. Sein Abi hängt dran.

Unten standen Büromitarbeiter am Hinterausgang, rauchten. Ein paar Leute hielten das Atelierfrankfurt besetzt, hatten ein Sofa vor das Haus gestellt. Zwei von ihnen spielten Fußball mit einer grünen Schaumstoffkugel.

Vielleicht ist es ihm auch egal.

Mein Job, Verdammt!

Warum hab‘ ich überhaupt das Sektglas genommen, das er mir eingeschenkt hat?

Spanner stand mit weißer Farbe auf schwarzem Stoff. Der Besetzer auf dem Sofa hielt ihn jetzt hoch.

Meint der mich? Viel älter als Leon ist der nicht.

Wie er mich angeschaut hat. Und dann, später, noch ein Glas. Und diese Musik.

Einen Ort zum Tanzen und Denken wollen sie, stand in der Zeitung. Sie sind gegen eine videoüberwachte und monotone Umgebung. Und gegen den Leerstand in der Stadt.

Dagegen bin ich auch.

Außeruniversitäre Diskussionen wollen sie. Und Partys.

Diese Party! Hätte ich nur den Blues ausgeschlagen. Wer weiß, wie viele Leute das schon geliked haben. … Meine Güte, kann der küssen! Dieser Oberkörper … und der Hintern! Unglaublich. … Wie er mit seiner Zunge mein Ohr …

 

Ewa hatte ihre Bettdecke und das Kopfkissen auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt. Ihre Frau lag drei Meter entfernt im Pflegebett.

Auf einmal war es ganz schnell gegangen. Vor zwei Wochen liefen sie noch draußen herum. Den Rollstuhl wollte Frau Brandt keinesfalls nehmen, auch wenn die Beine schmerzten.

– Wir müssen die grüne Wiese suchen, hatte sie gesagt, und sich mit dem Rollator in Bewegung gesetzt.

Ewa hat sogar ein paar Leute gefragt, wo hier die grüne Wiese ist und Frau Brandt immer wieder:

– Die feiern da und wollen, dass ich komme. Einmal kann man doch hingehen. Einmal ist keinmal hat der eine Mann gesungen.

Ewa hat ihn nicht singen hören, aber Frau Brandt hörte ihn die ganze Zeit.

Jetzt atmete sie schwer. Ein schwaches, klagendes Geräusch beim Einziehen der Luft.

Seit drei Tagen verweigerte sie die Nahrung. Der Pflegedienst hat sie an den Topf gehängt, oder wie sie hier sagen.

Ewas Schwester hat angerufen. Zuhause haben sie Angst, dass es in der benachbarten Ukraine einen Krieg gibt. Dritter Weltkrieg hat der Schwager gesagt.

Ewa will hier bleiben. Wenn ihre Frau bald nicht mehr aufwachen wird, muss sie eine andere finden.

Frau Brandt war nach dem Spaziergang zur grünen Wiese, die sie nicht gefunden hatten, abends vom Stuhl gefallen. Ewa war Wäsche aufhängen gewesen. Als sie in die Küche kam, kroch ihre Frau auf allen Vieren unter dem Tisch. Ein paar Krümel vom Boden hatten sich in Frau Brandts Stirn gedrückt. Sie hatte Ewa angesehen, so große Augen.

– Ich muss noch meine Taletten nehmen, hatte sie gesagt. Taletten. Sie wollte sich nicht anfassen lassen.

Die Tochter hat den Krankenwagen gerufen. Nur ein paar Tage musste sie bleiben. Große Tumore im Kopf. Man kann nichts mehr machen. Nur warten.

Einmal im Monat, manchmal öfter, ruft jemand an. Ob Ewa frei sei.

Anneliese Brandt öffnete die Augen. Nur einen Schlitz breit. Ewa befeuchtete die Lippen mit einem nassen Wattestäbchen. Mit dem Hautöl rieb sie die kalten Hände, knetete sie sanft. Es dauerte lange bis sie warm wurden.

 

– Hast du mich nur zum Picheln eingeladen oder gibt es noch etwas Spannendes?

Katrin nahm einen ordentlichen Schluck aus ihrem Sektglas.

– Ich weiß nicht, was ich machen soll, sagte Rebecca.

– Kronauer, Rebecca, einundvierzig Jahre alt, alleinerziehend und plötzlich ratlos. Seit wann das denn? Ach so. Hätte ich fast vergessen: Neuerdings Verhältnis mit einem Schutzbefohlenen.

– Bitte! Er ist bereits volljährig.

– Wie konnte ich nur!

– Kannst du mal ernst sein?

– Klar! Mach’s nicht so spannend!

– Ich hab‘ seine Abiklausur korrigiert.

– Und?

– Nichts!

– Ach deshalb erwähnst du es.

– Katrin. Bitte!

– Okay. Du hast seine Abiklausur durchgesehen und das Ergebnis ist: Nichts. Was heißt das?

– Er hat nichts hinbekommen. Gar nichts!

– Null Punkte in Bio?

– Exakt.

– Und das bei deinem Einfluss?

– Bitte, Katrin. Sag‘ mir lieber, was ich jetzt machen soll.

– Wie, machen?

– Na, das geht doch so nicht.

– Warum nicht?

– Er fällt durchs Abi!

– Und? Wird nicht der Erste sein!

– Katrin! Das ist furchtbar!

– Findest du?

– Ja!

Katrin füllte ihr Sektglas erneut während Rebeccas Füße hin und her wackelten, als würden sie viele Neins auf einmal dirigieren müssen.

– Dann gibt’s nur eins, sagte Katrin.

– Und was?

– Nochmal schreiben lassen!

Rebecca starrte Katrin mit offenem Mund an.

– Wie, nochmal schreiben lassen?

– Ruf ihn an, bestell ihn her, mach Ansage und dann wird alles nochmal geschrieben. Muss ja keine eins werden.

– Bist du wahnsinnig?

Katrin schlug die Beine übereinander, schnappte nach den Crackern.

 

– Du hast echt mit der Kronauer? Philipp trank einen Schluck aus der Bierflasche und schaute auf Conchita Wurst, die im Fernsehen die verwischte Mascara abtupfte und gleichzeitig zu einhundertzwanzig Millionen Zuschauern thank you, thank you sagte und: We are unstoppable. Später würde sie ihre politische Motivation ins Mikrofon sagen, auch von Toleranz in Europa sprechen. Selbst die Russen hatten ihr fünf Punkte gegeben.

Leon nickte.

– Krass! Hat euch jemand gesehen?

– Ich hab‘s aufgenommen.

– Echt jetzt?

– Geht’s noch? Natürlich nicht! Und du hältst auch die Klappe!

– Was wird das mit der?

Im Fernsehen ging es immer noch um die Wurst. Sie sang jetzt ein zweites Mal das gleiche Lied. Leon zuckte mit den Schultern.

– Keine Ahnung.

– Wie alt ist die denn?, fragte Philipp.

Leon schaute auf den Bildschirm.

– Wer jetzt?

– Die Kronauer.

– Becca? Weiß nicht.

– Nennst du sie echt Becca?

– Wie denn sonst? Leon nahm einen Schluck aus der Flasche.

Philipp grinste und zog am Reißverschluss seiner Hose. Auf alten Pferden lernt man reiten, sagte er.

– Arsch!

– Leon zog eine Fahrkarte aus seiner Hosentasche und kramte das in Alufolie gewickelte Gras aus seinem Portemonnaie. Aus der flachen Schachtel, die neben ihm auf dem niedrigen Tisch lag, zog er ein Longpaper.

– War‘s gut?, fragte Philipp. Er schaute Leon zu, wie der die Fahrkarte zu einem Filter rollte.

– Schon.

Jetzt nahm er eine Zigarette, die neben den Papes auf dem Tisch gelegen hatte, bröselte den Tabak auf das dünne Papier und krümelte das Gras darüber.

– Was ist eigentlich so geil an der?

Leon drehte das Paper und verteilte Tabak und Gras so lange, bis es gleichmäßig rund war. Mit der Zunge befeuchtete er die Klebestelle und drückte sie an. Die Spitze der Tüte zwirbelte er mit Daumen und Zeigefinger zusammen. Aus der Hosentasche zog er das Feuerzeug und knipste es an. Die Flamme hielt er direkt unter das spitze Ende und drehte den Joint bis sich das vordere Papier abziehen ließ.

– Die ist schlau, sagte er. Echt schlau.

 

Rebecca war den halben Tag bei ihrer Mutter gewesen. Ewa hatte gekocht und für ihre Frau eine Haferschleimsuppe zubereitet.

Anneliese Brandt schüttelte inzwischen nicht einmal mehr den Kopf, hielt einfach die Lippen geschlossen. Nur beim Atmen öffnete sie bisweilen den Mund für ein leises Aufstöhnen.

Kurz vor der Hessenschau verabschiedete sich Rebecca.

Endlich war Ruhe im Haus.

Ewa stellte den Ohrensessel dichter an den Fernseher und machte den Ton leiser.

Heute berichteten sie von den starken Regenfällen der letzten Nacht und den Kellern voller Wasser. Überall Feuerwehr, auch umgestürzte Bäume. Sie zeigten Bilder von zerstörten Autos und von Männern mit Sägen. Auch Menschen, die nicht in ihre Wohnung zurück konnten. Zuhause hatte es auch Überschwemmungen gegeben. Da hätten sie Ewas Hilfe gut gebrauchen können. Trotzdem war es besser, dass sie blieb. Das Geld konnten sie gut gebrauchen.

Ewa stellte den Fernseher aus und ging zum Fenster. Draußen im Garten bogen sich die Äste des Kirschbaums. So viele Früchte. Ob sie Marmelade kochen sollte?

Für einen Moment hielt sie den Atem an, lauschte.

Sie hörte das Stöhngeräusch ihrer Frau nicht mehr.

 

Das Büfett war fast leer gegessen. Alle Lehrer saßen an der langen Tafel direkt vor der Bühne. Rebecca hatte sich für den diesjährigen Abiball ein neues Kleid gekauft. Vielleicht etwas gewagt um den Ausschnitt.

Leon sah gut aus in diesem grauen Anzug und dem knallweißen T-Shirt darunter.

Rebecca hatte ihrer Tutorengruppe die Zeugnisse auf der Bühne überreicht und jedem eine Rose.

Leon hatte mit den Fingern ihren Handrücken berührt.


Dreizehnter Platz : Friedenstaube“, Nicole Schmidt

Vorschriftgemäß ziehe ich meinen hellblauen Mund- und Nasenschutz von unterm Kinn, wo ich ihn draußen auf den Gängen trage, nach oben und passe ihn mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand genau an die Form meiner Nase an. Gleichzeitig ziehe ich ihn mit spitzen Fingern der rechten Hand nach unten, bis er auch mein Kinn bedeckt. Kein winziges Virentröpfchen soll mehr nach außen dringen können. Ein Blick nach links und rechts, niemand ist auf dem Flur außer Aldanas Mutter natürlich, die spät aufgestanden ist und den Rest des Tages und die halbe Nacht auf der Besucherbank vor ihrem Zimmer mit ihrer Verwandtschaft in Katar telefonieren wird, während wir die kleine Aldana im Zimmer versorgen, die den Großteil der Tage in ihrem Gitterbettchen durchschläft. Sonst sind alle in den Zimmern, natürlich, elf Uhr, Austeilen der Chemos. Auch ich habe das kleine Tablett mit dem großen Doxorubicin-  und dem kleinen NaCl-Beutel nur auf dem Regalbrett vor dem Zimmer abgestellt und greife jetzt danach. Durch das kleine Fenster in der Tür sehe ich, dass auch im Zimmer alles ruhig ist. Ich stemme meine rechte Körperhälfte gegen die Außentür und damit gegen den Druck der Schleuse und betätige dann die Klinke der Innentür. Der schwere Luftzug, der mich nach kurzem Widerstand ins Isolierzimmer einsaugt, ist das einzige Geräusch. Nick schläft, und ich kenne ihn lange genug, um zu wissen, dass er nicht aufwachen wird, wenn ich das Doxorubicin anhänge. Ich stelle das Tablett auf seinem Nachttisch ab. Es ärgert mich, wenn Mütter die Nachttische so mit ihren privaten Dingen voll stellen, dass wir ihn nicht mehr als Arbeitsfläche benutzen können. Kuscheltiere, Bücher, Tablets, Kritzelbilder von den kleineren Geschwistern, sogar gerahmte Familienphotos! Dazu dann alles, womit die ausgemergelten Kinder zum Essen überredet werden sollen: Gummitier-Mischungen in großen durchsichtigen Plastikeimern, Chipstüten, viel abgepackte Salami, Kekspackungen, selbst gebackene Kuchen von der Oma. Doch Nicks Mutter, die ihre Arbeit in einem Blumenladen nach der Krebs-Diagnose nicht aufgeben wollte, kommt nur abends für zwei oder drei Stunden zu Besuch und bringt ihm dann Fast Food mit, Burger und Pommes vom Mc Donald’s an der Autobahnausfahrt, und wirft die leeren Verpackungen draußen in den Mülleimer der Elternküche, bevor sie geht. Mit dem Kuli notiere ich die Uhrzeit auf dem Beutel. Obwohl es jetzt schon elf Uhr vierzehn ist, schläft Nick immer noch oder vielmehr: wieder. Zu den kurzen morgendlichen Untersuchungen, Blutdruck, Wiegen, Hautkontrolle, war er wach, doch sobald Frau Dr. Telfriet sich verabschiedet hatte, ist er wieder eingeschlafen. Und ich weiß auch, woran das liegt: Wenn seine Mutter abends gegangen ist, liegt er noch lange vorm Fernseher wach, das wissen alle hier, und obwohl er erst sechs Jahre alt ist, stört das niemanden, weil er dabei leise ist und zufrieden. Solange nur auf dem Bildschirm oben an der Wand Bewegung ist, ist Nick völlig zufrieden damit, regungslos im Bett zu liegen und alle paar Stunden Blut abgenommen oder angehängt, Therapien und Medikamente angehängt und gespritzt zu bekommen. Nur sehr selten kotzt er, dann spuckt er ätzende Flüssigkeit in eine der kleinen Pappmaché-Schalen, die unten auf seiner Bettdecke bereit liegen, und klingelt nach uns. Wenn wir kommen, um die Schale zu entsorgen, ist er meist schon wieder in das Geschehen auf dem Bildschirm vertieft. „Brauchst du Paspertin—Tropfen, Nick? Sollen wir den Anti-Emese-Perfusor noch mal hochstellen?“ Nick sagt immer und zu allem ja. Seine einzige Bedingung: dass er zum Pinkeln bei der vielen Flüssigkeit, die wir ihm jeden Tag geben, nicht mehr extra aufstehen muss. Obwohl er das durchaus könnte. Seine Beine sind frei von Tumoren und Metastasen; Muskelatrophie ist sein einziges Problem. Doch die Mutter hat ausdrücklich darauf bestanden, dass ihr Sohn „jetzt nicht auch noch“ an einer täglichen oder wöchentlichen Physiotherapiestunde teilnimmt. „Das kommt doch hinterher alles wieder, er war doch immer sportlich.“ habe ich sie sagen hören, und sie konnte tatsächlich durchsetzen, dass Nick am Fußende seines Bettes an den Metallstäben eine ganze Reihe von Flaschen für seine Pisse hängen hat, als ob er querschnittsgelähmt wäre. Und die anderen Schwestern sind zufrieden, weil er dafür nicht mehr klingelt, weil niemand mehr Handschuhe und Mundschutz anziehen, in sein Zimmer rennen, ihn beim Gehen unterstützen,  seine Bettpfannen öffnen, wiegen, zum Desinfizieren in die Desi tragen, gegen neue Bettpfannen austauschen muss. Die vollen Flaschen am Bettende können wir mitnehmen, wenn wir ohnehin schon da sind, weil Zeit für Medikamente ist. Ja, alle sind zufrieden mit Nick. Alles klappt wie vorgesehen: Er verträgt die Therapie gut und nimmt widerstandslos auch alle oralen Medikationen, die wir ihm bringen, solange wir ihn dabei möglichst nicht ansprechen und ihm die Tabletten und das Wasserglas so hinhalten, dass er nur kurz den Blick vom Bildschirm abwenden muss und nichts von dem verpasst, was Bob der Baumeister, Feuerwehrmann Sam, Sponge Bob und all die anderen Helden sagen und tun.

  Die Vergiftung durch die Zytostatika verläuft wie im Lehrbuch und wie wir es bei der Prüfung beschreiben können mussten: Die Erythrozyten-Anzahl bewegt sich nur noch direkt nach Bluttransfusionen im Normbereich. Die Produktion der Thrombozyten ist schon soweit gehemmt worden, dass das Blut nach einem kleinen Fingerpieks noch eine halbe Stunde weiter läuft, weil sich die Wunde nicht mehr schneller schließen kann. An vielen Stellen seines Körpers schuppt sich die trockene, rissige Haut; es entstehen Rötungen, kleine Entzündungen. Nicks Lippen sind grundsätzlich entzündet. Aus jeder kleinen Druckstelle von EKG-Kabeln oder Blutdruckmanschetten werden auf seiner Haut blaue Flecken. Die Extremitäten sind trotz der auf 23 Grad gestellten Klimaanlage im Zimmer immer eiskalt, und durch die dünne, blasse Haut schimmern die Adern bläulich durch. Wie bei allen Kindern hier sieht Nicks Gesicht mehr weiß als hautfarben aus, weil der Eisenwert so niedrig ist. Nur manchmal, wie jetzt, wenn er schläft, gelblich wie Gardinen in Raucherhaushalten gegen das Weiß des Kopfkissens, das ich ihm heute morgen extra frisch bezogen habe. Ich bin eine Friedenstaube mit Herz.

  Nick wird von Tag zu Tag, von Woche zu Woche schwächer, und genau das ist der Plan der Ärzte. Den Krebs zerstören, die Tumoren zerstören, heißt: das Immunsystem zerstören. Kampf. Krieg. Das restliche Gesunde, Eigene dieses Kinderkörpers zerstören. Nick zerstören, damit auch der Krebs mit kaputtgeht. Und dann Nick wieder aufbauen. Das ist das Ziel. Nur dass ich jetzt schon so viele Male gesehen habe, wie der Tumor überlebt und wir alles andere so kaputt gemacht haben, dass es sich überhaupt nicht mehr wehren kann.

   Niemals würde ich mein Kind diesem Horror aussetzen, wenn ich eines hätte. Monatelang ans Bett gefesselt, das Herz durch den Venenkatheter direkt mit der Giftquelle verbunden, ausgeliefert, schutzlos. Opfer eines Kriegs, der so häufig nicht gewonnen werden kann, Opfer des medizinischen Ziels, alles kaputt zu machen. Zellen zu zerschlagen. Gesunde Prozesse zu verhindern. Körpersysteme zu schwächen. Wachstumsprozesse zu verhindern. Armeen aus Giftmolekülen durch die Blutbahnen ausschwirren zu lassen wie körperlose Drohnen, die darauf programmiert sind, alles zu töten, alles zu zerstören, was ihnen begegnet. Kampfschauplatz Kind.   

   Nein, nicht mit mir. Bevor ich auf diese Station gekommen bin, in der Orthopädie und dann später in der Chirurgie, wo es immer darum ging, zu reparieren, nicht darum, kaputt zu machen, da war es nur ein abstraktes Wissen aus dem Seminar „Rechtliche Grundlagen“ an der Pflegeschule: In Deutschland wird das Sorgerecht entzogen, wenn Eltern sich gegen die Therapie wehren und nicht in die Kriegserklärung an den Krebs einwilligen. Das in unserem Land gültige Gesetz: Der Krebs am Kind, auf dem Kind, in dem Kind, der Krebs in Gestalt des Kindes muss immer bekämpft werden, ob Kind und Mutter das nun wollen oder nicht. Die Wahl des Friedens, der weißen Fahne gibt es nicht. Die Wahl der natürlichen Vorgänge.

  Und ich sehe, wie Nick schwächer wird. Beobachte, dass er seit einigen Wochen auch im Bett liegen bleibt, wenn am Sonntag seine Oma zu Besuch kommt. Dass er die Tabletts mit den Mahlzeiten, die wir ihm ins Zimmer tragen, auf dem Nachttisch stehen und dann wortlos wieder von uns abtragen lässt, ohne auch nur den Deckel vom Teller gehoben zu haben. Dass er außer den abendlichen Pommes von Mc Donald’s – seit Donnerstag auch keine Burger mehr – nichts mehr zu sich nimmt. Ich notiere im Kopf, dass wir die letzten sechs Pflicht-Stuhlgänge, die für spätestens jeden dritten Kalendertag vorgeschrieben sind, mit einem Einlauf einleiten mussten, weil auch Milchzucker und Bifiterol längst nichts mehr helfen.  Winzige, harte Knöllchen in einer kleinen schwarzbraunen Pfütze, mehr kommt da nicht mehr. Hasenknöllchen. Hasenherz.

  Der letzte Herz-Echo-Befund zeigt schon deutliche Einschränkungen nach vier Blöcken Doxorubicin/Cyclophosphat. Es braucht gar nicht eine höhere Dosis, eine größere Menge als die errechneten 44 mg. Ohnehin werden die Chemo-Beutel schon fertig abgemessen und gemischt aus der Klinik-Apotheke zu uns hoch gebracht, und obwohl wir natürlich die blauen Handschuhe tragen müssen, die ich jetzt vom Tablett nehme und mir langsam und sorgfältig überstreife, kommen wir Schwestern auf Station schon lange nicht mehr selbst mit den Giften in Berührung. Nein, das Gift reicht auch in der veranschlagten Menge völlig aus, um Nick so einiges zu ersparen, von dem er und seine viel zu unbekümmerte Mutter noch gar keine Ahnung haben und von dem ich längst weiß: immer häufigere und kompliziertere bakterielle Infektionen mit langen Antibiotika-Behandlungen, bei gleich bleibend rascher Gewichtsabnahme sehr bald schon die künstliche Ernährung, dann in der erzwungenen Therapiepause die ersten Lungen-Metastasen, später sogar an der verbliebenen Niere selbst ein neuer Tumor. Wie bei Katrina und den Anderen.

  Hickman-Katheter-Infektionen, neue Therapie, alles immer schwerer, immer schwächer, immer kaputter, immer mehr Therapie, immer mehr Kombinationen von Medikamenten, immer mehr Nebenwirkungen, immer mehr von dem, was Nick zerstört und damit den Krebs. Bis beide tot sind, Nick und der Krebs.

  Nein, das macht keinen Sinn. Und wenn überall doppelte und dreifache Sicherungen sind, wenn ich mir den Chemo-Beutel auch noch schnell vorm Schwestern-Stützpunkt von Ursula gegenzeichnen lassen musste, so kontrolliert doch niemand die Laufrate, und auch bei Halissa damals, als mir kurz nach ihrer Erlösung ganz heiß wurde bei dem Gedanken, dass der Computer am Infusionsständer ja vielleicht nachkontrolliert werden könnte, hat niemand auch nur Verdacht geschöpft. In der Zwischenzeit habe ich mir die kleinen Computer, in die wir die Spritzen einlegen, in einer stillen Nachtschicht noch einmal genau angesehen und glaube gar nicht, dass die Werte darin irgendwie gespeichert werden. Solange in den kommenden sechs Stunden niemand das Zimmer betritt – und warum sollte das jemand tun, es ist heute ja mein Zimmer, mein Patient – , wird niemals jemand herausfinden können, dass die 44 mg nicht in den angesetzten sechs Stunden, sondern mit der vierundzwanzigfachen Laufrate in fünfzehn Minuten eingelaufen sind – zumindest neunzig Prozent davon. Den Rest der Lösung lasse ich dann noch superlangsam nachtröpfeln, damit es erst nach sechs Stunden den Leerer-Beutel-Alarm vorne im Schwesternzimmer gibt. Für den hätte ich gerne Zeugen, eine Vorsichtsmaßnahme. Dann hat es Nicks Herz wahrscheinlich schon ausgeknipst, doch das brauche ich ja gar nicht zu bemerken, wenn ich die Nachspülung anhänge. Denn ich bin es, die heute auch nach der Übergabe zuständig ist, weil ich netterweise mit Karen die Schicht getauscht habe, die heute mit ihrem Sohn zum Zahnarzt muss und dafür nächste Woche zwei Schichten hintereinander macht.

  Und nein, wie bei Halissa werde ich natürlich nichts dagegen haben, dass der leere Chemo-Beutel mit der Unterschrift von Schwester Ursula auf dem weißen Aufkleberchen unter großen handschuhblauen Vorsichtsmaßnahmen aus dem Mülleimer geholt und untersucht wird. Meine Fingerabdrücke werden wieder darauf zu finden sein, denn ich habe den Beutel ja noch ohne Handschuhe vom Tablett genommen. Auch sonst wird alles erwartungsgemäß sein, meine Fingerabdrücke überall auf dem Ständer, die fertigen Beutel mit der Nachspülung und das ebenfalls schon vorbereitete Cyclo für danach auf dem Tablett. Der Blasenschutz in der Spritze daneben auch schon bereit für ein Kind, das keinen Blasenschutz mehr brauchen wird. Der kleine Nick gut versorgt. Und kein Mensch wird nach der Laufrate fragen und je herausfinden können, ob und wie sie verändert wurde.

  Kein Mensch wird jemals herausfinden können, woran es liegt, dass in dieser Stadt, in dieser Klinik weniger Kinder leiden müssen als woanders. Dass hier weniger sinnlose Kämpfe geführt, weniger längst verlorene Kriege für Pharmafirmen weitergeführt werden. Dass hier weniger von den kleinen Kindern kaputt gemacht wird, bevor sie sterben dürfen.


Vierzehnter Platz : Die Zeit zwischen den Molekülen“, Stephan Phin Spielhoff

Ist es sein bestes Hemd? Was sind die Maßstäbe? Farbe, Muster, Schnitt. Jeans, Jackett, Sneaker. Business casual. Omega Uhr. Aus dem Nachlass vom Vater gefischt. Tragetasche an der Schulter. Fahrstuhl. 5 Gespräche, 5 Absagen. Es ist nicht die Wirtschaftslage, Charlie ist nicht der richtige Angestellte. Etwas in der Art, wie er die Haare trägt und es nicht ernst meint, wenn er sagt: „In fünf Jahren sehe ich mich als ein Teamleader.“

Es fing alles damit an, dass er nicht mehr pünktlich sein konnte. Minuten verschwanden, als wären sie gelöscht. Als hätte Zeit eine andere Substanz, die es schwieriger macht, an der richtigen Station die Bahn zu verlassen, gallertartig, sodass er langsamer laufen musste. Es war sauschwierig, eine Dusche zu nehmen und es kostete ihn viel Überwindung, einen Apfel zu essen oder ein Toast. Er kam immer öfter zu spät, bis er gar nicht mehr kam. Er bekam eine Mail mit seiner Kündigung. Sie haben auch geschrieben, dass seine Einstellung „zu wünschen übrig ließ.“ Das Joghurt im Office-Kühlschrank, die Hustenbonbons in der Schreibtischschublade, die Kollegen. Nichts war es wert, noch einmal ins Büro zu fahren. Es war Charlie recht, er blieb im Bett, schlief immer wieder ein und träumte von grausamen Pflanzen, die auf seinen Händen und Füßen wuchsen. Es dauerte eine Weile, bis Paul merkte, dass er sich nicht meldete.

Es ist sieben Wochen her. Paul hat erzählt: „Als sie mir gekündigt haben, bin ich noch ein paar Mal am Morgen in die U-Bahn gestiegen. Es war schlimmer, den Alltag zu verlieren, als den Job.“ Paul ist ein Bürokrat, hatte sich Charlie gedacht. Er fand es unerträglich, ihm ins Gesicht zu sehen, aber er trank sein Bier noch aus. Er steigt aus dem Fahrstuhl. Der Chef besteht sofort darauf, dass er ihn Franz nennt. Sie kreuzen durch das Büro. Der Interviewraum ist fast kahl. Nur eine Collage mit allen Sehenswürdigkeiten von Berlin hängt an der Wand. Kaffee steht in einer Thermoskanne bereit. Charlie trinkt ihn schwarz. Sie reden in etablierten Vokabeln wie: Anforderungen, Urlaubstage und Überstunden.

Charlie spürte die substanzielle Veränderung der Zeit immer stärker. Es war nicht nur schwieriger geworden, die Wäsche aufzuhängen, überall waren Blockaden, plötzliche Luftveränderungen, sodass es kein Durchkommen gab. Er konnte den Gang mit Keksen im Supermarkt so langen nicht verlassen, bis er anfing zu weinen. Als er versuchte, mit Hugo darüber zu sprechen, sagte der nur: „Ich hab echt keine Lust auf Stress, meld dich, wenn es dir besser geht“. Seitdem hat Charlie Grindr gelöscht. Er konnte mit den Alternativen nicht mehr umgehen, ohne davon Kopfschmerzen zu bekommen. Franz erzählt, dass Verantwortung wichtig ist und fragt, ob Charlie Familie hat.

„Nein, mein Freund hat kürzlich mit mir Schluss gemacht“, sagt er, ohne nachzudenken.

„Aha“, sagt Franz und es ist klar, dass ihm das nicht ganz geheuer ist.

Seine Mutter hat gesagt, er soll sich wegen seiner Depression behandeln lassen. „Es ist keine Depression Mama“, hat Charlie dann irgendwann geschrien und das Telefon an die Wand geworfen. Es fühlt sich nicht an wie ein chemisches Ungleichgewicht, sondern wie ein neues Naturgesetz, das nur für ihn gilt und für niemanden sonst. Wenn er seine Mutter anrufen will, zwingt es ihn, stattdessen an den Nägeln zu kauen und den Fernseher anzuschalten. Der Fernseher läuft oft, denn wo die Zeit sich löscht, addiert sie sich wann anders. Es sind 47 Kanäle und die Tage sind lang. Sie ruft auch nicht zurück. Charlie schweigt bis Franz sagt: „Das ist jetzt kein Problem.“

„OK“, antwortet Charlie und lässt ein Lachen raus. Zähne zeigen schmerzt ein wenig, als würde er die Hand dicht über eine Flamme halten. Gleich zieht er weg.

„Ich meine, ja, mein Sohn hat sich erst vor zwei Wochen bei mir geoutet.“ Charlie nickt, als wüsste er was läuft.

Seine Mutter hat ihn mit Torben erwischt, dann war das klar. Sie hat nur mit den Schultern gezuckt. Sie hat Torben immer wieder zum Essen eingeladen, das war ihnen unangenehm. Sie haben sich nicht richtig geliebt.

„Das hier ist ein sehr offenes Betriebsklima. Petra ist Veganerin.“

„Wie heißt’n ihr Sohn?“ will Charlie wissen.

„Das ist der Joseph. Siebzehn“, sagt Franz so, als freut er sich. Er erzählt mehr. „Er hat sich angestellt, als er es uns gesagt hat, ein bisschen gestockt, eigentlich ist er tüchtig. Wir sind dann zum Brunch ins Nolas gefahren. Um es zu feiern.“

„Das ist nett da“, sagt Charlie, der nie da gewesen ist. Franz lächelt und faltet die Hände. Mit Christoph hat er hinter der Schule die alten Neonröhren zerschmissen. Das war irgendwie ernst, bis es vorbei war.

Er wohnt jetzt in München und hat sich eine Wohnung gekauft. Charlie hat ihm kürzlich eine Nachricht geschrieben. Christoph hat gesagt, dass er bald heiratet. Das wusste Charlie schon von Facebook. Der Verlobte sieht aus, als könnte er in einer Vorabendserie mitspielen.

„Das ist für mich und meine Frau natürlich eine neue Situation aber wir werden das regeln“, sagt Franz.

„Das glaube ich“, sagt Charlie. Er hat sich bei Christoph nicht wieder gemeldet. Er greift nach einem Keks, es fühlt sich normal an. Wie etwas, das er in einem Magazin lesen kann. Wie etwas, das jemand tut, der nicht er ist. Sich einen Job suchen. Er fühlt sich abgehängt. Jeden Tag gehen die anderen einen Schritt weiter, während er nicht mehr kann. Ist die Tatsache, dass er hier ist, nicht schon der Beweis, dass es ihm besser geht? Dass er nach den Regeln der anderen spielt? Dass er sich wieder auf etwas einlassen kann? Er merkt, wie der Druck in seiner Brust steigt und er weinen will. Andere denken, Dunkelheit hat was mit Nacht zu tun, aber es ist die Art, wie Zeit springt oder zum Erliegen kommt.

Franz erzählt vom Frankreich Urlaub. Charlie macht eine Faust unterm Tisch und sagt, dass er im letzten Jahr mit seinem Freund auf Korsika war. Er fragt sich, wie er sich sein Lächeln leisten kann. Franz schaut betroffen und will wissen, ob es der ist, der gerade mit ihm Schluss gemacht hat. Der war es nicht, aber Charlie sagt ja. Franz bläst die Backen auf. „Ich habe jetzt schon sieben Leute interviewt, aber so ist das noch nie gelaufen.“ Charlie hält das für eine Drohung. Franz will ihm eine Chance geben. „Weil ich ja auch will, dass man Joseph eine Chance gibt“, erklärt er. Charlie wird übel und er versteht nicht ganz, dass er den Job hat.

„Eigentlich kommt es viel mehr auf die Sympathie an, das sage ich dir jetzt mal zwischen uns, als auf die Erfahrung. Wir erfinden hier das Rad ja nicht neu.“

„Vielen Dank, Franz“, sagt Charlie und trinkt den letzten Schluck schwarzen Kaffee. Bevor er losgegangen ist, stand er vor der Spülmaschine. Er war der Vorstellung sie auszuräumen nicht gewachsen. Maschine aufmachen, Teller raus, Besteck in die dafür vorgesehenen Kompartimente in der Küchenschublade packen. Klang nicht nach ihm.

Franz stellt Charlie den Angestellten vor, er gibt allen die Hand und nickt, wenn sie ihre Namen sagen. Petra fehlt, die ist bei ihrem Bruder in Marokko. Er sieht sich noch die Büroküche an und sagt, dass er jetzt ja alles gesehen hat. „Ich muss die neuen Eindrücke verarbeiten.“ Ist klar. Franz wirkt viel glücklicher als er und klopft ihm auf die Schulter. Da ist schon ziemlich gut, dass Charlie nicht zusammenschreckt oder zurückschlägt. Franz bringt ihn zur Tür.

„Wir sehen uns dann Montag“, sagt Franz. Charlie winkt und antwortet nicht: „Mal sehen“, obwohl ihm danach ist.

Er war beim Interview so fröhlich, so fröhlich war er lang nicht mehr. Aber das war auch nicht echt. Eher so, als würde er genau das tun, was jemand von einem erwartet, der einen Job sucht. Kein Mensch, nur eine statistische Größe in einer Bilanz, die nur drei Leute wirklich lesen.

Charlie fühlt sich unwohl und will nicht in die Bahn steigen. Er rechnet und denkt, dass er in einer Stunde nach Hause laufen kann.

Nach zwei Stunden ist er erst am Kotti. Weil er die ganze Zeit „The National“ gehört hat, ist sein Akku bei sieben Prozent. Er kauft sich am Büdchen einen Schnaps und steckt die Flasche nach einem Schluck in die Innentasche vom Jackett. Er fragt sich, ob er sich bei Paul melden soll, weil der bestimmt nichts vorhat. Oder bei Hugo, um ihm zu sagen, dass es ihm besser geht. Er hat wieder einen Job. Dass das nichts ändert muss ja keiner wissen. Er kann ja so tun als ob, weil sich auch keiner für den Unterschied interessiert.

Er hat sich auf eine Wiese am Kanal gesetzt. Ein Gruppe Jugendliche trinkt in einiger Entfernung Bier. Sie werfen die leeren Flaschen ins Wasser. Charlie hört sie lachen und es riecht nach Gras. Er nimmt einen Schluck Schnaps und legt den Kopf auf den Boden. Wasser rauscht, er hört Vogel singen und er schläft ein.

 

Ein fliegender Händler hat eine Lichterkette um sein Fahrrad gebunden. Das sieht Charlie zu erst. Er richtet sich auf. Er bemerkt, dass jemand ihm die Tasche und den Schnaps geklaut hat. Es ist spürbar kälter geworden und die Kids mit Bier und Gras sind verschwunden. Er hat keinen Schlüssel mehr und sein Geld ist auch weg. Charlie findet es gar nicht so schlimm und weint. Früher konnte er damit aufhören. Eine ganz schmale Hand legt sich ihm auf die Schultern und ein Mädchen fragt, im schlechten Englisch mit viel Französisch, ob bei ihm alles gut ist. Er dreht sich um und nickt heftig. „Everything is fine.“

Claudette überzeugt ihn, dass er zur Polizei gehen muss. Sie sitzen zusammen in dem hellen Warteraum und eine Beamtin betrachtet sie durch eine Sicherheitsglasscheibe, ohne sich eine Meinung zu bilden. Auf der Amtsstube hält Claudette ihm die Hand und der Polizist will wissen, ob er getrunken hat oder Medikamente nimmt. An der Wand hängt wieder eine Collage von Berlin. Charlie merkt, dass der Polizist es nicht OK findet, am Kanal einzuschlafen, aber er sagt nicht: „Das ist jetzt eigentlich auch Ihre Schuld.“

Claudette hat ein bisschen MDMA von letzter Nacht dabei. Sie teilen es sich vor der Wache und sie verspricht, ihm Geld auszulegen. 30 Euro, die sie ihm in die Hand drückt, nachdem sie am Automaten waren. Sie fahren nach Mitte rein, wo Wolfgang auf sie wartet, den Charlie von Partys kennt. Sie haben noch nie ein Wort miteinander gesprochen. Charlie ist froh, dass er einen Freund trifft.

„Chic siehst du aus“, sagt Wolfgang, obwohl Charlies Outfit inzwischen verknittert ist und auch ein bisschen dreckig. Sie essen rotes Curry bei einem Monsieur Vuong und trinken asiatisches Bier. Claudette will, dass sich Wolfgang und Charlie später küssen und Wolfgang findet das gut. Charlie sagt OK. Sie nehmen ihn mit zu einer WG-Party am Arkonaplatz. Die Badewanne ist voll mit Bier, Eis und Etiketten. Das Wohnzimmer wird hauptsächlich von einem Aquarium beleuchtet. Im Wasser schwimmen Antennenwelse und Goldfische, die nichts voneinander wissen wollen.

In der Küche macht sich jemand sehr viel Mühe damit, Whiskey Sours richtig zu mischen. Er hat sogar Cocktailkirschen dabei. Charlie nimmt Wolfgangs Hand und küsst ihn auf der Dachterrasse. „Hast du einen Freund“, fragt Charlie.

Wolfgang kennt „The National“ nicht. Sie teilen sich die Kopfhörer und eine Zigarette. Claudette hat einen Dealer kennengelernt. Er ist untersetzt und sagt, dass er in einer Woche in den Iran zurückreist. Davor gibt er ihnen allen ein bisschen was. „Geht auf’s Haus“, sagt er und Wolfgang antwortet: „Peace Out“.

Sie schließen sich zusammen im Bad ein und sitzen auf dem Rand der Wanne. Charlie fischt nach einem Staropramenetikett, das er sich auf den Arm klebt.

„Wenn du müde bist, kannst du auch echt bei mir schlafen. Das ist nicht weit“, sagt Wolfgang und Charlie findet es nett. 

Sie tanzen im Wohnzimmer zu Popmusik, bis einer sein Whiskey Sour Glas gegen das Aquarium wirft. Es splittert und das Wasser ist wie eine Flut mit Cocktailkirsche. Der Gastgeber fängt an zu schreien. Claudette lacht bis zur U-Bahn-Station. Der Dealer schlingt den Arm um ihre Hüfte. Er hat nichts dagegen, wenn Wolfgang und Charlie sich küssen. Er weiß aber nicht, ob Schwule im Iran wirklich umgebracht werden. „Das kann auch Propaganda sein.“ Charlie fühlt sich nicht mehr zum Heulen, sondern irgendwie gut und glänzend. Alles ist austauschbar wie Glühbirnen. Wolfgang lässt seine Hand nicht los. Sie beschließen, noch was am Büdchen zu kaufen. Auf dem Hügel im Park ist das Nolas. „Ich hab Franz erzählt, dass ich da schon einmal war. Jetzt habe ich einen neuen Job“, sagt Charlie und sie johlen wie Wölfe.

Er und Wolfgang kriegen noch drei Pillen, als sie gehen. „Ruf mich an“, ruft Claudette ihnen nach. Sie meint wohl Wolfgang, weil Charlie ihre Nummer nicht kennt. Bei Wolfgang zu Hause müssen sie leise sein, weil der Mitbewohner Frühdienst hat. Sie ziehen sich bis auf die Shorts aus und legen sich ins Bett.

„Ich hab heute neu bezogen.“

„Riecht gut.“ Sie küssen sich, aber Wolfgang kriegt keinen hoch und schläft ein. Charlie kann sich nicht konzentrieren. Er muss sich anstrengen, damit die Zeit zwischen seinen Molekülen nicht zu groß wird und auseinanderfällt. Er schiebt Wolfgang von sich weg und sucht in der Tasche nach der letzten Pille. Er zerkleinert sie und zieht sie durch die Nase. Er fährt im Dunkeln mit dem Finger über die Buchrücken im Regal. Der Vorhang ist nicht zu. Charlie schaut durchs Fenster auf den Innenhof, der nicht beleuchtet ist. Die Uhr am Armgelenk tickt leise. Als täte sie’s immer auf die gleiche Art. Warum haben sie die nicht mitgenommen? Alles andere ist verschwunden. 


Fünfzehnter Platz : Valentin“, Aimee de Bruyn

Der Junge lehnt an der Fassade eines Reihenhauses; sie ist grau und fühlt sich durch seine Jacke hindurch feucht an. Die Fenster in dem Haus gegenüber sind mit Pappe und Zeitungspapier verklebt. Es kann sein, dass dahinter Leute wohnen – die Gegend unterscheidet sich kaum von der, in der der Junge groß geworden ist.

Er schaut die Straße hinunter. Eigentlich hat er sich vorgenommen, nicht an Marie zu denken, aber jetzt fragt er sich, ob sie vielleicht nicht kommt. Das wäre gut: Er hätte dann einen Grund, nicht mehr mit ihr zu reden. Marie ist neu; manchmal setzt sie sich neben ihn. Zum Glück sagt sie nicht viel, der Junge wüsste nicht, wie er sich mit ihr unterhalten soll. Wenn es geht, hält er den ganzen Tag den Mund. Nur für Val macht er eine Ausnahme.

Was will Marie von mir?

Val hat gegrinst, als der Junge ihn das gefragt hat.

Der Junge zieht die Schultern hoch. Im Grunde weiß er, was Marie denkt. An ihrem ersten Tag im Gemeinschaftsraum ist ihr ängstlicher Blick an ihm hängengeblieben. Er ist ein bisschen tiefer in seinen Sessel gerutscht, aber da war es schon zu spät. Jetzt hat er keine Ahnung, wie er ihr sagen soll, dass sie sich irrt. Alle scheinen zu glauben, dass Marie zu ihm passt. Der Junge hat sie reden hören.

Ey, guck dir die an. Eine Alte für Mad Max.

Das hat er Val nicht erzählt. Er hat gesagt: Sie denkt, wir sind uns ähnlich. Jetzt will sie mit mir in die Stadt. Er hat gehofft, dass Val ihm helfen würde. Stattdessen hat Val gesagt: Woher weißt du, dass sie nicht Recht hat? Marie ist okay. Bloß einsam, glaub ich.

Der Junge mag Val. Er mag alles an ihm: die weiten Jeans, die ihm auf den Hüftknochen sitzen; die Rastas; dass Val erst dreiundzwanzig ist. Aber er hat verstanden, was Val nicht gesagt hat: Einsam wie du. Es gefällt ihm nicht, dass Val so tut, als wäre er sein Betreuer und nicht sein Freund.

„Hey.“

Der Junge fährt zusammen. Marie steht neben ihm, sie sieht erschrocken aus. Also hat sie gemerkt, wie sehr sie ihn überrascht hat. Der Junge fühlt sich ertappt, so als hätte sie sein Gespräch mit Val belauscht.

Marie flüstert: „Oh … Das wollte ich nicht …“

Sie spricht immer so leise.

„Macht nichts.“ Das stimmt nicht, aber der Junge will auf keinen Fall, dass sie sich noch einmal entschuldigt, dass er mit ihr vor dem grauen Haus stehenbleiben und reden muss. Er stößt sich von der Hauswand ab. Marie geht ihm nach, erst auf dem Bürgersteig kommt sie an seine Seite. Der Junge schiebt die Hände in die Taschen, Marie guckt auf die Pflastersteine. Sie hat ein Kleid an. Das beunruhigt ihn, er hat sie noch nie im Kleid gesehen. Natürlich ist es schwarz. Eine Frau, die zwei Plastiktüten trägt, kommt ihnen entgegen; sie starrt Marie und den Jungen an.

Der Junge tritt gegen eine leere Coladose. „Warum wolltest du mich hier treffen?“ fragt er.

Marie lächelt zu ihm hoch. Vielleicht hat sie die Frau nicht gesehen.

„Es ist der kürzeste Weg“, sagt sie. „Nicht hübsch …“ Sie stockt. Der Junge weiß nicht, was er dazu sagen soll. Die Straßen sind schmal, der Asphalt ist rissig und die Häuser wirken, als wären sie ein Stück in sich zusammengesunken. Verrostete Autos parken auf den Auffahrten.

„Macht nichts“, sagt er noch einmal und kommt sich blöd vor. Aber Marie lächelt.

„Hast du dir die Haare selbst gefärbt?“ fragt sie plötzlich. Der Junge braucht einen Moment, um ihrem Gedankensprung zu folgen. Dann fühlt er sich wieder unwohl. Er mag mit ihr nicht über seine Haare sprechen.

„Ich will auch…“, fängt sie an und da antwortet er ihr doch. Es ist leicht, Marie zu unterbrechen, ihre Stimme verliert sich in seiner. Er will lieber nicht hören, dass sie etwas genauso machen möchte wie er.

„Val hat mir geholfen.“

Val hat gelacht, als der Junge mit der Packung aus der Drogerie zu ihm gekommen ist. Schwarz? hat er gefragt. Echt? Als der Junge genickt hat, hat Val gesagt: Mein Freund Maximilian, Schatten in der Nacht!

Val nennt den Jungen niemals Max. Das gehört zu dem Geheimnis, das sie miteinander haben.

Maries Gesicht hat sich verschlossen. Der Junge überlegt, woran das liegen könnte, vielleicht hätte er ihr doch nicht so ins Wort fallen sollen? Dann begreift er, dass sie für Val nichts übrig hat, und am liebsten möchte er wieder gegen etwas treten. Er weiß nicht, was er hier macht, er will nicht in die Stadt mit Marie, er will gar nichts mit ihr zu tun haben. Er wird ihr nur noch sagen, dass sie alles falsch verstanden hat, und dann zurückgehen. Vielleicht ist Val da.

„Er sagt, er hat auf der Straße gelebt“, sagt Marie. Sie klingt nicht nur so, als würde sie Val nicht glauben, sie klingt verletzt.

Der Junge vergisst, was er sagen wollte. Er nickt. „Er ist von zu Hause abgehauen.“ Dafür bewundert er Val.

Marie bleibt stehen. Der Junge schaut sie an, die Hände immer noch in den Taschen. Sie ist wütend. Plötzlich kommt ihm der Gedanke, dass jemand sie hübsch finden könnte, einer aus dem Jungenhaus oder sogar Val. Verlegen guckt er zur Seite.

Marie sagt: „Val ist ein Lügner.“

Da erinnert der Junge sich daran, wie er Val kennengelernt hat. Er hat dasselbe gedacht wie Marie.

„Ich verrat dir was“, sagt er, „aber du musst es für dich behalten.“

Marie nickt langsam. „Versprochen.“

Es hat dem Jungen immer gefallen, dass er der einzige ist, der Vals Geheimnis kennt; er wundert sich darüber, dass er es ihr erzählen möchte.

„Es ist, weil er Valentin heißt.“

„Ja“, sagt Marie. „Meine Mutter heißt Marie. Wie ihre Mutter. Und deren Mutter auch. So geht es weiter, glaube ich.“

Der Junge sagt, ganz schnell, weil er nicht sicher ist, ob er es sagen will: „Gegenüber von unserem Haus war ein Bistro. Man konnte es vom Stubenfenster aus sehen. Es hatte so eine grüne Leuchtschrift über der Tür … Max’ Snacks.“

Er hält inne, erschrocken. Das hat er noch niemandem gesagt, bloß Val. Jetzt weiß Marie es auch. Er wirft ihr einen vorsichtigen Blick zu.

„So nennt man Kinder, die man nicht will“, sagt sie. Sie hat müde Augen. „Wie die Mutter und die Mutter und die Mutter. Oder wie das Bistro gegenüber. Aber man nennt sie nicht Valentin. Wenn man ein Kind Valentin nennt, behält man es.“

Der Junge schluckt. Seine Kehle ist trocken; es ist schwer, weiterzureden. Aber Marie versteht, was er gesagt hat, und er denkt, dass sie den Rest auch noch hören soll.

„Vals Eltern haben ihn nicht gewollt“, erklärt er, „und sie haben ihn nicht Valentin genannt. Er hat sich den Namen selbst gegeben.“

Marie lacht. Der Junge schaut sie an, dann lacht er auch ein bisschen. Sie streckt ihm die Hand hin und als er zögernd danach greift, zieht sie ihn mit sich. Sie verschränkt ihre Finger mit seinen. Der Junge weiß nicht genau, was er davon hält, aber weil sie über Max‘ Snacks und Marie-Marie-Marie geredet haben, scheint es in Ordnung zu sein.

Es ist nicht mehr weit, an der nächsten Kreuzung sind die ersten Läden. Sie gehen an einer Kneipe vorbei. Marie sieht anders aus als sonst, fröhlicher. Dem Jungen fällt ein, dass er ihr sagen könnte, dass ihm ihre Haare gefallen. Seine eigenen hat er nie besonders gemocht; dass sie jetzt schwarz sind, ist besser. Aber Maries Haare sind braun und ziemlich lockig, sie sind okay.

„Marie!“

Marie bleibt so plötzlich stehen, dass sie beinah stolpert. Ihr Gesicht ist mit einem Mal ganz fremd, als hätte der Junge sich alles nur ausgedacht, als hätten sie nie Halt gemacht und geredet. Ihm wird unheimlich zumute. Marie lässt seine Hand los.

„Marie!“

Marie dreht sich nicht um; sie sinkt in sich zusammen, als wären alle ihre Muskeln weich geworden. Aus der Kneipe ist ein Mann gekommen. Er scheint wütend zu sein. Er folgt Marie und dem Jungen, den Oberkörper nach vorne geneigt; der Junge denkt, dass er wie ein Stier aussieht. Der Mann geht schnell, er hat den Jungen und Marie schon eingeholt. Er greift nach Maries Handgelenk, den Jungen schaut er gar nicht an. Er riecht nach Bier. Der Junge weicht vor ihm zurück: Er kennt diesen Geruch und den anderen auch, den, der darunterliegt.

„Marie“, sagt der Mann. „Du kommst mit nach Hause.“

Der Junge begreift, dass der Mann Maries Vater ist, und das macht alles noch viel schlimmer. Er wünscht verzweifelt, Val wäre da, Val oder irgendein anderer Erwachsener. Der Junge weiß, dass er Maries Vater nicht darum bitten kann, Marie in Ruhe zu lassen. Der Mann wird lachen oder ihn schlagen. Er ist Maries Vater.

Marie ist immer noch ganz still und da schüttelt der Mann sie. Er schüttelt sie so heftig, dass ihre Zähne aufeinanderschlagen.

Der Junge sagt: „Bitte“, aber das Sprechen funktioniert nicht richtig. „Bitte hören Sie auf damit!“

Der Mann reagiert nicht, vielleicht hat er nichts gehört. Er stößt Marie von sich, sie fällt mit dem Rücken gegen eine Hauswand. Sie schreit nicht, sie wimmert; dem Jungen zieht sich der Magen zusammen. Er schaut sich um – wenn er jemanden sieht, kann er um Hilfe rufen. Die Straße ist leer. Hinter den Fenstern der Kneipe sitzen sicher Leute, aber der Junge glaubt nicht, dass sie kommen werden, wenn er ruft.

„Bitte“, sagt er schwach.

Der Mann tritt zu Marie und will sie an der Schulter fassen, aber seine Hand rutscht ab. Sie rutscht auf das Oberteil von Maries Kleid. Der Mann lässt sie dort liegen.

„Du kommst mit nach Hause“, sagt er wieder.

Der Junge spürt, wie er anfängt zu zittern. Er denkt, dass er den Mann schlagen muss. Wenn er nicht zugucken will, wie der Mann Marie mitnimmt, muss er ihn schlagen. Er hat nicht viel Kraft. Der Mann wird sich zu ihm umdrehen, wenn der Junge ihn geschlagen hat, er wird zurückschlagen und dem Jungen die Nase brechen oder den Kieferknochen. Dann wird der Junge auf dem Boden liegen und der Mann wird ihn treten. Er ist betrunken. Er wird nicht aufhören, bis der Junge sich nicht mehr rührt.

Der Junge steht da und zittert. Er versucht, einen Schritt auf den Mann zuzumachen. Er hat solche Angst, dass es ihm fast so vorkommt, als wäre egal, was passiert, wenn er nur nicht mehr warten muss; aber das stimmt nicht.

Der Mann fragt: „Hast du mich verstanden?“ Er zwingt die Worte durch die Zähne, als könnte er vor Zorn den Mund nicht weiter aufbekommen. Da weiß der Junge, dass seine Angst zu groß ist: Er muss weglaufen. Er schämt sich, aber seine Erleichterung ist größer. Er wird Val Bescheid sagen. Er wird sich beeilen. Val soll Marie zurückholen.

Er will loslaufen, da hört er, wie jemand von der Kreuzung her auf sie zurennt. Der Junge schaut sich um, aber er hat nicht vor, stehenzubleiben. Er muss zu Val, das ist alles, woran er denken kann, Val, Val, Val.

Deshalb glaubt er zuerst, dass er sich Val nur einbildet. Val rennt wie ein Sprinter, seine Arme fliegen durch die Luft. Hinter ihm, auf dem Gehsteig, liegt sein Rucksack; er muss ihn fallengelassen haben, als er Marie, den Mann und den Jungen gesehen hat. Der Junge zögert.

Dann ist Val an ihm vorbei, packt den Mann, der seine Hand immer noch auf Maries Kleid liegen hat, und reißt ihn zurück. Er rammt den Mann gegen die Hauswand; Marie schiebt sich zur Seite weg. Val drückt dem Mann den rechten Unterarm gegen den Hals und bringt sein Gesicht nah an das des Mannes heran. Der Mann wirkt plötzlich älter. Alt.

„Drecksschwein“, sagt Val.

Marie sieht nicht mehr ins Leere, sie sieht Val an. Der Junge fühlt sich komisch: So als wäre er wirklich den ganzen Weg zum Jungenhaus gerannt und hätte Seitenstechen bekommen, nur das die Stiche höher treffen. Sie gehen in sein Herz.

„Eh“, sagt der Mann. Seine Augen zucken nach links und rechts, aber da ist niemand.

Val holt mit der freien Hand aus, ballt sie zur Faust und zielt damit auf den Magen des Mannes. Er nimmt seinen Unterarm nicht weg. Der Mann sackt zusammen, langsam läuft er rot an. Val lächelt. Der Junge hat Val noch nie so lächeln sehen. Er ist sicher, dass Val den Mann noch einmal schlagen wird.

Da wispert Marie: „Valentin …“

Val kann sie nicht gehört haben. Der Junge steht viel näher bei Marie und hat sie trotzdem kaum verstanden. Aber Val schaut zu ihr hin und sein Blick verändert sich.

„Okay“, sagt Val zu Marie.

„Dein Glück“, sagt er zu dem Mann. „Deine Tochter will nicht, dass ich Probleme kriege. Aber ich sag dir eins.“ Er lehnt sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Kehle des Mannes. „Komm noch mal in ihre Nähe und ich mach dich fertig.“

Dann lässt er den Mann los. Der Mann fasst sich mit beiden Händen an den Hals. Er keucht; in seiner Brust rasselt etwas. Zögernd zieht er sich ein Stück zurück, dabei lässt er Val nicht aus den Augen. Er schaut weder zu Marie noch zu dem Jungen hin. Als Val ihn nicht aufhält, dreht er sich um und hält mit steifen Schritten auf die Kneipe zu.

Val legt Marie einen Arm um die Schultern. Der Junge schluckt. Es sticht noch immer in sein Herz, obwohl doch nun alles vorbei ist. Als Val sich ihm zuwendet, merkt der Junge, dass Val ihn bis jetzt genauso wenig beachtet hat wie der Mann. „Alles okay?“ fragt Val.

Der Junge hat keine Ahnung, was er darauf antworten soll, also nickt er nur. Val lächelt schief. „Verschwinden wir“, sagt er. Er führt Marie auf die Kreuzung zu.

Der Junge trottet hinter ihnen her. Vals Rucksack liegt noch auf dem Bürgersteig, aber bevor sie ihn erreicht haben, fängt Marie an zu weinen. Val zieht sie an sich; der Junge weiß nicht, wo er hinschauen soll. Er muss daran denken, wie Marie seine Hand gehalten hat, und daran, dass er weglaufen wollte. Val fasst Marie um die Taille; auf der anderen Straßenseite ist eine Bushaltestelle. Val hilft Marie, sich auf die Bank zu setzen.

Der Junge geht ihnen nach. Val wirft ihm einen raschen Blick zu und kurz fühlt der Junge sich besser. Er lehnt sich an das Haltestellenschild und überlegt, ob er etwas sagen kann, um Marie zu trösten.

Dann geht Val vor Marie in die Knie und nimmt ihre Hände, und der Junge muss die Arme vor der Brust verschränken, weil es darin so sehr sticht und weh tut. Er möchte am liebsten weggehen. Er möchte allein sein, denn eigentlich ist er schon allein und es ist furchtbar, neben Val zu stehen und so allein zu sein. Val merkt es nicht. Er sagt zu Marie:

„Du musst dich nicht mehr vor ihm fürchten. Mein Vater war genauso … Er hat mich so lange geschlagen, bis ich mich einmal gewehrt habe, dann nie wieder. Dein Vater hat viel zu viel Angst vor mir, der fasst dich nie mehr an.“

Marie weint weiter, aber ihr Gesicht ist nicht mehr so starr. Ihre Schluchzer klingen wie Seufzer. Val sieht sich wieder nach dem Jungen um. Er lächelt, aber der Junge lächelt nicht zurück.

Val sagt: „Es ist ein Glück, dass ich euch gesehen habe.“ Er lacht; es ist kein gutes Lachen. „Tags bist du auffällig, Maximilian. Ihr seid es beide.“

Da hasst der Junge ihn. Val denkt wie die Frau mit den Plastiktüten, die Marie und ihn auf der Straße angestarrt hat – er kann nicht wissen, dass der Junge und Marie richtig miteinander geredet haben. Er sieht nur, dass Marie Schwarz trägt, genau wie der Junge.

Eine Alte für Mad Max.

Val hat nur so getan, als könnte er den Jungen verstehen.

Der Junge hat so fest an Val geglaubt. Er hat die Gerüchte gehört: Dass Val im Jugendgefängnis war. Krass, oder? Und der passt auf uns auf! Aber der Junge war froh. Er hat aufgehört, sich davor zu fürchten, sein Vater könnte kommen, um ihn abzuholen.

Nur hat Val Maries Vater geschlagen. Er hat Maries Vater bestraft, weil der schlecht zu Marie gewesen ist. Er hat Marie beschützt.

„Was ist los?“

Der Junge schaut auf Val hinunter und beißt sich auf die Unterlippe. Marie hat aufgehört zu weinen. Sie sieht erschöpft aus, aber sie hat gemerkt, dass etwas nicht stimmt; ihr Blick tastet über das Gesicht des Jungen. Das ist ihm unangenehm. Maries Hände liegen noch immer in denen von Val.

Der Junge räuspert sich. Das muss er machen, weil er sonst nicht reden kann.

„Nichts“, sagt er schließlich. „Nichts ist los, Justin.“

Er sieht noch, dass Val versteht, was der Junge getan hat, dann fährt er herum und läuft. Er hört Val rufen, aber er läuft, bis die Seitenstiche so schlimm werden, dass er langsamer werden muss.


Sechzehnter Platz : Screenshot“, Martin Peichl

I

 

Vielleicht bin ich Gemeingut.

 

Vielleicht bin ich Gemeingut, sage ich zu einer Freundin. Sie lacht. Lacht in ihren Averna Sour hinein und versteht nicht gleich, was ich damit meine. Wem ich denn dann gehöre, fragt sie, wenn ich Gemeingut bin. Na allen. Ich bin für alle zu haben. Pause. Wir trinken. Vielleicht bist du einfach nur beliebig, fügt sie hinzu. Ich bin Gemeingut und beliebig.

 

Ich schau auf mein Handy. Mein Display sagt mir, für wen ich und wie sehr ich existiere. Elf neue Nachrichten. Deine Zeilensprünge stimmen nicht, deine Zeilensprünge, die machen mich nicht an. Habe selten so abtörnende Zeilensprünge gelesen. Du musst hier und hier, schau, da fehlt einer und auch hier. Merkst du den Unterschied? Ich schau mir die Screenshots an, die sie mir geschickt hat. Diese fehlenden Zeilensprünge, Baby, die killen meine Libido, schreibt sie weiter. Mach mehr Zeilensprünge oder geh sterben!

 

Ich weiß, wir haben ausgemacht, dass ich dir nicht mehr schreibe, dass ich dich nicht mehr ficken kann, wann und wo ich will, weil ich gehör dir ja nicht, da sind immer auch die anderen, jedenfalls haben wir ausgemacht, dass ich dich nicht einfach so von hinten und auf der Couch und in Treppenhäusern, weil ich meine, nein eigentlich du meinst, das hält ja keine Frau aus, ständig gefickt, aber nie geliebt zu werden, immer nur genommen, aber nie behalten zu werden. Also schreibe ich dir. Ich schreibe: Ich habe immer noch harte Gefühle für dich. Damit du an meinen Schwanz denkst beim Lesen, an meinen harten Schwanz und ans Geficktwerden.

 

Ich komme nie in dir. Seit wir sind, also ich meine, seit ich dich ficke und du dich von mir ficken lässt, bin ich kein einziges Mal in dir gekommen. Ich spritze lieber auf deinen Bauch, deine Brüste, deinen Hintern ab. Das schafft Distanz.

 

Also: Verzeihst du mir? Ich weiß wir haben ausgemacht, dass ich dir nicht mehr schreibe, aber was soll ich machen, wenn meine Gefühle so hart sind für dich?

 

 

II

 

Ich bin Gemeingut. Ich bin beliebig. Mein Herz ist ein Stundenhotel. Alles, was man schreibt, ist auch eine Liebesgeschichte.

 

Schau wie sich die Stromleitungen in deine Richtung neigen. Laden wir sie doch ein zu unserer Verlobungsfeier, gemeinsam mit den Lichtern der Nacht und sämtlichen überkreuzten Fingern.

 

Schau mal kurz weg und verpass deinen Lieblingstrick, das Hervorzaubern von Bierdosen hinter deinem Ohr. Du nennst es Blenderei, ich nenne es Magie. Du lachst, nickst deinen eigenen Gedanken zu. Wir trinken Geschichten. Die Nacht gehört uns.

Schau, lass meine Unterarme eine Fortsetzung deiner Lebenslinie sein und spiel Würfelpoker mit mir in der Eckkneipe am Bezirksrand. Bis du mich beim Schummeln erwischst und ich dich endlich nachhause bringen darf.

 

Wir machen uns einen letzten Sommer vor. In die dazugehörigen Klischees legen wir uns rein wie in Hängematten. Ich bin noch lange nicht fertig mit dir, sagst du. Ich schweige, mache das nächste Bier auf. Wir unterhalten uns über Meerjungfrauen, Sirenen und Leuchttürme. Irgendwann schaust du mir in die Augen und fragst, ganz ernst: Wer bin ich für dich?

Ich bin Don Juan de la Mancha, immer auf der Suche nach Windmühlen zum Schmusen und Ausgreifen. Du bist mein Sancho Panza, schmierst mir Butterbrote, während ich mit Rotweinschläuchen kämpfe und in der Gegend herumspritze. Manchmal bist du meine Rosinante, dann reite ich aus auf dir und in den Sonnenuntergang hinein, die gebogene Lanze stets voraus. Du wärst gern meine Dulcinea, wenn du mir ins Ohr flüsterst: Es gibt keine Riesen, mein Ritter von der traurigen Gestalt. Ich jage mit den Windhunden und treibe dich immer tiefer in den Wald.

Nach dem Sex lasse ich dich offen zurück. Wunden sind Nähe. Deine und meine Stempelfarben haben sich vermischt. Ab jetzt nur mehr gemeinsam durchfeierte, durchwachte, durchwanderte Nächte. Das ist der Plan. Oder?

Ich bin zu müde, um meine Sätze zu betonen. Ja, da fehlt etwas. Ich bin nicht komplett. Ein Puzzle ohne Randteile. Du fängst trotzdem an zu bauen, stückelst mich zusammen. Stückelst uns zusammen. In die Lücken hinein planen wir eine gemeinsame Reise. In die Lügen hinein planen wir ein gemeinsames Leben. Wir wollen ans Meer. Uns im Quallenweitwurf messen. Ich fische nach deinen Gedanken. Die eigenen versenke ich, zu tief für deine Tauchgänge.

Wir fahren aufs Land. Weil die Stadt ist auch keine Lösung. Du verfluchst das Wetter in deinem ausgeschnittensten Sommerkleid. In der Hand ein Plastikbecher, gefüllt mit Rotwein und einer toten Wespe. Ganz in der Nähe ist ein ganzes Nest, man hört sie schwärmen. Deine Augen funkeln wie zerbrochenes Buntglas. Deine Haut ist aufgespannt wie eine Stromleitung. Entladungen werfen dein Kleid in Falten. Du hast da diese Idee von mir. Aber die Vergleiche funktionieren nicht.

Komm ein wenig näher. Ich will die Wörter sehen, die dir im Hals stecken bleiben.

Was denkst du gerade?

Ich habe nur mehr drei Tage zu lieben, will ich antworten.

 

Stattdessen erfinde ich einen Ich-Erzähler.

III

 

Pack deine Badesachen ein, wir fahren ans Meer!

 

Hast du dich jetzt endlich verliebt in mich?

 

Ich will dich ins Meer werfen und meine Liebe in Flaschen abgefüllt hinterher. Deine Stimme wellt mir ins Gesicht. Mein verdrängtes Vermissen baumelt von der Decke, während die Nacht beschließt noch ein wenig länger aufzubleiben. Sehnsucht, gemessen in leeren Biergläsern. Langsam atme ich mich in deine Richtung. Mein Begehren packe ich in eine Kühltasche.

 

Wir verkleiden uns als schöne Menschen, räumen den Müll in unseren Herzen vorübergehend zur Seite. Bis die Halde kippt, haben wir noch ein paar gute Jahre und immer genug Schatten.

 

Wenn du da bist, stehe ich für alles gerade. Mein verschwitztes Hemd spannt in deine Richtung. Ich gehe wie immer zu weit, denke nicht einmal im Traum an Liebe. Mein Herz summt Bienen, dein Honig klebt mich gegen die Wand. Einen Sommer lang werde ich dich heiraten. Einen Herbst lang wirst du mich verlassen.

 

Um 3:23 schreibe ich: Bist du unterwegs?

Eigentlich will ich fragen: Bist du wach?

Und sagen: Komm, rück ein Stück näher.

 

Um 3:42 schreib ich dann: Ich bin noch wach.

Eigentlich meine ich: Ich bin unterwegs.

Und ich hoffe, du verstehst: In deine Richtung.

 

Wenn wir nackt sind, bewegen wir uns verlangsamt. Ich stehe direkt hinter dir, meine Hände knapp über deiner Haut. Dort wo Spannung, dort wo Entladung passiert, dort sind wir ganz. Hier in diesem Moment vergesse ich alles, was uns fehlt. Ich nehme dich so, wie du genommen werden willst, drehe dich zu mir, mache dich zu meiner Schwerkraft. Mein Verlangen ist dir Beweis genug für deine Existenz. Ich vergesse unsere Namen. Es ist deine Stimme, in die ich dann eindringe, in deine Stimme und ihre Untiefen. Auf deinen Blickfeldern will ich uns eine Ewigkeit anbauen.

 

Was wir brauchen: Wir brauchen verdunkelte Gelegenheiten, selbstklebende Geständnisse, geföhnte und geglättete Stunden und einen Staudamm für feuchte Gefühle. Wir brauchen einen zuverlässigen Absperrdienst für die Türen, die wir selber nicht mehr zubekommen. Wir brauchen mehr, wir brauchen weniger. Wir verbrauchen die Jahre und uns ganz nebenbei.

 

Du durchschaust meine Bluffs, hängst Gewichte an mein Herz und schaust, wohin sie mich ziehen. An Samstagen weißt du immer, wie es mir geht. Ich verschaffe dir Zeit, damit du dich auch einmal in einen anderen verlieben kannst. Statt an den Strand nehme ich dich mit in die Innenstadt. Ich habe eine Liste erstellt mit all den Dingen, die wir verlieren werden. Damit konntest du nicht rechnen,

dass ich wie eine Abrissbirne in dich hineinfahre. Niemand hat dir gesagt, dass heute schon Neujahr ist.

 

Die meisten Tage knirschen, wenn man auf sie draufsteigt. Nicht nur im Winter. Beim Wort Klebstoff denke ich immer an deine Haut. Alle meine Geheimnisse sind Schleifsteine für deinen Messerblock.

 

Ich hätte gern weniger Angst, dafür mehr Haut. Weniger Hangover, dafür mehr Umarmungen. Würde dir gern weniger Nachrichten schicken, ihn dafür öfter reinstecken, zum Beispiel von hinten. Ich hätte gern weniger Marmelade im Kühlschrank, dafür mehr von deinem Hintern.

 

 

Ich hätte gerne Schluss gemacht.

 

Ich hätte gern von vorn angefangen.

 

Ich wäre gern in dir.

 

Ich wäre gern der Einzige in dir.

IV

 

Uns sind die Plots ausgegangen, Baby.

Ich wollte deine Einsamkeit sein, Baby.

In deiner Nähe gehe ich ein, Baby.

In deiner Nähe treibe ich es mit deiner Nähe, Baby.

Küss mich, aber dort wo’s wehtut, Baby.

Mein Blues ist besser als dein Rhythmus, Baby.

Ich hab noch ein paar Lügen für dich übrig, Baby.

Ertrag mich und dann heirate mich, Baby.

Lass uns die Schmerzen wegficken, Baby.

Evakuier mich, gib mir einen neuen Kontext, Baby.

Nimm meine Prosa in den Mund, Baby.

Krümm mir alle meine Haare, Baby.

Ich will, was von deinen Nächten übrigbleibt, Baby.

Ich habe genug Fallhöhe für uns beide, Baby.

Wir können genauso gut in Italien verzweifeln, Baby.

Mein Herz ist ein wackeliger Steg, Baby.

Im Wasser wartet nur Schlamm, Baby. 

 

Ich habe da diese Idee von mir. Einen Entwurf, wie ich sein will. So eine abgefuckte Schriftstellerfigur. Ein Typ, den man in einer Bar findet. Dort schreibt er in sein Notizbuch hinein mit Bier im Bart und rückt sich die Brille zurecht, die er um diese Uhrzeit, bei diesen Lichtverhältnissen nicht tragen müsste. Er sitzt da und schreibt Gedanken auf, die ihm poetisch vorkommen, vor allem nach dem zweiten oder dritten Bier. Nach dem vierten Bier ist er charmant. Und ein wenig unwiderstehlich. Die Kellnerin kennt ihn, die Kellnerin spielt mit. Überhaupt ist alles ein Spiel. Da geht es um Wahrscheinlichkeiten und um Prozente.

V

 

Hier ist alles, was du im Moment über mich wissen musst.

 

Wenn ich mich einsam fühle, suche ich Distanz. Ich rufe dann nicht dich an, ich lege mich dann nicht zu dir ins Bett, ich lehne mich nicht an bei dir. Wenn ich mich einsam fühle, suche ich Betäubung. Du bist das genaue Gegenteil. Mit dir fühle ich alles ein wenig mehr. Meine Einsamkeit. Meine Zweifel. Mein Scheitern. Meine Angst. Du verstärkst. Also lande ich zum Beispiel in einer Bar, allein unter mir Unbekannten. Oder ich treffe mich mit jemandem, den ich kaum kenne. Weil ich weiß, da kann nicht viel passieren. Da kann ich mich betäuben. Da kann ich mich auch ein Stück weit neu erfinden. In der Oberflächlichkeit des Moments hängenbleiben. Für einen Moment vergessen, dass ich auch nur ein Feigling bin.

 

Ich habe Angst vor dir und deiner Nähe. Und Angst, dass ich dich mit meinen Unmöglichkeiten anstecke. Das ist kein Leben, das ich da lebe. Was ist es dann? Eine Abrechnung. Ich rechne ab mit mir.

 

Wir gehen zwischenmenschliche Beziehungen nur deshalb ein, um mit unserer eigenen Vergänglichkeit und unserer Ersetzbarkeit klarzukommen. Aber wir kommen nicht klar. Jahrelang üben wir Sterben. Aber wir sterben immer nur fast.

 

Wenn ich mich einsam fühle, dann bin ich nicht erreichbar. Dann will ich weg von allem, was ich kenne. Weg von allem, was ich bin. Weil mich alles erinnert. Und niemand erinnert mich so sehr an mich wie du.

 

In mir drinnen brenne ich. Trotzdem schaffe ich nur diese lauwarmen Texte. In mir drinnen liebe ich. Trotzdem schaffe ich nur diese lauwarmen Gefühle. Es gibt keinen Ersatz für Vermissen.

 

Und das ist alles, was du im Moment über mich wissen musst.

 

VI

 

Alles ist lächerlich, wenn man an die Liebe denkt.

Ich bin dein verliebter Trottel.

 

Ich:

das unmöglichste Wort überhaupt

 

where I end and you begin

I will eat you alive 

there’ll be no more lies

 

erste Person Singular

ohne dich: letzte Person Singular

eine Singularität, eine Vereinzeltheit

ein Punkt, in dem auf eine kleine Ursache eine große Wirkung folgt

ein Objekt, das sich deutlich von seiner Umgebung absetzt, jedoch nicht wesentlich ist

eine Definitionslücke in unserer Funktion

 

bin:

die anmaßendste Form des Seins

 

In der Liebe geht es um Sein oder Nicht-Sein.

Um In-dir-Sein oder Nicht-in-dir-Sein.

Das ist meine einzige Frage.

 

dein:

Possessivpronomen

Obsessivpronomen

 

ein Fürwort: 

Ich habe ein Wort für dich: ja.

 

besitzanzeigend

zeig mir an, wen du besitzt

Besitzanzeige erstatten

 

Das Besitzenwollen als manische Steigerungsform des Habenwollens. 

 

dein 

deiner

der deinste

 

verliebter:

sich verlieben: so wie sich verfahren, nur mit noch weniger Richtung

 

Das lange „ie“ hält uns hin, verlängert unsere Sehnen. 

 

Hast du dich jetzt endlich verliebt in mich?

 

Verlieben ist endlich. 

 

Trottel: 

 

da ist ein harter Kern (das Doppel-t)

und ein versöhnliches Ende (vor allem, wenn Österreichisch ausgesprochen)

 

Alles, was von mir übrigbleibt, wenn du mich nicht willst. 

 

Ich bin dein verliebter Trottel.

 

 

 

VII

 

Seit Sommer ist, habe ich Wespen in meinem Mund. Sie bauen dir Sätze. Du bist die unerzählte Lücke in meinem Liebesverlauf. Unsere Wahrheit braucht ein Alibi. Ich vertraue nicht mehr, also bin ich tot. Mein Herz archiviert. Neue Gefühle werden ungeöffnet retourniert. Alles riecht nach Gestern, vor allem die Nächte. Ich zähle die Brandlöcher in deinem Herzen. Mein Herz hat einen Ständer. Nach Mitternacht werfen wir unsere Organe in den Ring. Da warten ungeschriebene Gedichte und unüberlegte Lippen auf dich. Wir entkorken Gefühle und verschütten sie großzügig. Zum Zeitvertreib knöpfst du mich auf, bis ich endlich gestehe, wie sehr du mir fehlst. Da ist meine kaputte Anziehungskraft, da ist deine noch viel kaputtere Fliehkraft. Mein kantiges Herz trifft auf deine Rundungen. Du schmeckst immer noch nach allem, was ich haben will. Trotzdem muten wir uns schon seit Jahren die unmöglichsten Enden zu.


Siebzehnter Platz : Halbmondgesicht“, Anna Hackl

der orgasmus überrollt mich wie eine etwas zu große welle, es folgt: atemlosigkeit. blende den orgasmuserzeuger, der mittlerweile neben mir liegt, aus, sein keuchen widert mich an, sein geruch, vorher noch so anziehend, erinnert jetzt an einen müllkeller. muss meinen blick gesehen haben, der junge, steht auf, so schön ist er wirklich nicht. großgewachsen, ja, der schwanz mittelmaß, die küsse nicht einmal das. nur die finger, die kann er wahrlich gut bewegen, seltene begabung. schließe die augen, höre die tapsigen schritte, er sucht das bad.

 

stelle mich schlafend, als er wiederkommt, sogar den namen habe ich vergessen, muss ich mich schämen? mutter würde mit sicherheit ja sagen. ein räuspern.

ich würde dich gerne wiedersehen.

weiche stimme, der junge, kaum älter als ich, raucht aber nicht, deshalb die waschmittelstimme.  

                eher nicht.

warum, hat es dir nicht…?

ja, war schön, aber so toll auch wieder nicht.

was bist du bloß für eine?

wie meinst du das?

naja, so ganz normal bist du ja nicht.

schweigen, dann:

geh bitte jetzt.

 

was bin ich bloß für eine?

 

mutter sagt, ich wäre schon immer eine plage gewesen, einsperren hätte man mich sollen.

vater sagt, ein sohn wäre ihm lieber gewesen, der hätte nicht so viele flausen im kopf gehabt, wäre brav im dorf geblieben, hätte ein liebes mädchen heimgebracht, würde nicht so viel ärger machen, würde etwas anständiges machen.

einer in meinem bett sagte einst, ich sei nicht fassbar.

ein anderer sagte, ich sei ihm zu viel, zu traurig, zu wild, zu anders, zu viel eben.

ein anderer sagte, er wolle der vater meiner kinder werden. den schmiss ich raus, nackt wie er war.

 

ich sage, ich bin eben eine etwas andere definition von mensch, ein halbmondgesicht.

 

der waschmittelstimmenjunge ist lang schon gegangen, die laken gewechselt, das sperma aus mir herausgetropft. in der dusche liegen noch vier rötliche schamhaare, betrachte sie zärtlich, spüle sie dann im klo herunter, schaue ihnen beim ertrinken zu.

 

als im dorf einmal ein betrunkener im bach ertrunken ist, sagte mutter, was für ein grässlicher tod. vater nickte, damit war die verurteilung des mannes gültig. für mich war wasser das größte und ertrinken daher der ultimative tod, die elterliche verurteilung war mir fremd. versuchte danach immer und immer wieder, den kopf einfach unter wasser zu lassen: im schon entweihten bach, im fluss der nachbarstadt, sogar verzweifelt in der badewanne. doch jedes mal schlug mein körper mir ein schnippchen, schnappte kurz vor der ersehnten wasserwerdung durch und luft, danach: atemlosigkeit, weinen.

 

das telefon klingelt viel zu laut.

liebes, wie geht es dir?

gut, mutter.

hörst dich aber nicht so an, liebes.

nenn mich nicht liebes.

ach, kind.

schweigen.

dein vater sorgt sich.

und das kann er mir nicht selbst sagen?

ach, kind.

schweigen.

willst du mir noch was sagen, mutter?

ja, ich meine nein, nichts wichtiges, nur dass der kachler franz grad daheim ist, der kommt ja auch nicht so oft, hat so viel um die ohren als jungunternehmer in der stadt.

und warum erzählst du mir das?

naja, also, er ist vorbeigekommen, blumen hatte er dabei, für dich, liebes, er wusste nicht, dass du nicht mehr im dorf wohnst und er wollte dich einladen, hat er gesagt, ins kino in die stadt, aber du warst ja nicht da.

wer ist das?

ich bitte dich, kind, du wirst dich doch noch an den franzl erinnern, in der straße neben der kirche wohnt er, also seine eltern und die schwestern, er wohnt da jetzt ja nicht mehr, er wohnt ja jetzt in der stadt, ein großer mit blauen augen, weißt du nicht mehr?

nein.

ich hab ihm gesagt, dass du fortgezogen bist und hab ihm deine adresse gegeben.

mutter, was fällt dir ein?

er ist ein anständiger junger mann, der weiß, was er will, eine gute partie, liebes.

nenn mich nicht liebes.

 

nicht einmal elf uhr morgens und es läutet schon an der tür. drehe mich stöhnend um, schiebe den arm unsanft weg, der meine betthälfte unerlaubt zu seinem territorium gemacht hat. das läuten hört nicht auf. der junge mann neben mir wacht auf.

was ist das für ein lärm?

noch nie eine klingel gehört, idiot?

na na, nicht so ruppig, junges fräulein.

raus.

was?

raus.

warum?

will sagen: weil fräulein ein schimpfwort für eine frau ist, sage aber:

weil das meine wohnung ist, wiedersehen.

er starrt mich kurz an, rappelt sich dann auf, zieht hektisch seine kleidung an, die noch nach gestern riecht, nach lauter musik und küssen unter zuckenden scheinwerfern.

was bist du bloß für eine?

schließe meine lippen, jedes wort wäre vergeudet, interessiert ihn ja auch eigentlich nicht, den zerknirschten zeugen der letzten nacht.

sehen wir uns wieder?

ziehe die augebrauen hoch, das muss antwort genug sein. reiße die tür auf und schaue ihn ein gesicht, das ich irgendwo schon einmal gesehen habe.

hallo eva.

statt einer antwort schubse ich ihm den verbrauchten jungen mann entgegen, dann schlage ich die tür wieder zu. wer ist der typ? wird einer meiner nachtgäste gewesen sein.

eva?

er steht immer noch draußen.

 

 

liege wach im bett, höre dumpf meinen namen. kann er nicht einfach verschwinden? schreie laut:

verpiss dich!

keine eva-rufe mehr, stattdessen wie immer das rauschen in den ohren, wie unter wasser, das dröhnen im kopf, die augen wie von einem schleißiggrauen vorhang verdeckt. immer wieder das dumpfe gefühl, doch nicht zu leben, doch schon lange gestorben zu sein, schon lange kaputtgegangen zu sein und es bloß nicht bemerkt zu haben.

 

rappel mich irgendwann auf, draußen dämmert es, schleiche zur wohungstür, der türspion zeigt: leere. öffne sie vorsichtig, auf dem boden liegt ein kleines päckchen, eva steht drauf. schlage die tür laut zu und warte dahinter. von oben brüllt eine nachbarin:

ruhe jetzt, herrgott im himmel!

 

unter rotem geschenkpapier: ein foto, gerahmt, darauf: ein junges mädchen, lachend, wie es sich an einen jungen ihren alters anlehnt, er lächelt schüchtern in die kamera. wiesen im hintergrund, ein wald, blumen, sommer überall, sommer im lachen der zwei jungen menschen. starre auf die gesichter, das mädchen bin ohne zweifel ich: lange haare, noch keine narben, sommerkleid. der junge: warmer blick, sanfte augen und ohne jeden zweifel: der mann von vorhin, der franz. hat sich sehr verändert, kräftiger ist er geworden, muskulöser, anziehender. erinnere mich an seine liebesgeständnisse damals, mitte der hauptschule, habe ihn ausgelacht, danach war die freundschaft hinüber. was will er nur jetzt von mir?

 

es klingelt wieder, mache die tür einen spalt weit auf.

was willst du, franz?

eva, magst du mich reinlassen?

sag mir erst, was du willst.

sein lächeln hat sich nicht verändert, dafür seine haltung, sein selbstverständnis.

ich hab von dir geträumt, eva, ich hab geträumt, ich find dich tot in der donau, das war ein zeichen.

was für ein zeichen?

dass wir uns treffen sollen, lässt du mich jetzt rein?

 öffne langsam die tür, kneife die augen zusammen.

aber nur kurz, hab viel zu tun.

 

sitze am tisch, er gegenüber. drücke meine fingernägel in die handballen.

was machst du so?

geht dich nichts an.

deine mutter sagt, du bist künstlerin.

ach, sagt sie das.

malst du noch?

geht dich nichts an.

schweigen. sehe ihn an, der anzug lässt ihn älter wirken.

du bist alt geworden.

wie bitte?

siehst wie dein vater aus, mit dem anzug und der krawatte.

er streift sich wortlos die krawatte vom hals, legt sie auf den tisch, neben das bild. mit blick darauf:

lang her, was?

seine augen haben eine beruhigende wirkung, meine hände zittern trotzdem.

ja, lang her, aber bin im stress, kannst du bitte wieder gehen?

 er bleibt sitzen.

eva, denkst du manchmal über selbstmord nach?

was?

naja, dein leben, deine welt, deine aura, dein blick, der traum, weißt du, der…

geh jetzt bitte.

 

sitze innerlich fluchend am tisch, was denkt er sich bloß? kommt hereingestürmt und meint, mein leben analysieren zu müssen. schneide langsam die krawatte in streifen, die er da gelassen hat. kleine, feine streifen. stelle mir vor, wie er mir dabei zusieht, muss lächeln. so ein idiot.

 

eva?

nicht schon wieder.

was machst du denn hier, eva?

einkaufen.

so ein zufall, gerade wollte ich frühstück für uns kaufen.

für uns, warum denn bitte für uns?

naja, ich dachte, ist doch schön, dass wir uns jetzt wiedergefunden haben, da muss man doch…

meine mutter hat dir meine adresse gegeben, du hast mich gefunden, nicht wir uns.

eva, lass es doch zu.

was?

mich.

nein.

warum nicht?

weil mein leben dich nicht braucht, franz.

vielleicht ja doch? vielleicht ein bisschen?

nein.

jetzt hab ich dir brötchen aber schon gekauft…

er läuft schräg hinter mir, beeile mich. er lässt sich nicht abwimmeln.

 

als wir die wohnung betreten, sieht er die krawatte, sein blick erstarrt.

warum hast du das gemacht?

kunst.

eva, du kannst doch nicht einfach…

doch.

er tritt nah an mich heran, hinter mir wand, kein ausweg. ziehe scharf luft ein, will etwas sagen, er kommt mir zuvor, umarmt mich. unter dem teuren parfüm riecht er kaum merkbar nach heu, nach sommer. stoße ihn weg, bevor dummheiten passieren. er lächelt mich an, hundegleich, stellt dann teller auf den tisch, summt vor sich hin.

vermisst du das dorf manchmal?

nein.

aber wir haben doch viel schönes dort erlebt, viele glückliche zeiten.

die sind jetzt aber vorbei.

er sieht mich ernst an.

ich habe dich nie vergessen, hab immer an dich gedacht.

leere in meinem kopf.

eva, ich weiß, damals hast du mich abgewiesen, aber vielleicht ist es jetzt an der zeit für einen neuanfang?

stehe auf, knöpfe mir die bluse auf, lasse sie auf den boden fallen, fühle mich wie ein theater.

was tust du da, eva?

die hose samt unterhose fällt zur bluse, stehe nackt vor ihm.

komm mit.

er folgt mir, schubse ihn auf mein bett, ziehe ihn routiniert aus, begutachte ihn von oben bis unten. nicht schlecht.

 

eva, was war das?

drehe mich auf den rücken.

ein neuanfang war das, das wolltest du doch.

aber, ich meine, was passiert jetzt mit uns?

was soll mit uns passieren, franz?

na, sehen wir uns jetzt öfter?

eher nicht.

eva, du kannst dein spiel nicht mit mir spielen, hörst du, nicht mit mir!

drehe mich zu ihm, fixiere ihn mit meinem blick, er hat die gleichen hundeaugen wie alle anderen.

du hast mein spiel schon mitgespielt, franz, vergiss das nicht.

er springt auf.

was ist bloß los mit dir, erst zerschneidest du meine krawatte, dann schläfst du mit mir, was soll das denn alles?

das ist das leben, franz, gewöhn dich daran.

du bist nicht auszuhalten!

dann geh doch, es hält dich niemand auf.

drehe mir langsam eine zigarette. er zieht sich hektisch an, das hemd falsch herum, die hose halb offen stürmt er aus dem zimmer, dann aus der wohnung. blase den rauch gegen meine hand, fühle mich erleichtert, fast schon erhaben. einer weniger.

 

der stift zieht fahrige linien, zerreiße das blatt, starre auf den papierfetzenhaufen auf dem boden. was ist bloß los mit mir? entscheide mich für einen spaziergang, um wieder zu mir zu finden. der winter ist zu kalt für mich, nach wenigen minuten steige ich in den nächsten bus, die endstation ist weiß und ruhig. setze den stift wieder an, lange striche, kurze schraffierungen, selbstporträt. ich hab von dir geträumt, eva, ich hab geträumt, ich find dich tot in der donau, hallt es in meinem kopf wider.

 

vor meiner tür liegt ein zettel:

wir müssen reden, ruf mich an, franz.

wäre auch zu schön gewesen, wenn er mich in ruhe gelassen hätte. schlurfe nach innen, schenke mir ein glas gin ein, hole das telefon aus der tasche.

hallo?

hallo.

eva, bist du das wirklich?

ja.

ach, schön, dass du…

franz, hör mir zu. du musst damit aufhören, mich zu nerven, hast du das verstanden?

ich mache, was ich will.

nein, das tust du nicht, du lässt mich in ruhe.

das kann ich nicht, eva.

doch.

lege auf, meine hände zittern, fühle mich unwohl, wie auf der lauer.

 

die nacht bricht herein, an schlaf ist nicht zu denken, zu viele ameisen in meinem kopf, zu laut das herzklopfen. beschließe zu malen, laute musik dazu, ablenkung. woher kommt dieses unwohlsein? eine nachricht auf meinem telefon zerreißt die gedankenverlorenheit.

eva, es tut mir leid. bitte lass mich dich heute ein letztes mal treffen, dann werde ich dich in ruhe lassen, franz.

soll ich ihm glauben? überwinde mich, antworte ihm:

ja, ein letztes treffen.

 

die nacht ist herzerfrierend kalt, habe zu wenig angezogen. er kommt angerannt, außer atem.

eva, danke.

sage nichts.

lass uns etwas gehen, oder?

sage nichts. soll er machen, was er will, solange er mein leben danach nicht mehr berührt. gehen los, schneller schritt.

eva, wie geht es dir?

wie soll es mir gehen, franz, wenn du mein nein nicht akzeptierst?

aber jetzt hast du doch ja gesagt.

nur um der unbelästigten zukunft willen.

aber du hättest mich auch einfach ignorieren können.

hätte ich das wirklich?

eva, ich muss dir etwas sagen.

bitte nicht, franz.

doch, eva, du musst es hören, es ist wichtig, es betrifft die zukunft.

deine zukunft ist mir egal, franz.

eva, es geht um unsere zukunft, ich kann ohne dich nicht leben und du nicht ohne mich. woher willst du das wissen, du kennst mich nicht einmal.

doch, ich weiß es einfach, eva, die letzten jahre, die waren farblos ohne dich, jetzt sehe ich die schönheit der welt wieder, jetzt sehe ich einen sinn in allem, jetzt sehe ich, dass sich das warten doch gelohnt hat.

das warten auf was?

das warten auf die wahre offenbarung.

bitte?

das warten auf dich.

 

bleibe stehen, sehe mich um, sind an der donau angelangt, offene ader im herzen der stadt. wende mich dem offensichtlich verwirrten mann neben mir zu, sehe ihn festen blickes an.

franz, du musst damit aufhören, du irrst dich in mir, offenbarung, schönheit der welt, was für ein blödsinn, hör auf damit.

er sieht mich an, seine hände packen meine schultern, fester griff. was passiert hier?

eva, du verstehst mich nicht, ich brauche dich, glaub mir.

reiße mich los.

franz, komm zu dir, du brauchst mich nicht, du brauchst eine solide junge frau mit gebärwillen und putzaffinität, du brauchst alles, nur nicht mich.

er tritt auf mich zu, weiche aus, zu langsam, er packt mich wieder, gröber dieses mal, angst ergreift meinen brustkorb.

franz?

seine augen sind starr geworden, sein griff fester.

wenn du mich wieder ablehnst, eva, werden wir beide unglücklich.

die luft hat plötzlich einen anderen geschmack, schmeckt nach zorn, nach enttäuschung.

franz, lass mich los, was ist denn mit dir?

sein griff um meine schultern wird noch fester, dann schreit er mich an:

du gemeines miststück, ich gebe mir die größte mühe mit dir, gebe mich dir hin, und was tust du? du nimmst mich wie eine nummer, wie eine gottverdammte nummer auf deiner endlosen liste von männern. kannst du dich noch an einen namen erinnern, eva? wie hieß der vor mir, weißt du es noch?

bringe kein wort heraus, die zunge vor angst gelähmt. er schüttelt mich, brüllt mich an:

siehst du, du weißt es nicht, es hat dich nie interessiert, so wie ich dich nie interessiert habe, stattdessen trittst du meine gefühle mit füßen und es tut dir nicht einmal leid, du, du…

er funkelt mich an, sein blick voll blinder wut, dann trifft mich seine faust mitten ins gesicht, blutgeschmack.

was bist du bloß für eine?

falle auf den boden, will sagen: ein halbmondgesicht, aber er kommt mir zuvor, schleudert mich auf den boden, schlägt auf mich ein, schreit und schlägt und schreit. wehre mich nicht, mein gesicht fliegt von seite zu seite, meine lider flimmern, mein herz auch. erhasche endlich einen blick auf das ruhige grün des flusses.

 

ich hab von dir geträumt, eva, ich hab geträumt, ich find dich tot in der donau.


Achtzehnter Platz : Wassermann“, Martin Ahrends

Wie ich schwimmen kann. Wie es mir liegt. Wie ich im Wasser liege, darin fliege wie ein so großer, fetter, flügelloser Vogel niemals fliegen könnte. Wie gut es tut, zu schweben, schwimmen, tauchen, Kopf voran, die Beine paarig auf und ab. Hinter und neben mir all die anderen Schwimmer dicht unter der Oberfläche nur als rasche kleine Wellen zu erkennen, alle sind sie mit mir unterwegs zur Quelle, wo das Wasser eng wird, so eng und flach, dass nur einer von uns durchkommt. Da tuckert eine Alsterfähre quer herüber. Schon bin ich ran, seh große Augen hinter Glas, schon bin ich unten durch. Mit starken Schlägen schon durch die Brücke in die Binnenalster, und angelangt am Jungfernstieg. Ich bin der Erste, und am Ufer eine Frau im weiten Umhang, feiner Regen geht drauf nieder, fällt in Tropfen auf die Promenade, neben ihren Fuß, der mir in Augenhöhe und kein Fuß ist, sondern ein Hirschhuf, aufwärts hin verliert sich weißes dichtes Fell im Dunkel ihres Umhangs. Dorthin muss ich ja, stemme mich also hoch und aus dem Wasser auf, setze mein Knie auf den Beton. Die Kniehaut ist verletzlich weich, und ich bin plump und schwer da draußen. Die Luft so unbarmherzig trocken trotz des Fieselregens. Die Hirschkuh wendet mir den Rücken, ich lasse mich ins Wasser sinken, das mich trägt und birgt. Die Leute hoch am Ufer bleiben stehen und sehen mir erschrocken zu, sie laufen plötzlich los, wohl, um die Feuerwehr zu holen. Jemand wirft einen roten Rettungsring. Da bin ich schon auf und davon. Ich tauche zum Kanal hin, der mich in die Elbe führen soll. Was ich dort will, weiß ich noch nicht, ich folge einem Trieb, den ich an mir nicht kenne. Flussauf zur Quelle hin. Zum Schoß.

Der Alsterkanal führt, wie ich weiß, unter dem Kaufhaus und über den U-Bahntunnel hin zum Wehr. Das Wehr ragt hoch und schwarz vor mir empor, ich klimme, ziehe, bin zu schwer für meinen Klimmzug. Seitlich ist eine schmale Treppe, da schleppe ich mich auf und will dahinter wieder ab und untertauchen. Doch da ist nichts hinter dem Überlauf als eine breite Leere. Offen zu Tag liegt da der Untergrund der Elbe, eine schlammige Senke, in die von da und dort aus Rohren, auch von meinem Wehr herab ein wenig Wasser rieselt. Schräg hingebreitet und entblößt klebt die Englandfähre im Flussbett. Jemand schlampampt uferwärts empor, grad auf mich zu, er keucht und ächzt, rutscht ab und hat es sichtlich schwer mit seinem Näherkommen, ist fern und nah, sieht mich und weiß schon, was er mir erzählen wird, weist mit dem langen Arm zum Autotunnel auf dem Grund des Flusses, der gar nicht sichtbar wäre, wenn nicht eingebrochen und ein schwarzes Querband voller Schlamm, ein Schlammabfluss nach beiden Seiten hin, an dessen Enden Schlamm aufquillt in Massen, dahinter sich Elbwasser in die Niederung ergießt. „Aber die See“, ruf ich ihm zu, „die See wird doch nicht leer!“ – Der schlammige Mann hat mich erreicht. Ich reiche ihm die Hand, er setzt sich neben mich auf die Ziegelmauer oberhalb des Wehrüberflusses, der nahebei ganz trocken in die Tiefe stürzt. Er sieht mich, stutzt und entscheidet wohl, sich über gar nichts mehr zu wundern. Er blickt stur gerade aus, verschnauft. Ohne mich gefragt zu haben, ob ich Lust und Zeit habe, ihm zuzuhören, hebt er unvermittelt an: „So ein trüber Tag, ich hatte schon morgens ein Gefühl von Enge. Irgendwas riet mir davon ab, durch diesen langen Tunnel zu fahren, ein Gefühl, nun ja, eben nur ein Gefühl. Und da stand ich dann – bitte sehr – an der tiefsten Stelle der Röhre, über mir die schiffbare Fahrrinne der Elbe und womöglich die dicke Prinz Hamlet auf dem Weg nach Harwich. Stand und konnte nicht vor noch zurück. Ganz vorn, vor einem Flecken Taglicht lag, soviel ich sehen konnte, ein Tankzug quer. Das konnte lange dauern, zumal es eben erst passiert sein musste: Denn eben kam die Flüssigkeit, die dem Verunfallten entfloß, in breitem Strom im Tunneltale an, wo sich alsbald ein schillernder Teich um uns herum verbreiterte. Das hätte mich nicht allzu sehr gestört, solang ich trockne Füße hatte, wenn mein Blick nicht zufällig im Rückspiegel die wegwerfende Geste des Hintermannes aufgefangen hätte: Der drehte tatsächlich seine Scheibe runter, brüllte etwas Unflätiges ins Gesumm der Motoren, nahm seinen Zigarrenstummel und schmiß ihn wütend in den Schacht. Da lag er und glomm. Ganz nahebei dem Teich, der mit gewölbtem Rand schon nach ihm leckte. Nun war länger nicht zu zaudern. Behende entsprang ich meinem Fahrzeug, schloss ausnahmsweise NICHT ab und entschwand hinter einer dieser grauen Eisentüren neben der Piste, die mir zuvor kaum aufgefallen waren. Ich SCHLUG die Tür hinter mir zu, und der Nachhall war so gewaltig, dass ich vermuten musste, das Rinnsal und der Stummel hätten einander just in diesem Augenblick gefunden. Ja, so war es wohl; Gekreisch und Gehupe waren zu vernehmen, auch Rufe nach der Feuerwehr und was den Leuten sonst einfällt, wenn ihr Stündlein geschlagen hat. Heulende Motoren alsdann, quietschende Reifen, Glas, Blech, das sich hart anstößt. Eben ertastete ich den Schlüssel in der Tür, als auch schon heftig an der Klinke gezerrt wurde, mit versagender Kraft alsbald. Dann ward es still im Tunnel, schmatzende Flammen waren zu hören und manch kleinere Detonation. Finster war’s hinter der Stahltür. Doch hob die Tür sich immer deutlicher ab von der Finsternis, bis der glühende Stahl meine Zelle ausreichend erhellte. Es war ein Abstellraum mit Besen, Schildern, farbigen Gläsern und Glühbirnen für die Tunnelbeleuchtung. Es wurde heiß, die Borsten bogen sich, die Schilderfarbe lief und: Pick! – zersprang das Glas. Auch die Luke droben, hoch über mir, wölbte sich auf, und schwerer schwarzer Schlamm schlug schlaff neben mir auf. Noch ein fetter Schlammbatzen, dann zerbarst die Luke, konnt‘ nicht mehr an sich halten und erbrach die kühle feuchte Masse aus dem Untergrund des Flusses in meine Besenkammer; das tat erst einmal wohl. Doch durfte ich mich dem Wohlbehagen nicht hingeben. Ich strebte also zügig aufwärts und siehe, das Element ward fluider, je höher ich kam. Und als ich daraus emportauchte, musste es beinahe Wasser sein. – Luft. Die Elbe bei Hamburg. Herbstliche Erlen, naßgraue Spaziergänger am Blankeneser Ufer. Und die Prinz Hamlet hupte nicht mehr fern. Da brach drunten der Tunnel ein, die Elbe kriegte eine Delle, an beiden Tunnelenden quoll der Schlamm auf. Die Fähre lehnte sich, da Wasser mangelte, schräg in die Pampe, ich aber schlampampte uferwärts, um mich im nahen Fährhaus bei einem heißen Grog meines Überlebens zu erfreuen.“ – Nun sieht der Schlammige mich an. „Und sie“, fragt er, „wie hat es sie hierher verschlagen?“

„Ich? Hab mich rückwärts aus dem 16. Stock kippen lassen, als mir die Frau der Wohnungsgenossenschaft mein neues Domizil zeigen wollte. Eine schöne Wohnung mit Blick auf die Außenalster. Dieser Blick hatte es mir gleich angetan, ich hab das Fenster geöffnet, die Luft tief eingesogen, einen kurzen Blick in die Tiefe geschickt -, mich dann langsam umgedreht und ins offene Fenster gesetzt. ‚Vorsicht!’, hat die Frau von der Wohnungsgenossenschaft noch gerufen. Im Polizeiprotokoll hat sie etwas von meinem merkwürdigen Blick hinterlassen und von dem leisen Ruck nach hinten, einem willkürlichen Ruck nach rückwärts, und dass sie jedwede Nachlässigkeit ihrerseits ausschließen könne, ich hätte nicht das Gleichgewicht verloren, also nicht erschrocken gewirkt, sondern mich kippen lassen, als stünde da ein Bett hinter mir. Danke, liebe Frau von der Wohnungsgenossenschaft. Genau so war es. Wie sie den Vorgang beschreibt, wirkte ihr Klient weder depressiv noch verzweifelt und erst recht nicht zur Selbsttötung entschlossen. War ich zur Selbsttötung entschlossen? Ich war selbst überrascht von meinem plötzlichen Entschluß, eine Gelegenheit beim Schopf zu packen, die sich mir so nie wieder bieten würde, wenn ich erst eingezogen wäre. Ich sah diese helle neue Wohnung an und wusste plötzlich, dass mir keine Ortsveränderung mehr helfen würde. Dass mir überhaupt nichts mehr helfen würde, noch nicht mal diese neuen Wände und die herrliche Aussicht. Ich sah die frisch getünchten Wände schon angeschmutzt von meinem unheilbaren Unglück. Und wusste im selben Augenblick, dass alles von meinem unheilbaren Unglück angeschmutzt sein würde, hier und überall und immerdar. Diese Gewissheit war mir unerträglich. Ich musste schnell handeln, um sie loszuwerden. Da stand der lang gehegte Wunsch, mich wegzunehmen aus der Welt der Anderen, plötzlich vor mir und lächelte schräg. Zu lange hatte ich schon an diesem Wunsch herumgedacht und fürchtete in diesem klaren Moment nichts mehr, als die Wegstrecke halbwachen Herumdenkens, die bis zu meinem verspäteten Verröcheln noch vor mir läge, wenn ich nicht jetzt und hier und ohne weiteres Bedenken handelte. – Ich sehe mich auf das Fenster zueilen, als wäre es der eigentliche Eingang zu der erhofften neuen Wohnung, hoch über der Stadt, meine Augen leuchten in der plötzlichen Erkenntnis, dass ich in dieser Wohnung keine vier Wände, sondern Himmelsweite gesucht hab. Und gefunden. Kein Drinnen also, sondern dies große Draußen, in das ich endlich ausfliegen will. Ich bin angekommen. Ich bin am Ziel. Dann falle ich, wie man im Traum fällt – in Erwartung das harten Aufschlags oder des Erwachens. Und falle wie im Traum viel zu lang. Ein Sturmwirbel zwischen den Hochhäusern nimmt mich in den Arm und setzt mich überm nahen Wasserspiegel ab, ich tauche ein und sinke tief in die Algenwälder und in den Morast. Jetzt müsste ich erwachen. Jetzt müsste sich der Vorhang heben. Ich bin ja unten angekommen, tiefer geht’s nicht. Doch nichts verändert meine Lage, ich stecke bis zum Bauch in Grünalgen, und Luft holen muss ich auch. Dringend. Ich kann nicht warten, bis vielleicht demnächst mit einem Schlag alles anders wird, und  ich erwache. Ich muss hinauf, ich muss an die Luft, sonst erwache ich nie wieder. Und strample und wedle und rudere mich los und strebe zügig auf und auf. Luft, Licht, ein starker Wind und rauer Wolkenhimmel über der Außenalster, kein Segler weit und breit, es ist später August. Als ich losgeschwommen bin zur Innenstadt hin, wird mir bald warm von innen her. Und wie ich schwimmen kann. Wie es mir liegt. Wie ich im Wasser liege, darin fliege wie ein so großer, fetter, flügelloser Vogel niemals fliegen könnte. Wie gut es tut, zu schweben, schwimmen, tauchen, auf und ab…“ – „Ich will mich waschen.“ – „Da weiß ich einen Brunnen in der Stadt.“ – „Irgendwie musste das mal so kommen. Nicht, dass ich kein Vertrauen in die Technik hätte. Aber dass es mal so richtig krachen würde, hab ich lange schon gespürt. Weiß gar nicht, wann das anfing.“ – „Bei mir fing es damit an, dass ich immer durstig war, doch was ich auch trank, nichts konnte meinen Durst stillen.“ – „Vielleicht ist bloß zu lange Frieden, und wir halten das nicht aus. Wo ist der Brunnen?“ – „Da entlang, gleich nebenan auf der MÖ, ist gutes Trinkwasser, so lang man trinkt, steht die Oberfläche still, und man kann die Inschrift auf dem Grund lesen.“ – „Und?“ – „Irgendwas christliches.“ – „Kannst du nicht schneller? Was ist mit deinen Füßen?“ – „Wir watscheln hier verschlammt und bealgt durch die vernieselte Stadt auf der Suche nach einem Brunnen, seltsam genug das. Ich hab immer an Wasser gedacht, hab mich danach gesehnt, dass endlich das große Wasser kommt. Lag stundenlang in der warmen Badewanne und wünschte mir kaltes Wasser. Hätte bloß den Kalthahn aufdrehen müssen. Bin meine Runde gelaufen und dachte jedes Mal: Jetzt bleibst du weg, aber wenn ich an dem moorigen See war, hab ich nur reingestarrt, hab meine Sehnsucht da versenkt, bis es nichts mehr zu versenken gab. – „Was ist das für ein Geräusch?“ – „Meine Füße.“ – „Das meine ich nicht.“ – „Mein Magen knurrt.“ – „Aber wie! Da wohnt ein Tier in dir.“ Wir haben den Brunnen erreicht, der Schlammige reinigt sich und trinkt zuletzt. Da hält die Oberfläche still, und der Spruch am Grunde wird erkennbar: „Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.“

Jetzt erinnere ich mich, wann ich den Spruch entdeckt hab. Eine Schulfeier. Sie hatten den neuen Gemeindesaal gemietet, rammelvoller Elternteile, freiwillig hätte sich das niemand angehört. Es war hundsmiserabel! Aber wir klatschten, weil es ja unsere Kinder waren. Der Zottelbär, der den Saal verlässt, um als erster an die Biertheke zu kommen, hört nur halb hin. “Wir belügen unsere Kinder, und das wird sie teuer zu stehen kommen. Wir glauben, ihnen was gutes auf den Weg zu geben, ein Selbstvertrauen. Und genau das nehmen wir ihnen, wenn wir nicht ehrlich sind…“ “Ich hör das gar nicht so genau, wenn da was schräg klingt“, sagt der Zottelbär. “Ich find das schön, wenn mein Kind ein Instrument lernen kann. Auf Perfektion kommt’s mir gar nicht an.“ „Aber wenn da zwölf- und vierzehnjährige sich so selbstherrlich breit grinsend jämmerlich blamieren und werden dafür noch beklatscht! Und wahrscheinlich gerade dafür, dass sie ’nicht perfekt’ sind, was inzwischen der höchste aller Erziehungswerte ist, alles nur so ungefähr zu können‚ wenn ich das mit ansehen muss, und es kann mir nicht egal sein, weil ja meine Kinder dabei sind, dann wird mir, pardon, kotzübel. Dann wird mir angst. Und mir graut vor ihren Vorwürfen, weil wir dran schuld sind, was aus ihnen wurde oder eben nicht wurde, weil wir sie belogen haben mit unserem dummen Geklatsche.“ – “Warum erregen Sie sich so“, fragt der Zottelbär, “Sie haben ihre Kinder doch auf diese Schule gebracht..“ – “Jaja“, sage ich rasch,  hebe die Hand zum Gruß und suche zwischen Eltern hin, die noch in beifälligem Gemurmel verharren, rasch das Weite. Besteige mein Auto, halte vor dem nächsten Imbiss, wo ich appetitlos ein Schaschlik mampfte und die Geldspeilautomaten füttere. 

Die Tochter steht allein mit ihrem Geigenkasten im Regen, als er verspätet bei der Schule hält. Sie steigt ein, kein Vorwurf, man schweigt bis man fast zuhause ist. “Du findest das wohl nicht so toll, was wir da spielen“, sagt sie endlich, und hat lange nach den richtigen Worten gesucht. “Da hast Du recht“, sagt er, “aber du kannst nichts dafür. Und die Schule auch nicht. Und ich wahrscheinlich auch nicht. Es muss irgendwie in der Luft liegen…“, vielleicht lässt einfach unsere Kraft nach, setzt er stumm fort, vielleicht wird immer schwächer und blasser, was wir tun, bis wir reif sind, unterzugehen. Bei dem Wort “untergehen“ muss er lächeln, es tröstet ihn, unter die Ebene gelangen zu können, auf der dies Schwächerwerden sich zuträgt, versinken zu können in einem großen Wasser, wo nichts zu hören noch zu sehen ist von dem, was in der Luft liegt. “Wer weiß denn, was da kommen wird, niemand freut sich darauf. Niemand in diesem Land glaubt an Eure Zukunft. Man merkt ja sonst wenig davon, aber wenn Musik gemacht wird…“ Er wendet sich um, er sitzt allein im Auto, die Tochter ist wohl schon im Haus. Sie rechnet nicht mit ihm.


Neunzehnter Platz : Kalter Regen“, Marc Frey

Als wir das letzte Mal hier waren, sagte Hilde, war es anders.

Mit dem Blick auf das Wasser und die Brücke aus Stahl, in deren Streben die Tauben nisteten und aufflatterten, wenn ein Zug kam, jenseits des tristen Körnerpickens, stand sie vor dem Fenster und holte tief Luft.

Vielleicht liegt es ja daran, dass wir letztes Jahr im Winter hier waren? Da ist alles anders, sagte Helge.

Sie drehte sich um und packte die Kleidung aus dem Reisekoffer in den Schrank. Sie sagte nichts weiter.

Helge sah aus dem Fenster und beobachtete den Regen. Leichter Regen, aber stetig, schräge Striche vor dem grauen Himmel.

Es hätte besser sein können, hörte Helge sie von fern sagen, als hätte sie den Raum längst verlassen. Sie stand nur wenige Meter von ihm entfernt. Vielleicht lag es auch daran, dass die Aufmerksamkeit mit den Jahren nachließ.

Helge hatte ein Appartement im Internet aufgetan und es Hilde gezeigt. Von den Bildern war sie verzückt gewesen und dann hatte es nicht lange gedauert, und Helge hatte zwei Wochen reserviert. Selbstverpflegung, abseits von den Menschenmassen, die an den Stränden lärmten. Sie hatten sich lange darauf gefreut. Es war das zweite Mal, dass sie das Appartement bezogen, nur zu einer anderen Jahreszeit.

Der Zigarettenqualm hängt in den Räumen, hatte sie gesagt. Die Fliesen im Bad schreien nach Dreck. Die Vorhänge sind blass und der Blick aus den Fenstern nicht gerade motivierend.

Das wird schon, war Helge immer bemüht zu sagen. Es ist eben nicht das Ritz.

Hilde hatte dann lange nichts mehr gesagt.

Am Abend waren sie einkaufen gegangen, in einen kleinen Lebensmittelladen, der über die Größe einer Telefonzelle nicht hinaus reichte. Der Ladenbesitzer mit der großen Zahnlücke hatte beide lächelnd empfangen. Er versuchte mit Wortfetzen in Deutsch zu erklären, was er zu bieten hatte. In einem Kühlregal standen ein paar Flaschen griechisches Bier, Käse, Weißwein und Obst.

Hilde packte Brot ein und Käse, Oliven und etwas Speck, den sie im Kühlregal fand. Helge nahm den Wein und eine Flasche Bier.

Zurück im Appartement bereiteten sie das Abendessen vor. Helge deckte den Tisch auf der Terrasse, es war noch angenehm warm, nachdem der Regen nachgelassen hatte. Die Sonne hing noch am Horizont und gab etwas Wärme ab. Helge schaute in die Weite und spürte, wie sich um ihn herum ein Raum auftat, aus den er nicht mehr heraustreten wollte. Das Zirpen der Zikaden befriedete ihn. Er hatte sich einen Moment nicht bewegt und nichts gesagt.

Dann kam Hilde auf die Terrasse mit der Schale Brot, den Oliven.

Schenkst du den Wein ein, hörte er sie sagen.

Er drehte sich um und ging zurück in die Küche. Er suchte Weingläser und als er sie gefunden hatte, nahm er die Flasche Wein aus dem Kühlschrank.

Es ist kalt, sagte Hilde.

Helge nahm einen Schluck von dem Wein und war überrascht, wie gut er ihm schmeckte.

Es ist nicht kalt, sagte er.

Hilde stellte das Glas nach ihrem ersten Versuch auf die Seite.

Ist etwas mit dem Wein, sagte Helge.

Er schmeckt nicht.

Dann sah Helge, wie Hilde an ihm vorbei sah, als suche sie etwas Bestimmtes.

Es ist doch schön hier, sagte Helge. Er biss von dem Brot ab und nahm etwas Käse. Aber Hilde zuckte nur mit den Schultern.

Ich hoffe, das Wetter hält, hörte er Hilde sagen.

Plötzlich raste ein Auto auf der Straße vor der Einfahrt zu ihrem Appartement den Hang hinauf, verschwand in dem rasanten Tempo, in dem es um die Kurve gekommen war, um die nächste Ecke. In der Ferne war das Bellen eines Hundes zu hören.

Eine junge Frau und ein Mann spazierten auf der Straße entlang. Sie in einem weißen Kleid mit Bikinioberteil und schwarzer Sonnenbrille, er mit Shorts und einem gelben Shirt, um seinen Hals baumelte eine Sonnenbrille. Sie hielten die Hände und liefen Richtung Strand. Hilde wollte grüßen, tat es dann doch nicht.

Ob das Einheimische sind, fragte sie Helge.

Helge zuckte mit den Schultern.

Vielleicht sollten wir auch an den Strand gehen, sagte Hilde.

Helge warf seinen Blick gen Himmel, der wie ein poliertes Auge glotzte. Bist du dir sicher, dass du schon bereit für das Meer bist?

Dann sah Hilde plötzlich vom Tisch auf. Dort unten schimmerte unter der Sonne das Wasser, während die Sonne langsam dazu überging, hinter den ersten Bergen unterzugehen. Die Kraft ihrer Farbe dünnte aus.

Hilde stand auf und ging zurück ins Appartement.

Helge hatte noch einen Augenblick gewartet und war ihr dann gefolgt. Er fand sie im Wohnzimmer am Fenster stehend, aus dem sie auf das Meer starrte. Seine Hände legte er ihr von hinten um die Hüften. Er drückte sie leicht und lehnte seinen Schoß gegen ihren Po. Sie lachte spöttisch, dann löste sie sich und drehte sich um.

Ich hätte fast den Schinken vergessen.

Sie lief in einem Bogen an ihm vorbei und holte ihn aus dem Kühlschrank.

 

Am nächsten Tag waren sie in die Stadt gelaufen. Vor vielen Jahren, erzählte Helge, war die Stadt von einem schweren Erdbeben heimgesucht worden. Viele Häuser wurden zerstört und sind heute noch Ruinen. Dominiert wird die Stadt aber heute durch viele moderne Bauten.

Helge hatte von einer Tafel vorgelesen, während Hilde weitergelaufen war. Sie waren zuerst über den Boulevard gelaufen, dann zum alten Hafen. Ein Kettenkarussell stand auf einem Platz, das schon lange nicht mehr in Betrieb war. Helge stellte sich vor, wie Kinderstimmen in der Hitze des Tages zerblätterten. Hilde war schnell weiter gegangen. Viele Ladenpassagen waren leer, geschlossen. In einigen Fensterscheiben klebten große Plakate, die auf den Leerstand verwiesen und um eine Neuvermietung warben. Ein großes Einkaufszentrum, das erst vor wenigen Jahren gebaut worden war, hatte seine Pforten geschlossen. Durch die großen Panoramafenster war ein Blick auf die weitläufigen, leeren Verkaufsräume möglich. Eine dicke Staubschicht hatte sich auf die Fliesen gelegt. In einem Briefkasten steckte alte Werbung, die hervorquoll.

Es ist so alles anders hier, hörte er Hilde sagen, die plötzlich stehen geblieben war. Ihre Stimme war jetzt weicher als sonst.

Du meinst, es ist ruhiger als bei uns?

Hilde zuckte mit den Schultern. Sie wollte etwas sagen, zögerte aber. Dann überlegte sie kurz.

Nicht ruhiger, sagte sie fast so leise, dass Helge sie kaum verstand. Aber anders. Ich weiß es nicht.

Sie schüttelte den Kopf, als löse sie sich von einem Gedanken und lief weiter. Helge hinterher.

Sie wanderten in der Mittagshitze durch die Gassen. Die Geschäfte hatten geschlossen um diese Zeit. Nur ein Zeitungsverkäufer und ein Obsthändler saßen auf ihrem Stuhl und blätterten in einer Zeitung, die beide nicht lesen konnten. Irgendwann war Helge das Gefühl aufgekommen, sich verlaufen zu haben. Hilde steuerte voraus, als wüsste sie den Weg. Doch irgendwann hatte sie aufgegeben, sich Helge zu gewandt und den Anflug eines Lächelns im Gesicht getragen, von dem er wusste, was sie damit sagen wollte. Er drehte sich einmal im Kreis und zeigte dann in eine Richtung. Hilde drehte sich in die Richtung und lief los.

Wäre dir ein Taxi lieber? Bei der Hitze, sagte Helge.

Aber Hilde lief nur, als könnte sie nicht schnell genug im Appartement zurück sein. Helge war immer drei oder vier Schritte hinter ihr.

 

Sie waren nass zurückgekommen. Während ihrem Weg nach Hause hatte es zu Regnen begonnen und das mit einer Heftigkeit, dass sie sich hatten unterstellen müssen. Aus den Gullys drückte das Wasser. Es trat über die Ufer auf die Gehwege wie das Meer über den Strand peitschte.

Ein kalter Regen, dachte Helge, bis er nachgelassen hatte und sie weiter gelaufen waren.

Zuhause zogen sie sich komplett aus, legten die Wäsche in die Waschmaschine. Sie traten in die Badewanne und duschten sich ab. Helge sah an Hilde herunter, betrachtete ihren festen Po, dann die Brüste. Gerade als er sie berühren wollte, stieg sie wieder aus, um sich abzutrocknen. Er sah ihr nach, wie sie sich nackt eincremte. Dann spürte er, wie er eine Erektion bekam und wandte sich ab.

Zu Abend hatten sie gekocht, aber nur wenig gegessen. Sie hatten viel Wein getrunken und Hilde war früh müde geworden. Helge saß noch etwas auf der Terrasse, hörte dem Regen zu und dachte über das Leben nach, von dem er glaubte, dass es irgendwann auslief. Es wurde dunkel und es wurde Nacht. Helge ging schlafen und bewegte sich so leise, damit er Hilde nicht weckte. Er beobachtete sie noch ein Weile, hörte, wie sie gleichmäßig atmete. Helge dachte, dass sich Hilde verändert hatte.

 

Schon früh am Morgen war Helge wach gewesen, hatte sich mit einer Decke auf die Terrasse gesetzt. Es musste die ganze Nacht geregnet haben, denn der Boden war aufgeweicht und in Rinnsalen lief das Wasser über die Straße. Von oben raste wieder ein Auto heran und am Appartement vorbei. Sie fuhren mit einem Tempo hier entlang, dass Helge den Kopf schüttelte. Eine Katze schlüpfte auf der anderen Seite der Straße unter das Gestrüpp. Die Zikaden hatten aufgehört zu singen, die Landschaft ging in dem Regen unter und der Himmel klarte kaum noch auf. Ab und an sah er in den Himmel hoch. Regenwolken, dunkel, wie Tinte.

Aus dem Appartement hörte er Geräusche. Kurz darauf kam Hilde auf die Terrasse.

Was machst du so früh, hörte er sie fragen. Sie strich das Haar hinter das Ohr. Sie steckte nur in einem Leintuch, das sie sich um den Körper gewickelt hatte. Er sah sie lange an, wie er es schon lange nicht mehr getan hatte. Es wirkte, als schaue er eine Fremde an.

Was ist, fragte Hilde.

Aber Helge schüttelte die Gedanken fort. Ich konnte nicht mehr schlafen, sagte er. Mir ging soviel durch den Kopf.

Hilde lehnte sich gegen die Tür, warf einen Blick zum Meer, der irgendwo kurz davor abstürzte, weil der Regen so dicht und die Landschaft so grau war, das sie kaum etwas erkennen konnte.

Möchtest du, dass ich Kaffee mache, sagte Hilde.

Ich habe keine Lust, sagte Helge.

Hilde ging zurück ins Appartement.

 

Es wurde Mittag, bis der Regen nachließ und schließlich aufhörte.

Wir können zum Strand gehen, sagte Helge.

Hilde nickte. Auf dem Weg zum Strand über den Acker, von dem Helge glaubte, dass es eine Abkürzung war, fragte Hilde, was mit ihnen passiert sei, dass es jetzt so wäre.

Helge sagte, dass er es nicht wisse. Er sagte dann nur, dass sie sich beide verändert hatten, seit dem das passiert war.

Ich habe überall Schlamm an den Füßen, hörte er Hilde sagen, während er über die Pfützen im Acker stieg. Das ist der Regen, hatte er nur gedacht.

Am Strand liefen sie durch den Sand, der schön kühl war, während die Sonne die Luft aufheizte. Die Brandung war laut und über ihren Köpfen kreisten immer wieder Möwen.

So müsste es immer sein, sagte Hilde. Der Himmel ist wild, der Wind ist warm, das Meer stürmisch und doch ist es ruhig.

Helge blieb stehen und sah Hilde an.

Das ist nur, weil du es Zuhause nicht mehr erträgst.

Hilde war weiter gelaufen, ohne etwas zu sagen. Sie sagte kaum noch etwas an diesem Tag. Helge kam es so vor, als wäre es ihr letzter gewesen.

Am Abend, als sie mit Einkäufen zurückgekehrt waren, kochten sie noch Gemüse, etwas Hähnchenfleisch und Kartoffeln. Sie tranken Wein und waren bald müde. Sie gingen früh schlafen.

Am nächsten Tag waren sie früh aufgestanden, hatten Proviant zusammengepackt und die Kamera und alles ins Auto geladen. Kurz bevor sie losfuhren, kam das Pärchen die Straße entlang gelaufen und grüßte auf Deutsch. Hilde war überrascht gewesen, dass sie nur ein zögerliches Hallo hervorbrachte. Helge hatte gar nichts gesagt. Sie trug dasselbe weiße Kleid und er die gleichen Shorts, wie an dem Tag, als sie die beiden zum ersten Mal gesehen hatten.

Ob sie das immer trägt, hörte Helge Hilde sagen. Das starrt doch schon vor Dreck, das Kleid.

Helge startete den Motor und fuhr los. Er freute sich auf die Fahrt durch die hügelige Landschaft und den Leuchtturm.

Es hatte fast den halben Tag gedauert, bis sie an der südlichsten Landspitze angekommen waren. Unter der sengenden Sonne hatten sie einen weiten Fußmarsch gemacht und am Ende den Leuchtturm erreicht. Helge war so begeistert gewesen.

Sowas habe ich noch nie gesehen, sagte er in den Wind hinein, der seine Worte aufs offene Meer trug. Da war nichts außer Meer. Er sah, wie Hilde sich gegen die Brüstung lehnte und der Wind mit ihrem Haar spielte.

Plötzlich stellte er sich vor, wie alles hätte sein können, wäre es anders gelaufen. Er dachte an das Leben zuhause, mit Hilde, das fast zu einem leeren Leben geworden war. Er lief zu ihr und wollte etwas sagen, aber dann.

 

Als sie zurückkehrten, dämmerte es. Helge schaute auf die Uhr, es war kurz nach neun. Hilde sagte, dass sie duschen ginge. Helge setzte sich mit einem Glas Wein auf die Terrasse. Ein Polizeiwagen hielt vor ihrem Appartement. Einer der Beamten lief die Straße rauf, der andere sprach Helge auf Griechisch an. Dann sprach er ein paar Worte auf Englisch. Helge ging zum Tor. Der Beamte drehte sich um und deutete auf einen Fleck auf der Straße. Helges Englisch reichte aus um zu verstehen, dass der Beamte von einer toten Frau sprach, ein Auto, das von da oben gekommen war. Der Beamte deutete auf die Kurve in die Richtung, in die sein Kollege gelaufen war. Helge schüttelte den Kopf und dachte an die Frau mit dem weißen Kleid. Er sagte, dass sie den ganzen Tag nicht hier gewesen wären. Dann stieg der Beamte in den Polizeiwagen, ließ den Motor an und fuhr die Straße hoch. Eine Weile noch sah Helge auf den Fleck auf der Straße.

Als Hilde aus dem Appartement kam, sah sie ihn überrascht an. Helge saß da mit der Flasche Wein, die er fast allein ausgetrunken hatte. Eine Weile lang stand Hilde schweigend da, dann sagte sie, ob alles in Ordnung sei.

Es kam Wind auf und die Brandung war wieder zu hören. Dann regnete es leicht und der Wind frischte auf.

Helge stand auf und stellte sich vor Hilde hin und legte die Hand auf ihren Bauch. Hildes Blick senkte sich.

Werden wir uns verlieren, hörte er Hilde sagen.

Helge sagte kein Wort, er hörte nur ihren Atem.


Zwanzigster Platz : „Es hört nie auf“, Johannes Netter

Man sitzt sich schräg gegenüber, im 90° Winkel zueinander. Sie auf der Couch, er im Sessel, und beide überlegen, wie sie es anstellen könnten, gemeinsam auf die Couch zu kommen. Dass beide das wollen, sieht man ihnen an, aber keiner will Initiative ergreifen. Man könnte die eine oder andere Geste vielleicht doch falsch gedeutet haben und in ihr zu sehr die Projektion eigenen Wünschens wiederfinden. Eine Zurückweisung wäre mehr als nur ein Gesichtsverlust.

Obwohl, wenn er an die erste Begegnung mit ihr denkt, wäre die gemeinsame Couch jetzt der folgerichtige Schritt. Es war ein Kinobesuch, bei dem sie sich kennengelernt haben. Die Langeweile hat ihn nachmittags ins Kino getrieben. Er hat gerade ein spannendes und unterhaltsames Buch zu Ende gelesen. Und jedes Mal mit dem Ende fällt er in ein Loch, wahrscheinlich, weil er von Personen Abschied nehmen muss, die ihm über viele Seiten hinweg nahe gekommen sind.  Abschiede, Trennungen sind ihm immer schon schwer gefallen. Um nicht depressiv zu werden und zur Ablenkung geht er dann meist in den nächstbesten Film.

Es war die Nachmittagsvorstellung um16.00 Uhr. Immer fragt er sich bei solchen Besuchen, wie sich das für den Veranstalter lohnt. Nur ein Dutzend Besucher in einem riesigen Saal. Er sitzt immer so weit hinten wie möglich. So hat er es als Kind gelernt: Im Kino sind die besten Plätze hinten, im Theater vorne. Dazu kommt der Überblick über die anderen Besucher, etwas, das er gerne hat. Freier Rücken und alles im Blick.

Die wenigen Besucher haben sich schnell verlaufen, so dass er sich plötzlich mit einer Dame allein am Ausgang befindet, einer Dame, die sehr rat- und hilflos in die Gegend schaut. Es hat in der Zwischenzeit zu regnen begonnen, und da er ein vorsichtiger Mensch ist, hat er dem Wetterbericht geglaubt und einen Schirm mitgenommen.

Er könnte nicht sagen, warum er sie angesprochen hat, um ihr seine Beschirmung anzubieten. War es ein spontaner Impuls, Hilfsbereitschaft, Kavalier sein zu wollen, oder hat er sie mit einer Figur aus dem letzten Roman in Verbindung gebracht, die er sich als sehr angenehm ausgemalt hat? In seinem Kopf ist die Person jünger und vor allem attraktiver. Er schätzt sie auf sein Alter. Er hat die 70 überschritten und geht stramm auf die 80 zu. Im Gegensatz zu ihm ist sie schlank und rank und überaus  gut und geschmackvoll gekleidet. Ihm kam unwillkürlich der Spruch in den Sinn: Hinten Lyzeum, vorne Museum. Das ist wohl der Preis aller schlanken Frauen, dass sie – zumindest im Gesicht – viele, zu viele Falten haben. Auch wenn er die biologisch-medizinischen Fakten kennt, ansehnlicher werden die Frauen dadurch auch nicht. Früher hat er seine Frauen, wenn sie über die ersten Faltenwürfe geklagt haben, oft dahingehend getröstet, dass es doch schön sei, wenn die Fläche, die er mit Küssen bedecken könne, immer größer werde.

Als sie ihm auf dem Weg zur Trambahn erklärte, wohin sie müsse, meinte er, dass das auch sein Weg sei. Heute weiß er nicht mehr, was ihn zu dieser „Lüge“ veranlasst hat. Es kam so spontan über seine Lippen, wie man einem bellenden Hund unwillkürlich ausweicht, ein Reflex, der es möglich gemacht hat, noch eine Zeitlang beisammen zu sein, zumal ihm die Tram den Gefallen tat, sich zu verspäten.

So erfuhr er von ihr, dass sie zwei Jahre älter ist als er, seit fünf Jahren verwitwet, zwei Söhne hat, die verheiratet sind, Kinder haben und im Ausland leben. Sie selbst wohnt immer noch in dem Haus, das sie mit ihrem Mann vor über 40 Jahren gebaut hat und mit dem sie ebenso lange verheiratet war. Während ihr Mann als Ingenieur tätig und zeitlebens bei Siemens beschäftigt war, arbeitete sie als Lehrerin für Deutsch und Französisch an einem Gymnasium. Sie ging immer in die Schule, als die Kinder klein waren halbtags, dann wieder Vollzeit. Ihre Söhne haben technische Berufe ergriffen. Sie konnte sich mit ihrer Liebe zur Philologie bei ihnen nicht durchsetzen.

Auch er hat Germanistik studiert und nach dem Diplom noch promoviert. Schule als Beruf kam für ihn nicht in Frage. Nach der Promotion hat er die Journalistenschule besucht und arbeitete bis zu seiner Rente bei verschiedenen großen Tageszeitungen. Auch heute schreibt er gelegentlich als Gastkolumnist den einen oder anderen Kommentar. Im Journalismus hat er seinen Traumberuf gefunden.

Zwischendurch mussten beide lachen, dass sie bei ihrem Bildungshintergrund sich so einen Film antun. Es war einer der üblichen Blockbuster, die z. Zt. überall laufen. Beide hätte Mühe gehabt, den Inhalt wiederzugeben, wenn sie danach gefragt worden wären. Als Germanisten kennen sie das Axiom: Die Form ist der Inhalt.  Auch sie hat heute nichts anderes als Ablenkung gesucht. Einer ihrer Söhne hat Ärger in der Arbeit, und wenn sie das erfährt, leidet sie mit ihren KIndern wie früher, als sie trotz eifrigen Lernens schlechte Noten mit nach Hause brachten.

Während der Fahrt ist ihr längst klar geworden, dass er nie und nimmer in dieser Gegend wohnt. Obwohl der Regen mittlerweile nachgelassen hat, gehen sie ganz selbstverständlich gemeinsam von der Haltestelle zu ihrem Zuhause. Vor der Tür wissen beide, dass sie sich wiedersehen wollen, aber auch, dass es jetzt noch zu früh ist, gemeinsam ins Haus zu gehen. Der Abschied fällt etwas ungelenk aus. Der Wunsch nach einer Umarmung ist bei beiden vorhanden, aber keiner will den ersten Impuls setzen, und ein Händedruck scheint ihnen zu wenig zu sein, zu formell. So bleibt es beim Austausch von Telefonnummern und einem zärtlichen Winken.

Das alles war vor vier Wochen. Seither haben sie sich in Restaurants, Cafés und natürlich im Kino getroffen, allerdings zu anderen Filmen.  Heute hat er es gewagt, sie zu sich einzuladen, nachdem er ihr versichert hat, er würde gerne und, wie er meinte, auch gut kochen. Ihre sofortige Zusage hat ihn nervöser gemacht, als er sich momentan eingestehen wollte. Nicht weil er meinte, das Haus besonders aufräumen zu müssen. Das erledigt seit dem Tod seiner Frau vor sieben Jahren zuverlässig eine Putzfrau, die sich auch um seine Wäsche kümmert. Auf seine Tochter, sein einziges Kind, kann er nicht zählen. Sie lebt weit weg in einer anderen Stadt und macht als Juristin Karriere. Einerseits erfreut ihn ihr beruflicher Erfolg, andererseits macht er ihn auch traurig, weil sie alles ihrer Karriere unterordnet, so dass für Familie keine Zeit bleibt, ja nicht einmal fürs Heiraten. Er wäre gerne Opa.

Seine Nervosität rührt daher, dass er am ganzen Körper die kribbelnde Spannung spürt, die sich seit vier Wochen zunehmend aufgebaut hat, und dass er mehr ahnt als weiß, dass sie sich irgendwann und irgendwie entladen muss. So sehr er sich danach sehnt, so sehr hat er auch Bammel davor. Man ist keine zwanzig mehr, auch wenn die Wünsche und Empfindungen die eines Zwanzigjährigen sind. Er war mal schlank, sportlich, durchtrainiert, und ganz unmerklich haben dann die Jahresringe angesetzt, bis seine Freunde einmal sagten, jetzt könne er  dem Spiegeleierverein beitreten. Er hat gar nicht gleich verstanden, was sie meinten, bis ihm klar wurde, dass er, um seine Eier zu sehen, einen Spiegel benötigt. Bisweilen erschrickt er schon, wenn er sich nackt im Spiegel sieht. Sein Gemächt, auf das er einmal – wie er meint: zurecht – sehr stolz war und das er überall hätte vorzeigen können, ist geschrumpft, dass man es kaum mehr wahrnehmen kann. Das liegt nicht nur an seinem dicken Bauch, der es überhängend nicht einfach nur bedeckt, sondern zu verschlingen droht. Seine Rückseite, sein Hintern, von dem die Frauen früher geschwärmt haben, weil er nicht nur schön geformt, sondern auch kräftig und muskulös war, ist fast nur noch eine schlaff herabhängende  Hautfalte.

Und trotzdem kribbelt es in diesem dicken Bauch, wenn er nur an sie denkt. Er kann seine Gedanken auch nicht zurückhalten, ihnen Einhalt gebieten. Er sehnt sich danach, sie nackt zu sehen, auch wenn er ahnt, wie sie wohl aussehen wird. Wie wird er reagieren, wenn sein Bild von ihr zu weit von der Wirklichkeit entfernt ist?  Wie wird sie reagieren, wenn er sich ihr zeigt? Dass sie es will, glaubt er oder besser, hofft er. Was, wenn sie ihn auslacht oder auch nur schmunzelt? Was, wenn er ihren Erwartungen und auch seinen nicht gerecht werden kann?

Sie haben zum Essen eine Flasche Wein getrunken. Im Keller holt er die nächste. Als er zurückkommt, hat sie sich auf der Couch ausgestreckt. Ohne sich die Überraschung anmerken zu lassen, geht er auf seinen Sessel zu, registriert aber sehr wohl ihr verschmitztes Lächeln und vor allem, dass sie ein wenig zur Seite  rutscht.

Wie in Trance nimmt er die Einladung an und da es für beide nichts mehr zu sagen gibt, beginnt er vorsichtig das Terrain abzutasten. Durch die Kleider fühlt es sich gut an. Was ihn am meisten erfreut, ist, dass er zwischen seinen Beinen Leben spürt. Synchron knöpfen sie sich gegenseitig die Hosen auf und strampeln sie sich von den Beinen. Er ist erstaunt, wie schön weich ihre Haut ist. Er hat mit Krampfadern  und Besenreißern gerechnet, aber nichts von alledem war vorzufinden.

Dass ihre Haare gefärbt sind, sah er am Haaransatz, aber dass sie auch ihre Schamhaare gefärbt hat, damit hat er nicht gerechnet. Fast verschämt schauen sie links und rechts ihres erstaunlich knapp bemessenen schwarzen Unterhöschens hervor. Sie kam ihm entgegen, indem sie ihren Hintern leicht anhob, als er Anstalten machte, ihr das Höschen abzustreifen.  Der Schock kam, als sie sich selbst oben rum freigemacht hat. Das ging so schnell, dass er im Nachhinein gar nicht mehr weiß, wie es von statten gegangen ist. Er hat es sich ganz anders ausgemalt. Natürlich wusste er, dass es ein BH ist, was er sieht, aber trotzdem hat ihn die Form angezogen und gereizt. Es war keine überquellende Fülle, die unter der Bluse zu erwarten war, sondern so, wie er es liebt, eine Handvoll. Er wollte sie entblättern, wie man eine Zwiebel schält. Er liebt es, die Brüste in den Händen zu halten und mit ihnen zu spielen. Alles andere würde sich dann schon ergeben.

Und dann das: Sie hat nur eine Brust. Er konnte sein Entsetzen nicht verbergen. Sie hat die Situation gerettet, indem sie unter seinem Bauch das suchte, was durch ihr Zutun wachsen sollte und auch wuchs.

Während er benommen war zwischen seiner spürbaren Erregung und dem Fehlen der rechten Brust, nahm sie das Heft in die Hand, stand auf und ging Richtung  Schlafzimmer. Sie war sich bewusst, dass Männer nicht nur mit ansprechenden Brüsten zu reizen sind, sondern auch mit einem schönen Hintern, und einen solchen hatte sie trotz ihres Alters. Sie hat kein weit ausladendes Becken, auf das die Hinterbacken wie angeklebt wirken würden. Die beiden Gesäßhälften setzen sich nicht ab von der restlichen Rückansicht, sondern bilden sie. Es macht ihn an, wie selbstverständlich sie nackt durch seine Wohnung geht, und er kann sich gar nicht satt sehen, wie die Rundungen hin zur Pospalte bei jedem Schritt leicht gegeneinander reiben. In Gedanken lässt er einen seiner Finger die Spalte hinabgleiten.

Während er noch ins Bad geht, macht sie es sich, nachdem sie die Vorhänge zugezogen und die Stehlampe in der Ecke angeknipst hat, unter der Bettdecke bequem. Als er kommt, versucht er seinen Bauch etwas einzuziehen, um eine bessere Figur abzugeben, lässt es aber schnell sein, da er merkt, so viel kann er gar nicht einziehen, wie nötig wäre.

Beide sind keine Teenager mehr und wissen, was jetzt kommt und was zu tun ist. Trotzdem liegen sie unschlüssig nebeneinander, obwohl jeder spürt, wie es den anderen nach berühren und berührt werden drängt. Dann beginnt sie zu erzählen von ihrer Krebserkrankung, von der Operation, der Chemo und der Bestrahlung und wie glücklich sie ist, dass sie sich durchgesetzt hat und nicht beide Brüste hat amputieren lassen. Die eine war nicht mehr zu retten, aber die andere ließ sie sich Brust-erhaltend operieren, obwohl die Ärzte zu einer Radikalmaßnahme rieten, mit der mehr zwischen den Worten  geäußerten  Frage, wozu sie in ihrem Alter ihre Brüste noch bräuchte.

Sie spürte, dass auch er etwas sagen wollte. Obwohl sie sich kaum mehr zurückhalten konnte, ließ sie ihm Zeit, denn das Schweigen, das zwischen ihnen war, musste erst weggeredet werden. Unvermittelt meinte er, sie wären in gewisser Weise Leidensgenossen, und berichtete von seiner Prostataoperation.  Man hat den Krebs bei ihm so zeitig entdeckt, dass Potenz-erhaltend operiert werden konnte. Als er schmunzelnd meinte, sie bräuchten nicht aufpassen, da er durch die Operation zeugungs-, aber nicht potenzunfähig  sei, war das Eis gebrochen.

Die Körper wussten plötzlich, was zu tun war. Sie drehten sich einander zu, ließen die Beine nach Lücken suchen, während die Münder einander fanden. Beider Hände wussten gar nicht, wo sie zuerst hin fassen sollten. Sie empfanden zwei Hände viel zu wenig für das, was sie begehrten. Die fehlende Brust, sie fehlte plötzlich nicht mehr. Er war mit der einen vollauf beschäftigt. Sie war weich, geschmeidig und die Hand vollständig ausfüllend. Das Spiel mit dem Nippel war für beide erregend. So hatte er die andere Hand frei und konnte sie – viel zu schnell – den Rücken hinunter wandern lassen, bis er endlich ihren Hintern zu fassen bekam.

Vor Überraschung hielt er kurz inne, als er zwischen ihren Beinen Feuchtigkeit spürte. Sie muss sich, während er im Bad war, Vaginalgel zwischen die Beine geschmiert haben, das in ihrer Handtasche war, die sie unbemerkt mit ins Schlafzimmer genommen hatte. Ein Augenaufschlag und ein leises Grinsen bestätigten seine Vermutung. Jetzt wollte er ihr zeigen, dass sie nicht umsonst vorgearbeitet hat und dass ein Kopfstand nicht nötig sei.

Sie müssen beide anschließend kurz eingenickt sein. Es hat einige Zeit gedauert, bis sie registriert hat, dass sie sich in einem fremden Schlafzimmer befindet. Seine Einladung, bei ihm zu übernachten, hat sie ausgeschlagen. Beiden war klar, dass es einen Unterschied macht, miteinander zu schlafen oder miteinander aufzuwachen. Diese Intimität wollten sie noch nicht miteinander teilen.

Er hat sie nicht mit der Tram nach Hause begleitet, sondern ihr ein Taxi gerufen. Als sie ihn am nächsten Tag anrief, noch ganz trunken von dem vergangenen Abend und in der Vorfreude auf die kommende Nacht, sagte eine freundliche, aber mechanische Stimme immer wieder: Kein Anschluss unter dieser Nummer.   


Einundzwanzigster Platz : Hydra“, Sonja Reichel

Die Firma gibt sich erschüttert. Es hat einen Amoklauf gegeben in einem Büro in Übersee. Einer der Angestellten richtete die Waffe auf seine Exfrau, seinen Vorgesetzten und erschoss dann sich selbst. Eine Tragödie. Ein unvorstellbarer Schrecken. Wir verharren im Schock. Wir trauern.

Luca bohrt ihren Bleistift so tief ins Papier, dass die Spitze bricht. Der Sommer klebt an ihr wie ein lästiges Insekt. Sie sitzt in ihrem Büro und verdaut die Floskeln des obersten aller Bosse, der einstudiert hat, wie man zu reagieren hat. Auch wenn das Herz kalt bleibt, muss man vorgeben, man hätte eins, und wenn man nicht von selbst darauf kommt, sind da die persönlichen Assistenten, die soufflieren und Texte in die Tasten hauen, als Ghostwriter, um den Geist des Unternehmens zu retten, den Geist, den es vorgibt zu haben, in den Hochglanzbroschüren, die alles ins rechte Licht rücken. Die von Teamgeist faseln, von Persönlichkeiten, die in Wirklichkeit eine Phalanx gleichgeschalteter Narzissten sind, berauscht vom Erfolg, der aus Macht und Geld besteht, der zur Schau getragen wird, täglich aufs Neue, die ewige Rückversicherung, dass es das Leben jetzt gut meint mit einem.

Doch unten im Kaffeesatz der Seele kann man lesen, von der Unsicherheit aus der Schulzeit, denn in der Schule ist man nicht nett zu denen ohne Charisma, noch dazu wenn sie unsportlich sind.

Luca sieht ihre Kollegen vor sich, als gehänselte Schüler, die als letzte gewählt wurden im Sportunterricht, die sich Rache schworen, damals, als sie ausgelacht wurden beim Turnen, die sich Rache schworen, damals, als sie kein Mädchen eines Blickes würdigte, und das Studium wählten, das Macht versprach: Wirtschaftswissenschaften, Management, Neigung hin oder her. Sie würden sie hinunterwürgen, die dicken Brocken, bis sie nicht mehr aufstießen, bis sie sie verdaut und verinnerlicht hätten. Mit diesem Bodensatz würden sie sich entschädigen lassen für das, was ihnen widerfahren war.

Sie suchten sich Frauen, die auf Prestige ansprangen und erduldeten, dass sich ihre massigen Körper ab und zu wie unappetitliche Teigfladen auf sie legten. Luca sah die Ehefrauen vor sich, die während des Beischlafs an das große Haus dachten mit den tiefen Glasfenstern, vor allem aber an die Geschäftsreise, die ihnen Zeit geben würde zum Verschnaufen, wenn sie mit den anderen Gattinnen in ihren Villen sitzen und über ihre Männer lästern würden, die sie so hassten und doch so dringend brauchten.

Was machte sie hier?

Sie war hier hineingeraten, für ein, zwei Jahre, dachte sie, doch sie hingen bald wie Vampire an ihr und saugten sie aus. Blutleer war sie an den Abenden, zu blutleer, um Bewerbungen zu schreiben, eine Idee zu haben. Anfangs war sie noch geblendet von der neuen Arbeitswelt, die beherrschbar schien, dazu angemessen bezahlt, und sie musste ein paar Schulden begleichen, also Augen zu und durch, so schlimm würde es schon nicht werden.

Es wurde schlimmer. Immer öfter fühlte es sich an, als würde sie ihren Geist prostituieren, ihr Talent auf den Strich schicken. Doch sie wurde ruhig gestellt mit Aufgaben, deren schiere Menge kein Innehalten zuließ und die an Stupidität nicht zu überbieten waren. Manchmal hörte sie ihre grauen Zellen rebellieren: Luca, wir brauchen Nahrung, Hirnnahrung, füttre uns mit Qualität! Wofür hast du studiert, für digitale Fließbandarbeit zum Verblöden?

Hatte sich der Amokläufer das auch gefragt?

Was war der Auslöser, der bei ihm den Schalter umlegte, dass er an diesem Morgen die Waffe nahm, entsicherte und den vertrauten Weg beschritt, ein letztes Mal?

 

Denn auch ein Bürogebäude mit modernem Interieur vermag nicht gegen die Grabenkämpfe anzukommen, gegen diese Garde der Alphatiere, die sich täglich zerfleischen und ihre Wut bei einer Niederlage nach unten abgeben, die treten und tadeln, den Mitarbeiter nicht erkennen, weil sie nur mit sich beschäftigt sind.

Survival of the fittest. The fittest: Skrupellos, intrigant, ohne Empathie. Tut doch nicht so, als hättet Ihr es nicht kommen sehen. Wer ist Täter, wer ist Opfer? Luca kann die Verzweiflung des Amokläufers verstehen. Wer zu oft getreten wird, tritt irgendwann zurück. Ein Amoklauf aus Ohnmacht. Ohn-Macht. Ohne Macht.

Ja, Ihr Firmenbosse. Wer die Angestellten so drangsaliert, wer täglich spitze Bemerkungen verteilt, wohl dosiert, braucht sich nicht zu wundern, wenn ein Untergebener durchdreht. Zu lange hat er sich nicht gewehrt, weil er die Verletzung erst bemerkt hat, als es zu einer Reaktion zu spät war. Und selbst wenn er sich wehrt, kommen weitere Hiebe dazu, doppelt, wie bei Hydra, deren Köpfen nicht beizukommen war, und er droht überzulaufen an diesen blauen Seelenflecken, bis er eine Drohung wird für die Welt. Dazu private Probleme, die Frau, die geht und sagt, deine Augen haben aufgehört zu leuchten, und die Waffe, die er ohnehin jeden Tag in der Hand hält, eine enge Vertraute, deren Gewicht er vor dem Schlafengehen wiegt, bevor er sie in die Schublade legt, griffbereit.

 

Luca fragte sich jeden Morgen, warum sie wieder in dieses Büro ging, zu diesen verhassten Kollegen. Hätte einer dieser Anzugträger sie in einer Bar angesprochen, sie hätte sich weggedreht. Hier zieht sie ihren Mund in ein gequältes Lächeln. Das Pflichtprogramm. Auf die Kür warten sie vergeblich.

Doch es ist nicht immer so gewesen. Sie hatte dort angefangen, als das kleine europäische Tochterschiff gerade in See gestochen war, mit einem Team voller Tatendrang, die Anzüge wie eine Verkleidung. Die Menschen darin voll Farbe. Sie selbst durfte selbständig handeln, denken, veranlassen. Mit den Jahren kam die Freiheitsberaubung. Das mächtige Mutterschiff walzte mit einer Bugwelle alles nieder, kontrollierte die kleinste Handlung, legte sie in Ketten, nahm die Luft zum Atmen. Wer zu wenig Sauerstoff hat, zu ersticken droht, tritt um sich, wird rücksichtslos. Vertrauen wird ersetzt durch Misstrauen. Lob löst sich auf in Kritik. Der gestreckte Zeigefinger, der einmal zeigte, hier, wir machen das gerne, deutet nun auf andere und sagt: Er oder sie ist schuld. Wir suchen keine Lösungen, wir finden den Schuldigen. Der Pranger ist eine Rundmail gerichtet an den Sünder, mit der halben Firma in Kopie. Could you let us know what happened? (Fuck you!)

 

Ein inneres Tourette-Syndrom, mit was für Begriffen sie ihre Kollegen belegt. Spräche sie sie aus, ein fristloser Kündigungsgrund. Stattdessen seichtes Geplänkel in der Mitarbeiterküche, während sie sich einen Cappuccino zubereitet. Wie es ginge. Gut, und selbst. Gut. (Ihr mich auch). Sie schluckt die hässlichen Begriffe herunter, die wie auf einer inneren Müllhalde verrotten. Wie lange noch, bis sie selbst hässlich wird?

Ihr Freund findet sie schön, immer noch. Lucaccia, nennt er sie, in Anspielung auf Foccacia, das italienische Gebäck, meine Lucaccia, mein täglich Brot, ohne dich würde mein Herz verhungern. Wenn er wüsste, wie schadstoffhaltig jeder Bissen ist. Er ahnt nur von ihrem Giftmülldepot. Noch kann sie es unter Verschluss halten, sobald sie das Büro verlässt. Wie lange noch? Sie muss aufpassen.

Auf ihr Selbstbewusstsein hat sie nicht achtgegeben. Es wurde ihr nach und nach aus der Hand gerissen. Wer jeden Abend mit leeren Händen dasteht, glaubt irgendwann nicht mehr an sich. Hat das Gefühl, nichts zu können. Denn wer sollte sie wollen, wer, so wie sie sich fühlt? (Sie fühlt sich nicht mehr. Spürt dieses Urvertrauen nicht mehr, dass sie mit ihren Talenten schon etwas fände, auch, wenn es dauert, es wäre doch gelacht.)

 

Dazu ihr Vorgesetzter, der sie beide gerne über einen Kamm schert, sie warnt vor unüberlegten Handlungen, wenn er spürt, dass sie sich umhört. Denn der Karriereweg will durchdacht sein und er beschwört eine Ähnlichkeit herauf, die es nicht gibt, nicht geben darf. Vor den Abteilungsleitern gibt er sich stark, doch er ist ein Hypochonder, der wegen Kleinigkeiten zu kollabieren droht. Er stöhnt unter seinem Arbeitspensum, das sich im Delegieren erschöpft, selber Hand angelegt hat er schon lange nicht mehr, zu geschickt beansprucht er für sich das Monopol des letzten Wortes.

Ich bin der Boss, basta, ich schreibe die Regeln und messe mit zweierlei Maß. Seine Pole: Zuckerbrot und Peitsche, Hilflosigkeit und Tyrannei. Nur mit seiner Unberechenbarkeit kann sie rechnen. Ihr Urlaubswunsch ist gestrichen wegen seines Jetlags, ihr Ansinnen auf eine Auszeit eine Anmaßung, wenn er noch zwischen den Zeitzonen hängt und nicht voll einsatzfähig ist. Auf Luca wartet dann ihr Einsatz als Krücke, auf die er sich mit seinem ganzen Körper stützt. Und er ist schwer geworden. Es ist lächerlich, dass er damit durchkommt, trotz des Arbeitsrechts auf ihrer Seite, aber es gibt niemanden, an den sie sich wenden kann, zu eng verbandelt ist ihr Chef mit der Führungsetage. Eine Hand wäscht die andere, sie sind sich gleich im Foulspiel und der Blindheit für die anderen. Schlucken, den Groll schlucken. Wie oft, bis sie Schaden nimmt?

Ihr Vorgesetzter glaubt, sie hätten ein gutes Verhältnis, plaudert Details aus dem ehelichen Schlafzimmer aus, obwohl es von dort nur wenig zu berichten gibt. Immerhin nimmt er noch ihren Blick wahr, der eindeutig signalisiert, dass er eine Grenze überschreitet. Trotzdem brüstet er sich mit irgendwelchen Frauen, die auftauchen aus dem Nichts, aus der Vergangenheit, aus dem Irgendwo; Frauen, die angeblich alle etwas von ihm wollen, und während Luca diese Fehleinschätzungen über sich ergehen lässt, fragt sie sich, wie er ein derart verzerrtes Selbstbild haben kann.

Steck mich nicht mit dir in dieselbe Schublade, uns verbindet nichts außer demselben Arbeitgeber und wenn ich es schaffe, eines Tages zu gehen, wird uns nichts mehr verbinden, nichts, hörst du, du widerlicher, selbstgerechter, du weißt schon.

 

Die Firmenbosse beschränken sich derweil auf ihr Fachgebiet und satteln ihr Steckenpferd, reiten es bis zur Besinnungslosigkeit, bringen es auf Goldkurs. Menschlichkeit, Toleranz und Größe sind ihnen fremd. Ihre Lebensuntauglichkeit im Alltäglichen federn die Assistenten ab: Sie drucken aus und bestellen einen Blumenstrauß für die wartende Gattin zuhause, und alles ohne Widerworte, denn einen weiteren cholerischen Anfall des Chefs wollen sie nicht riskieren. Zu oft sind die Worte schon wie Geschosse durch das Büro geflogen, ließen leere Patronenhülsen zurück. Die Putzkolonne am späten Abend würde die Spuren beseitigen. Die sichtbaren.

 

Wie viele Patronenhülsen hatte der Amokläufer aufgesammelt und mit nach Hause genommen? War es nicht nur eine Frage der Zeit, bis er auch volle Patronen fand?

 

Die Sonntagnächte sind am schlimmsten. Luca kommt im Angesicht der bevorstehenden Woche nicht zur Ruhe und wacht über ihre eigene Schlaflosigkeit. In dunklen Ringen lagert sie sich unter ihren Augen ab, färbt sie violett. Erst wenn sich etwas Helligkeit abzeichnet in den Montagmorgen hinein, entkommt sie der Wirklichkeit für ein paar Stunden, doch auch dort wird sie verfolgt in rasanten, verwirrenden Traumsequenzen.

Luca blickt in Waffenmündungen, hat Blut an den Händen, fremdes Blut, ihr Vorgesetzter ist nicht mehr als eine Pappfigur, die in einer Lache aus Blut steht, doch auch aus Papier bellt er seine Befehle, seine Stimme als abgelegter Tinnitus in ihrem Ohr, ohne Stopptaste, so laut, als rufe er in ein Megafon. Dann wieder fließt das Blut aus ihr, aus einem Einschussloch, das sie übersehen haben muss, hektisch versuchen ihre Finger, sich darauf zu legen, das Loch zu stopfen, doch wie soll man Löcher stopfen, die unauffindbar sind?

„Luca“, ihr Freund sieht sie aufmerksam an.

„Was?“ Sie schreckt hoch, hat das Gefühl, Gliedmaßen aus Beton zu haben.

„Ist dir nicht gut? Du bist kreidebleich.“

„Ich kann nicht aufstehen. Ich kann da nicht mehr hin.“

„Dann bleib doch heute zuhause.“

„Ich kann da nie wieder hin. Weil ich sonst sterbe. Oder jemand anderes.“

Und dann bricht sie zusammen, der aufgestaute Druck der letzten Jahre entlädt sich in einem Tränenkrampf, der nicht aufhört, nicht nach 30 Minuten, nicht nach einer Stunde. Ihren Körper schüttelt es wie nach einem Trotzanfall, der Tage gedauert hat. Ihr Freund wiegt sie wie ein Kind und ruft irgendwann einen Arzt, weil er sich nicht mehr zu helfen weiß. Ihr nicht mehr zu helfen weiß.

 

Es ist ruhig. Friedlich. Luca sieht auf ein Meer, das heute wie eine Ebene in der Landschaft liegt. Der Arzt hat ihr eine Auszeit verordnet. Damit sie ihre Richtung wiederfindet. Und je länger sie schon weg ist aus der Firma, desto besser geht es ihr. Sie besinnt sich. Auf das, was sie ausmacht. Sie erkennt, dass nichts davon mit der Firma zu tun hat. Die Firma wird zu einer verunreinigten Erinnerung, ihre Tentakel reichen nicht in die Gegenwart. Zu viel Abstand hat sie aufgebaut. Die Klügere gibt nach. Sie hat die Kündigung eingereicht. Per Einschreiben, das einen Stempel aus dem Ausland trägt. Ich komme nicht zurück zu euch, weil ich wieder bei mir bin.

Die Menschen, denen sie begegnet, lächeln sie an. Überhaupt lächeln die Menschen hier öfter. Die Sonne hilft ihnen dabei. Einer von ihnen hat ihr einen Job angeboten. Das Meer verliert sie nicht mehr aus den Augen.

Dass sie das vergessen konnte. Ihren Schwur aus Teenagerzeiten, als Erwachsene am Meer zu leben. Es brauchte den goldenen Käfig in der Firma, um es endlich zu begreifen. Im Zusammenbruch zu begreifen, dass sie den Käfig nur öffnen braucht und fliegen kann. Egal, wohin sie will. Das hättet Ihr nicht gedacht, Ihr, die Ihr mit der Angst regiert. Brich nicht aus, Luca, die Welt könnte dich mit einem Nackenbiss töten. In deinem Alter musst du deine Zukunft mit Bedacht wählen. In deinem Alter. Als sei sie mit 40 nicht mehr vermittelbar. Sie blenden dich so mit ihren Gefahrszenarien, dass du nicht bemerkst, dass sie dich längst umkreisen wie Aasgeier, weil sie sich an deinem Fleisch weiden wollen.

Hier ist sie umgeben von einer Sprache, an deren Laute sie sich nach und nach erinnert, weil sie zu Schulzeiten gelernt hat, sie richtig zusammenzusetzen, mit ihnen Sätze zu bauen als wären sie Bauklötze. Die Silben sind alle abgelegt in ihr und müssen nur reaktiviert werden. Immer schneller erwachen sie aus der Passivität und Luca hat Freude daran, diese fremde Sprache aus ihrem Mund zu schicken, als wäre sie schon lange ein Teil von ihr.

Tesoro, und ihr Freund lacht durchs Telefon, als er hört, dass sie ihn auf Italienisch Schatz nennt, Schatz, dieses Wort, das ihr auf Deutsch zu abgegriffen vorkam, es für so jemand Besonderen wie ihn zu verwenden. „Hatte ich doch recht damit, dir einen italienischen Spitznamen zu geben, meine Lucaccia, als hätte ich es geahnt, immer geahnt, dass ein Teil von dir nach Italien gehört. Ich lande übrigens morgen früh. Die erste Maschine aus Köln. Und ein Vorstellungsgespräch habe ich auch.“

Luca ist wieder ansteckend. Sie und ihre Lebensfreude. Ihr Freund, der so verwurzelt schien mit seiner Heimat im Rheinland, denkt über einen Umzug nach Italien nach.

Wer weiß, was passiert wäre, wenn ihr Körper ihr nicht Einhalt geboten hätte, nachdem sie jahrelang sämtliche Signale ignoriert und beiseite geschoben hatte? Vielleicht hätte ihr Freund sie verlassen und dabei gesagt, deine Augen haben aufgehört zu leuchten, Luca, ich ertrage deine toten Augen nicht, so, wie es die Frau des Amokläufers gesagt hatte. Wer weiß, zu welcher Waffe sie, Luca, gegriffen hätte?

Der Gedanke verweilt nur kurz in ihr und wird weggetragen vom fröhlichen Gespräch zweier Italienerinnen, die neben ihr im Café Platz nehmen.

Wir sehen uns morgen.


Zweiundzwanzigster Platz : Flecken“, Grit Krüger

Hon’, ich würde dir so gerne einmal wieder schreiben. Ich hab’s oft versucht, glaub mir.

Seit letzten Monat haben wir hier kein Internet mehr. Mara hat die Rechnung wieder nicht bezahlt. Ich hab’s mit Papier versucht, wie damals, aber das ist total beschissen. Ohne die Tastatur fehlt mir der Beat und meine Schrift sieht aus wie die eines zitternden Insekts. Am Ende sitze ich immer in einem Haufen Fetzen. Das einzige, von dem ich eine Weile lang glaubte, ich könnte es verschicken, habe ich so lange unter dem BH mit mir herumgetragen, bis der Schweiß die Tinte gelöst hat und ich die Hälfte davon nicht mehr lesen konnte. Wenn ich jetzt wieder tippe, macht mich das Geräusch nervös, das Hasten, das Plastik. Aber ich versuche es weiter, Hon’, immer weiter, damit du irgendwann verstehst, warum ich so lange nicht antworten konnte.

Mara geht es nicht gut. Seit einigen Tagen ist es schlimmer geworden. Sie hat sich den Router an den Schreibtisch geholt und versucht immer wieder, trotzdem ins Netz zu kommen. Stoisch wie eine Fliege am hellen Fenster. Mittlerweile geht sie nicht mehr ins Bett, sondern schläft am Tisch ein. Ich habe sie eben dort gefunden, ein Ärmel hat sich an einem leeren Teller mit Soße voll gesaugt, ihr Kopf ist ihr auf den Arm gesackt. Wenn sie das Haus verlässt, dann nur morgens, bevor ich aufwache – meistens ist sie bis zum Abend wieder zurück. Sie sagt dann, dass sie ihre Mutter besucht hat.

 

Vor zwei Wochen wurde es richtig eng. Wir waren so pleite wie noch nie und hungrig wie magere Hunde. Ein halbes Netz Zwiebeln hatten wir noch und ein paar von diesen winzigen Ketchup-Packungen. Ich war verzweifelt genug, zu versuchen, daraus eine Suppe zu kochen. Mara ist hoch auf den Dachboden, um zu schauen, ob sie nicht doch noch irgendwelchen Kram vom Vorbesitzer runter holen konnte, den wir irgendwie hätten zu Geld machen können. Da war nichts mehr, das wusste ich. Ich hatte sogar den Plattenspieler schon verkauft, den ich eigentlich behalten wollte – die haben mir 10 Euro dafür gegeben. Runter kam sie mit zwei Pappkartons voll Videokassetten und forderte mich dazu auf, mit ihr nachzusehen, was das für Filme seien. Allein schon, weil sie wieder etwas vorschlug, an dem sie mich teilhaben lassen wollte, stimmte ich zu. Der alte Röhrenfernseher und ein Videorekorder standen noch in der Ecke im Wohnzimmer. Viele der Kassetten funktionierten nicht mehr – auf den paar, die doch noch etwas abspielten, war nur belangloses Zeug: aufgenommene Filme aus den Achtzigern, eine Tanzaufführung mit Grundschülern in Katzenkostümen. Sie legte trotzdem akribisch jede einzelne ein. Mir wurde das schnell zu blöd und ich verzog mich in mein Zimmer. Kurz danach aber rief sie mich zurück.

Schon im Nachbarzimmer hörte ich die Tonspur, Mara hatte den Fernseher laut gedreht: dumpfe Geräusche, ein Wummern im Hintergrund, dazu Stimmen, die man kaum gut genug verstand, um sagen zu können, in welcher Sprache sie sprachen. Auf dem Bildschirm waren zwei Körper in einem altmodischen Zimmer zu sehen, Nussholzschrankwand, ein Bild mit einem Fasan an der Wand. Ich erkannte ein Mädchen von hinten, das auf einem wuchtigen Holzstuhl saß, der mit einem dunklen Fell bedeckt war. Sie hob sich mit trägen Bewegungen Kirschen aus einer Schale auf der Lehne an die Lippen. Ihr gegenüber stand ein Mann, man sah ihn nur von den Schultern abwärts, sein Hemd war aufgeknöpft, die Brust behaart. Das Mädchen trug nichts außer einem cremefarbenen Schal, es konnte nicht älter als fünfzehn sein. Während es aß, beugte es den Kopf einmal zu dem Obst, dann zu dem Gesicht des Mannes. Spätestens als es aufstand und der Mann die Arme nach ihm ausstreckte, wollte ich das nicht mehr sehen.

Mara sah hin. Ich versuchte ihre Gesichtszüge zu deuten, aber keine Regung ließ erkennen, was in ihr in diesem Moment vorging. Selbst als ein helles Geräusch aus dem dumpfen Wummern herausstach, das mich zusammenzucken ließ, regte sie sich nicht. Da war ein roter Glanz auf dem Bildschirm und ich sah das Mädchen, immer noch mit dieser Trägheit in ihren Bewegungen, einen Kirschkern in die Schamhaare des Mannes flechten. Nach Ende des Films blieben wir noch eine Weile vor dem flackernden Bildschirm sitzen.

 

Ein paar Tage später stand Mara im Morgengrauen in meiner Zimmertür. Sie trug einen meiner Kapuzenpullover. Ob ich sie fahren könne, wollte sie wissen und reichte mir einen zerknitterten Schein für die Tankstelle. Erst im Auto fragte ich sie, wohin. Es ging nach Norden, zu einem dieser leeren Dörfer, bei denen einem hinter dem Ortsschild nichts als gefasste Trauer erwartet – ich kannte den Weg ungefähr. Im Autoradio hatte ich noch die alte CD von den Babyshambles, die du dort gelassen hast. Von draußen trommelte der Regen auf das Autodach, innen trommelten die dünnen, weißen Finger von Maras rechter Hand auf das Armaturenbrett. Hon’, ich hör immer noch, wie es trommelt: innen und außen, der Regen und wir. Wärst du dagewesen, hätte es so anders geklungen.

Mit der Linken drückte Mara sich die Videokassette, eingewickelt in eine Plastiktüte, eng an die Brust. „Einen Tausch,“ sagte sie, als ich sie fragte, was wir dort wollten „einen Tausch nach meinen Regeln. Ich will ein Gesicht sehen, keine Polizei. Ich hab das klar angesagt. Jemand will sich daran halten, also fahren wir mit der Kassette hin und lassen uns in die Augen sehen.“

Ihre Worte brachten mich dazu, heftig auf das Lenkrad zu schlagen, dabei brach ein nervöses Quietschen der Hupe hervor. Wir waren mitten auf einer Landstraße, neben uns in den Feldern sprangen die Kaninchen wie in einer Explosion auseinander. Ich bog in einen Feldweg ein und forderte sie dazu auf, die Kassette zu zertreten und im Dreck zu vergraben, aber sie schüttelte nur den Kopf und presste die Kassette näher an sich. Heiser versicherte sie mir mehrfach, dass der Käufer nichts mit der Polizei zu tun habe, dass wir uns damit in nichts, gar nichts, reinreiten würden. Sie wollte mir nicht sagen, was das für ein Tausch ist und wo sie dieses Angebot gemacht hatte. Meinen Bedenken gegenüber zuckte sie mit den Schultern, bis ich sie daran packte und schüttelte. Es ging so weit, dass ich sie aus dem Auto in den Schlamm stieß.

Am Ende war ihr Wort Granit: Nach über einer Stunde ließ ich sie nicht auf dem Feldweg zurück, sondern saß wieder neben ihr im Auto und fuhr weiter nach Norden.

 

Wir fuhren noch lange. Das Navi war kaputt und Mara nicht gut darin, die Karte zu lesen. Die meiste Zeit über hatte sie sie achtlos neben ihren Sitz geklemmt, deshalb verpassten wir mehrere Ausfahrten. Es war Mittag, als wir ankamen und auch vor Ort mussten wir noch einige Zeit umherfahren, bis wir die richtige Adresse gefunden hatten. Wir konnten keine Passanten danach fragen – zumindest darin waren wir uns einig. Den ganzen Tag hatte es nicht aufgehört zu regnen, deshalb waren ohnehin kaum Menschen auf der Straße. Ein paar Mal mussten wir anhalten und aussteigen, um nach Straßenschildern und Hausnummern zu suchen. Manchmal spürte ich den Blick der alten Frauen hinter den Fensterscheiben in meinem Rücken, wenn wir uns zu lange an einer Ecke aufhielten.

Die Adresse führte uns bis an den Ortsausgang, an ein altes Fachwerkhaus mit einem Dach aus dunklen Ziegeln, das durchhing wie eingefallene Wangen. Der Regen hatte eine Seite der Fassade ergrauen lassen. Ein Gartenzaun, dicht bedrängt von Himbeersträuchern, grenzte ein kleines Grundstück um das Haus ab. Es gab kein Schloss am hüfthohen Tor, aber die Angeln waren rau, sodass man etwas Kraft aufwenden musste, um es zu öffnen.

 

Als wir vor der Tür standen, waren wir so durchnässt, dass uns das Haar an der Stirn klebte. „Schaber“ stand als Name am Klingelschild. Mara zögerte, bevor sie klingelte – ich glaube, sie zitterte nicht nur vor Kälte. Im Inneren des Hauses knarzten ohne Eile Schritte zur Antwort. Zuerst sahen wir eine schlanke, altersfleckige Hand, die die Türkette entfernte, dann erst das Gesicht einer Frau, die Haut trocken und weiß wie Papier. Ihre Stimme hatte einen feuchten Klang, sie musste eine merkliche Anstrengung in sie hineinlegen, damit sie uns in klaren Worten hineinbitten konnte. Sie war nicht klein, aber wirkte sehr zierlich, ihr Haar trug sie in einem Knoten im Nacken, der kaum größer war, als eine Maus. Die Luft aus dem Flur kam uns schwer entgegen: Kaffee, Flieder, Rauch und Desinfektionsmittel. Ich sah rüber zu Mara – ein kaum merkliches Nicken – und trat ein. Sie war es, die einen Moment auf der Schwelle verharrte, die Kassette noch enger an den Körper gepresst.

Der Flur war dunkel und beengend. An den Wänden reihten sich Regale, deren Bretter sich unter dem Gewicht von Büchern, Kunstpflanzen und Nippes in der Mitte durchbogen. In die Ecken schmiegten sich Mäntel, in den Schatten warteten Kisten und Regenschirme. Sie führte uns links ab in eine Küche und bat uns, am Tisch Platz zu nehmen. Dort hieß sie uns, einen Augenblick zu warten und verließ das Zimmer. Auch in der Küche war es sehr eng: Wo keine Möbel standen, lauerten Küchengeräte, Körbe, Vorräte – kaum ein Zentimeter Boden fand sich, der nicht mit einer Box voll Konserven oder einigen Rollen Geschenkpapier zugestellt war. Trotzdem war es sehr sauber, die Tischdecke so weiß, dass sie im Halogenlicht in den Augen stach, wenn der Blick zu lange auf ihr verweilte. Ein Geräusch hinter mir ließ mich den Kopf drehen. Eine der Kisten auf dem Boden war höher als die anderen und mit einer mattgrünen Wolldecke ausgelegt, darin lagen drei graue Katzenjungen: zwei schlafend, eines war gerade mit einem leisen Fiepen erwacht. Ich kniete mich daneben und streckte meine Hand hinein, bis sich der kleine Körper sanft und warm daran rieb.

Die Frau kam mit zwei warmen Handtüchern zurück. Sie lächelte, als sie mich bei den jungen Katzen sah. Müde sah sie aus, sehr müde. Mara rieb sich Gesicht und Nacken trocken, bis sie rot wurden und ließ ihre Füße unter dem Küchentisch wippen. Auf einem Service mit Goldrand servierte die Frau uns heißen Lindenblütentee, dazu Gebäck mit Hagebuttenmarmelade. Nachdem unsere letzte Mahlzeit aus Zwiebeln mit Ketchup bestanden hatte, griffen wir zu, ohne lange darüber nachzudenken. Mara kaute langsam, gründlich und hörte sehr genau zu, als unsere Gastgeberin erzählte, wie sie die Marmelade im letzten Herbst selbst gekocht habe und dass man kaum noch welche kaufen könne, die ihren Namen wert sei. Mitten in einen ihrer Sätze hinein legte Mara die Kassette auf den Tisch. Die Frau sprach zunächst zu Ende, nahm noch einen Schluck aus der Teetasse und machte erst dann Anstalten, danach zu greifen. Mara ließ ihre Hand jedoch fest auf der Kassette liegen, fast war es, als würde sie auf das Supermarktlogo der Plastiktüte schwören. „Gut,“ sagte die Frau – eine Silbe war genug, damit ihre Stimme die Tonart wechselte.

Wieder verschwand sie kurz aus dem Zimmer. Diesmal kam sie mit einem unbeschrifteten Briefumschlag wieder, den sie Mara reichte. Mit erwartungsvollen Blick wurde er an mich weitergereicht. Er war nicht zugeklebt, ich blickte hinein und tat, als ob ich die Scheine darin zählen würde. Vielleicht 300 Euro mussten es gewesen sein. In Wahrheit aber brachte ich es kaum fertig, zu schätzen – ich war zu erleichtert festzustellen,  dass es bei diesem Tauschgeschäft um Geld ging. Mara hatte das nie ausgesprochen. Obwohl ich nicht wusste, wie viel sich im Umschlag befinden sollte, vermutete ich, dass sie auf irgendeine Art von Bestätigung wartete und versuchte es mit einem vagen Nicken. Mara schien zufrieden und schob die Kassette über den Tisch. Sie beobachtete die Frau dabei, wie sie die Plastiktüte entfernte und den Inhalt argwöhnisch beäugte. „Danke“, sagte die Frau und es blieb kein Zweifel, dass sie damit meinte, es sei Zeit zu gehen.

 

Auf dem Weg zum Auto glaubte ich immer noch, das Katzenjunge hinter mir fiepen zu hören – wie sich herausstellte, hatte ich es mir nicht eingebildet: Auf dem Beifahrersitz zog Mara das Tier unter dem Pullover hervor. Es war lebhaft – sofort machte es sich daran, an ihrer Schulter hochzuklettern. Mit sanftem Nachdruck setzte sie es auf ihren Schoß zurück. Ich kniff die Augen zusammen und wollte wissen, ob es schon alt genug sei, um es ohne die Muttermilch zu schaffen. Maras gedämpftes „Ja, sicher“ musste ich ihr glauben. Ich hatte keine Wahl – das, was Zweifel daran in diesem Moment nach sich gezogen hätten, wollte ich nicht durchmachen. Mara streichelte das Junge, bis es auf ihrem Schoß leise schnurrend einschlief. Danach biss sie sich auf die Fingernägel, bis sie platzten wie Karamellbonbons.

 

Sofort fuhr ich rechts ran und suchte nach etwas, womit ich sie verbinden konnte. Da lag noch ein altes Shirt von dir auf dem Rücksitz, das ich zerrissen habe, um es ihr um die Finger zu wickeln. Erst hinterher habe ich mich daran erinnert, dass es das letzte war, das noch nach dir gerochen hatte.

 

Der Katze geht es gut. Sie liegt auf meinem Kissen, wenn ich nicht schlafe und manchmal auf meinem Schoß, wenn ich am Schreibtisch sitze. Mara geht es beschissen. Der Verband an ihren Fingern wird feucht, wenn sie zu lange tippt.

Nachts trinken wir viel und reden noch weniger als zuvor.

Hon’, so gerne würde ich dir schreiben, dass du mich hier besuchen kommen musst. Mara würde dir erlauben ihre Verbände zu wechseln. Ich würde dir das Katzenjunge auf den Schoß legen und zusehen, wie du es streichelst. Zusehen, wie es die Pfoten gegen deinen Schoß stemmt, als würde es mit den Pedalen deines Klaviers die Geräusche sacht zum Ausklingen bringen.


Dreiundzwanzigster Platz : Das Gesicht“, Romana Ganzoni

Vor zwei Jahren hatte ich noch keine weissen Schamhaare. Niemand hatte mich gewarnt. Da konnte auch der Dermatologe nichts tun. Die Genitalien liess ich ruhen. Sie waren nicht mehr dazu da, genital zu sein, sie sollten stillhalten in der neuen Unterwäsche, die man sich kauft, wenn man als Frau verlassen wird. So ist das Leben. Sagte Marta. Sie musste es wissen. Sie wusste alles, die Verlassene, die Betrogene, die Betrügerin, die Schöne, die Hässliche, die Trinkerin, die Gesundbeterin, die grosse Schwester. Wie es so läuft im Leben, das wusste Marta ganz genau.

Ich hatte immer auf sie herabgeschaut, jetzt rief ich sie um Mitternacht an,  um in den Hörer zu heulen. Und sie sagte: So ist das Leben, Kleines. Das Leben der Frauen. Du wolltest es nie glauben. Hast dem John vertraut, statt mir oder dir, Püppi, Dummes. Ach, mein Schatz, jetzt nur keine Schokolade in dich reindrücken, tu dir den Gefallen, sonst beginnst du noch zu kotzen aufs Alter. Mir ist es ja so gegangen, weil der Franz… Ach, egal. Einfach nicht kotzen. Hungern ist besser. Oder fett werden und dir ab und zu eine Yoni-Massage verpassen lassen, das ist die Vollmassage an der Heidegger-Strasse, ich habe mir letzten Mittwoch eine Behandlung zum halben Preis verdient.

Sag jetzt nicht, du wolltest es nicht so genau wissen, Püppi, sag das bloss nicht. Natürlich willst du es genau wissen. Geh hin und lass den Brajesh machen. Er kann es. Und er verlangt auch nicht, dass du ihm in die Augen schaust, wie dein Mann. Ich wäre auch nicht gekommen mit dem John. Dieses Schau-mir-in-die-Augen-Kleines. Mein Gott, Püppi, war das peinlich. Jetzt kann ich es ja sagen, jetzt, wo du niemanden aus Versehen an dich bindest mit dem Loch, das die abwesende Lust klaffen lässt, es gähnt zum Himmel, Püppi, und das erzeugt einen Sog, in den zog es den John, er fiel in dich ein, aus Versehen, und er verschleierte das Offensichtliche: Der Ofen ist aus. Hätte er es doch gelassen! Hättest du es doch vermieden, Dummes! Du wärst früher zu dir gekommen, zur Zeit, jetzt ist es verdammt spät, du ahnst es, du weißt es, sonst würdest du ja nicht ein spätes Mädchen anrufen und es schamlos anschluchzen.

 

 

Der Ofen ist aus, weil du alt bist, Püppi. Den Umlaut müsste man dir entziehen, dann wärst du Puppi, aber auch das klingt noch zu verlockend, zu unwahr, Pupp wäre besser oder Pu, vielleicht einfach ein Doppel-P. Oder eine Leerstelle, eine Leerdelle, wo früher ein Name war, wo früher Haar war und pralles Fett. Warum weinst du noch? Lass uns endlich offen reden!

Heute und morgen nur diesen Rat: Friss nicht zuviel, Püppi! Und dann: Streck dich! Streck dich zum Himmel, jetzt, wo der John nicht mehr will, dass du ihm beim Kommen in die Augen schaust. Oder nur, wenn er dich am Arsch leckt. Leck mich am Arsch, hättest du dem schon viel früher sagen sollen, leck mich am Arsch, dann schau ich dir nachher gerne in die Augen. Aber, eben, frech wird man erst später. Jetzt ist Zeit, Humor zu haben. Sonst überlebst du das nicht, denn dich, Püppi – ehemals jung, jetzt alt -, will niemand mehr. Zumindest nicht bei Tageslicht oder ohne Bezahlung. Und nicht länger als eine Nacht. Wenn, dann nur ohne küssen wie bei den Nutten üblich.  Ich wiederhole: Es ist Zeit, Humor zu haben. Nimm ihn hervor aus einer andern Tasche, selber hattet du ja nie welchen. Copy. Paste. Oder stehlen. Ja, du musst ihn stehlen, den Humor. Am besten von mir. Schau dir an, wie ich es mache. Mit wenig Geld und vielen Falten. Luxus erspare ich mir. Alles, was ich habe nach dem unerlässlichen Einkauf, investiere ich in die Entfernung der Schamhaare und in den massierenden Gott Brajesh. Seine Bewegung und meine  Erschütterung machen mich frei, frei für die ungeschminkte Wahrheit. Ich bin out, ich bin kaputt, mein Gesicht ist Schrott, ich bin vorbei. Was soll dieses Naja von dir, Pup? Du hast also keine Ahnung, wovon ich spreche? Egal. Auch das. Die Einsicht kommt noch früh genug. Geniesse bis dahin deine Zweifel!

Und geh einfach so bald wie möglich in die Heidegger-Strasse. Die Zeit für deinen Sex ist gekommen. Den echten Sex. Ebbe und Flut, volle zehn Minuten, Püppi. Das ist der Sex, den Frauen wirklich lieben. Wirst sehen. Wirst fühlen. Und zahlen. Jetzt kostet es ein paar Euro mehr. Vorher wars viel teurer, aber du kanntest die Währung nicht gut genug. Sie wechselte zu oft. Verstehst?

Ich verstehe. Vielleicht. Danke, Marta. Danke für alles.

Püppi legte auf.

Ich bin Püppi, die Puppi wird ohne John oder Pupp oder eine Delle, wie auf meinem Oberschenkel. Ja, Marta. Für dich ist alles klar. Für dich war immer alles klar. Das Leben. Wie es ist. Du wusstest und weisst alles, als Verlassene, Betrogene, Betrügerin, Schöne, Hässliche, Trinkerin, als Gesundbeterin. Die grosse Schwester.

Ich muss trotzdem überlegen, was zu tun ist. Jetzt, wo er weg ist. Über alle Berge ist er. Die Beziehung sei kaputt. Kaputt, wie mein Gesicht, sagte Marta. Das Vertrauen ruiniert. Welches Vertrauen? War da nicht einfach Liebe. Über Vertrauen habe ich nie nachgedacht. Um ehrlich zu sein: über Liebe auch nicht. Ich habe einfach weitergemacht, als seien wir in eine Frischhaltefolie gewickelt. Und mit uns alle Hoffnung, alles Vertrauen. Ich dachte, es gebe eine Art Kern, eine Art Nucleus, sagen wir Nucleus, das klingt feiner, und das klingt naturwissenschaftlich, also beweisbar, wie der Marxismus, ausgehend von diesem wahren Kern: ein Prozess mit definiertem Ausgang, ja, Erfolg!

Hier das Kennenlernen, die Konsolidierung – und da das Ende der Geschichte, jeder Geschichte: die Situation, wie sie ist und sein wird, wie sie war, aber man wusste noch nicht, dass sie schon ist. Diese Unausweichlichkeit der Historie, wie sie sich im Klassenkampf entwickelt, und wie sie sich zwischen Geschlechtern entwickelt.

Was geht dabei schon kaputt? Das Alte, das zu Überwindende. Die bürgerliche Gesellschaft, die Zwänge der Herkunft und alle anderen Lieben, denn diese ein Liebe ist einzigartig, sie ist die einzige, die halten wird.

Ein neues Gesicht schaut mich heute im Spiegel an, es ist neu und kaputt. Weil ich älter geworden bin. Sehr viel älter. Zehn Jahre älter oder zwanzig. In zwei, drei Jahren, in zwei, drei Tagen. Weil da, in meinem Gesicht, alles steht, Wort für Wort, als wäre ich in eine Druckmaschine geraten, weil meine Geschichte darin steht, in der Zornesfalte etwa, die eine Kummerfalte ist, mir scheint, sie ist erst seit gestern da. In den Stirnlinien, die ich gerne Sternlinien nennen würde, wären sie nicht so tief, die Stirn habe ich gerunzelt, ich habe sie drangsaliert, nicht hinauf geschaut in den blauen Himmel und gestaunt, wie prächtig der Kosmos ist, ich habe vor Schrecken gestaunt, geradeaus geschaut, die Stirn in Falten gelegt, seit wann habe ich das wohl getan? Seit Langem, sonst wäre da nicht das, was ich sehe, diese kaputte Stirn, die kaputte Partie um die Augen. Der irre Blick?

Mein altes Gesicht ist verschwunden. Meine Grossmutter sagte, ihr Gesicht sei eines Tages im Bett liegengeblieben und habe da weitergeschlafen. Ich fragte mich immer, was sie damit meinte. Sicher kann ich auch heute nicht sein, aber vielleicht sprach sie vom Zeitpunkt, der Frauen klar macht: Ich bin alt. Mein altes Gesicht, es war mein Gesicht, das ich bekommen hatte, als ich jung war, als ich für eine Zukunft lebte, die kein Alter hatte.

Nun schläft mein wahres Ich weiter, meine Grossmutter wusste, es ist im Bett liegengeblieben, aber meine Grossmutter war nicht zu dieser Perversion gezwungen, die eigene Ruine auch noch beklatschen zu müssen, sie durfte zu ihrem Empfinden stehen, dass etwas Unerhörtes geschehen war, über Nacht, etwas, woran sie sich nicht gewöhnen und das sie nicht loben wollte, das Abhandenkommen des Ichs, das ein faires Gespräch zulässt zwischen Innen und Aussen.

Das faire Gespräch wurde in den Traum verschoben, in die Erinnerung. Im Jetzt sprechen das Sichtbare und das Unsichtbare miteinander, aber nicht freundlich oder beiläuftig wie bisher, nicht natürlich, es ist ein einziger Vorwurf, Geplänkel, Taktieren, Gezänk und Gestänker, herbeigezwungener Humor, Leichtigkeit mit intellektuellen Flügeln, was heisst: bleischwere Lüge über der Leichtigkeit, Verzweiflung, die an sich verzagt und zum Schweigen neigt, aber deshalb umso mehr plappert.

Die Frau wendet sich anderen Menschen zu, wenn keine Enkel vorhanden sind: einer neuen Freundin – gleicher Jahrgang, Kampfscheidung, mehr Falten, klassischer Frauenbauch – oder einer Weltreise, auch Yoga ist möglich, vielleicht der Selbstverlag eines Gedichtbandes? Malkurs. Kunstbetrachtung.

Frauen sprechen mit Frauen über die verdickten Haare am Kinn, den Hühnerhals und die in alle Richtungen wachsenden Ohren, aber es muss immer in einem Witz enden, die Gespräche müssen eine Pointe haben, keine Frau will ehrlich sein, wenn es um das Altern geht, das ein Abschied ist, der jedes Gespräch sprengen und mit einem Gesichtsverlust enden würde, von dem auch die Grossmutter nichts wissen wollte. Und nie geht es um das Sterben oder den Tod, es geht primär um das verlorene, weil zerstörte Gesicht, dann um den Körper in Hanglage, der lange vor dem Krebs, dem Siechen und Warten, lange vor dem Tod im Alter, kaputt ist.

Das, was wir Lachfalten nennen, sind groteske Krähenfüsse, hört auf, über Lachfalten zu reden, euer Lachen ist ein böses Lachen oder ein Scheinlachen, ihr Krähen, ihr redet wohlwollend über die Falten, weil ihr noch keine habt, weil ihr ablenken wollt oder weil Ihr Eskapistinnen seid, nichts anderes. Ihr konfrontiert euch nicht mit der Wahrheit: Euer Gesicht ist kaputtgegangen während des Lebens. Und der Dermatologe hat gesagt, soviel Hyaluron habe er gar nicht in der Praxis, wie es bräuchte, um diese Falten aufzufüllen, die Visage wieder zu flicken. Er sagte: Sie sind nicht die Einzige, es kommen viele, die verlassen worden sind, es kommen viele wie Sie, Naturmädchen einst, solche, die sich lange vorlogen, es gehe mit Gesichtsyoga, während der Herr Gemahl noch offiziell anwesend war, ging es mit Gesichtsyoga, ist der Mann einmal weg, rennt ihr zu mir.

Er sagte es freundlicher, aber ich bin nicht verpflichtet, freundlich zu sein – weder zu mir noch zu Marta. Ich war lange freundlich. Jetzt ist Schluss. Ich habe kein Gesicht zu verlieren, es ist längst weg. Botox allein, das ist nicht nichts, aber zu wenig. Mit 50 sollte da schon eine Basis sein, am besten man beginnt mit 30, dann fällt es nicht so auf, der Zusammenbruch, die Kapitulation.

Wenn ich Ihre Labionasalfalte jetzt auffülle, was Sie eine schöne Stange Geld kosten wird, dann sehen das alle, ich würde einfach eine Hydration empfehlen dann und wann, das Lippenvolumen könnte man auch etwas pushen, aber ich denke, ihre Oberlippe ist von Natur aus recht schmal, da sollten wir nicht übertreiben, sie wollen ja nicht wie eine Forelle aussehen, sagte der Dermatologe, er lachte, gleichzeitig tat er verständnisvoll, er verachtete seine Klientinnen, wie er die Patientinnen nannte. Ich fand, Patientin war nicht schlecht, wer es sich antut, mit einer Kanüle das Gesicht aufzufüllen, muss schon etwas aushalten können. Und ich wusste ja nicht einmal, für wen ich es aushalten wollte. Für mich? Für mich die hängenden Mundwinkel nach oben richten und die Raucherfältchen über der Oberlippe füllen, auch die Linien am Kinn, das Kinn selbst, das aussieht wie eine unreife Erdbeere? Wann wird sie reif sein, wenn ich nichts tue? Der Dermatologe nannte das Kinn: Pflastersteinkinn. Klingt wie eine Waffe für den Strassenkampf. Ich hörte ein Wägelchen über das Pflastersteinkinn rollen. Eines, das mein Hab und Gut fasste. Viel war es nicht. Unterwäsche, eine Jeans, Pullover, beiger Mantel. Ein Buch? Kein Buch. Eine Schusswaffe.

Lohnt es sich, die Konturen zu harmonisieren mit einer Lähmungskur, die sportliche Muskulatur des Unterkiefers zu verschlanken, die Nase anzuheben und zu begradigen, Krieg zu führen in diesem kaputten Gesicht? Kann ich die Schlacht gewinnen? Ich lache, ich lache laut. Der Krieg ist längst verloren. Ab 40 ist man als Frau hin. Kaputt. Der Kollege sagte mir vor zwei Jahren, siehst ganz gut aus für dein Alter, andere sind da hinüber, das bestätigt dir jeder Mann. Da war ich zwei Jahre jünger. Das bestätigt mir jeder Mann.

Ich sitze im Café an der Ecke zur Heidegger-Strasse. Neben mir sitzt eine Frau.  Früher hätte man vielleicht gesagt: eine ältere Dame. Heute sind ältere Damen alte Schachteln. Die Frau sitzt am Tischchen und simuliert einen Telefonanruf, aber ich kann auf dem Display sehen, dass das Telefon tot ist. Sie ist quietschfidel, ihr fehlt nichts, aber sie tut so, als fehle ihr etwas, denn sie will hier nichts kaufen, sie will nichts bestellen, sie will nichts essen, sie will nichts trinken, sie will nichts. Zumindest nichts, das man in dieser Stadt bekommt.

Ich nehme an, ihr fehlt es nicht an Geld. Ich weiss, dass sie quietschfidel ist, weil sie immer, wenn kein Kellner und keine Abräumerin vor uns steht, lustig umherschaut und mit dem Fuss wippt. Bewegt sich Personal in unsre Richtung lässt sie den Kopf hängen, sie stöhnt ein wenig. Vor einigen Minuten beschloss sie, dass es besser aussehen würde, wenn ein Glas vor ihr stünde. Also fasste sie ein Glas Hahnenwasser, ich sah, wie sie an der Theke eine Packung Pillen vorwies, um es umsonst zu bekommen. Sie eilte an den Tisch, frisch und lustig, um zu humpeln, als der schwarze Kellner ihr entgegenkam. Und weil er das Humpeln ernst nahm, fragte er sie, ob sie Hilfe brauche. Sie nahm dankend an, zum Glück – ich wollte die Geschichte weiterverfolgen – kam sie wieder an den selben Tisch wie zuvor, der Kellner rückte den Tisch zur Seite, damit die Todkranke ungehindert auf der kleinen Bank Platz nehmen konnte, sie dankte ihm überschwänglich und liess den Dank matt ausklingen, als ihr bewusst wurde, dass es ihr doch sehr schnell sehr viel besser geangen war, das Tempo könnte auffallen.

Ich liebe die Frau neben mir, und ich liebe ihre langen Fussnägel, sie hat ihre Fussnägel schon lange nicht mehr geschnitten, denn sie muss ja immer halbtot hier sitzen, da würde es auffallen, wenn sie den Knipser hervorzöge.  Sie sieht, wie ich auf ihre Füsse schaue und beginnt zu hüsteln, ich schaue nicht auf, also hüstelt sie jetzt stärker, sie hustet, sie übergibt sich gleich, zumindest will sie das simulieren, aber ich schaue nicht auf, huste du nur, kleine Betrügerin, ich bleibe hier sitzen und schaue, wie man das Betrügen ab 50 auf die Spitze treibt, wie das geht: sich so lange verstellen, bis man es selber glaubt, denn ich bin bei meiner Nachbarin nicht sicher, wie viel ihr von ihrem Schauspiel, von ihrer Schaustellerei bewusst, wieviel Tradition, eingespieltes Handeln ist. Ich finde, sie sollte eine Kasse auf das Tischchen stellen, wo man etwas hineintun könnte, um sie aus ihrem künstlichen Koma zu erlösen, alle würden den kurzen Augenblick, in dem sie sich bedanken müsste für die Münze, auskosten und neue Energie für den Tag tanken.

Ich schaue noch immer auf ihre Füsse, als sie aufsteht, sie hebt sich aus der kleinen Bank, um dann umständlich um den Tisch zu gehen. Ich helfe ihr nicht. Ich lächle sie an, sie sieht es, ich lächle noch immer, sie betrachtet mich neugierig, sie schaut sehr ernst, ich nicht, ich schaue nicht ernst, ich lächle, obwohl ich auch ernst schauen wollte, aber es ist zu spät, also mache ich jetzt, wo sie geht, mit meinem Schauspiel weiter, mit meiner Schaustellerei, ich weiss noch nicht, was ich darstellen möchte, was ich erreichen will ohne zu hohe Ausgaben, noch lieber umsonst, aber es wird mir schon etwas einfallen. Ich denke es und sehe den violetten Rockzipfel in der Türe verschwinden. Sie wird morgen wieder hier sein, die ältere Dame, das ist das Einzige, was ich über den morgigen Tag weiss. Und obwohl es nur wenig ist, beruhigt es mich.


Vierundzwanzigster Platz : Capsized“, Christoph Justinger

                                   I.

 

Der Herbst geht mit Händen durch die Bäume, den ganzen Morgen schon. Jerome wartet  auf die Böen.

Wind aus Süd-südwest, sechs Beaufort, hört er noch die Automatenstimme des Funkwetterdienstes.

In Böen vielleicht acht, oder  neun,

denkt Jerome und für einen Moment zieht ihm wieder dieser behäbige, dicke Fisch durch den Magen, verursacht den Anflug einer Übelkeit. Das Fenster ist neu. Es ist groß und stumm.

Die großen Weiden biegen sich.

Geschmeidigkeit,

 denkt Jerome,

ist auch eine Möglichkeit. Eine Form des Kampfes.

Der Wind drückt die Bäume. Ängstliches Wimmern der Blätter in den Böen, als vertrauten sie den Ästen nicht.

Jerome hatte seiner Takelage, den Wanten und Schäkeln, den Segeln, nie vertraut. Er war niemals gern auf dem Wasser gewesen. Wind war nicht kalkulierbar.

            Wasser hat keine Balken

hatte sein Vater das nicht schon immer gesagt?

 

Am Ende aber war es nicht das Meer, oder die Wucht einer Patenthalse, die ihn aus seinem Leben fischte und irgendwo, jenseits aller Perspektiven, zwischen dem stinkenden Müll alles umgebender Fürsorglichkeit einfach hatte fallen lassen.

 

Ein gewöhnlicher Tag, damals,  mit der gewohnten Zähigkeit des Anfangens. Jerome hasste diesen Moment, diese Zeit des Auftauchens, der Lähmung. Er liebte  das Rauschen. Den Sound der Maschine, wenn etwas funktionierte, wenn er die Dinge in Gang gebracht hatte.

Damals waren Jeromes Tage  lückenlos getaktet. Seit er diesen Job machte, auf den er, ganz zu Anfang, mit Barbara eine ganze Flasche Wodka geext hatte.

Von Anfang an hatte er sich mächtig ins Zeug gelegt. Termine geschrieben, nach einem Monat zwei  Aquisiteure gefunden und ihnen eingeschärft, selbst nach „Personal“ zu suchen, welches dann ihnen (und indirekt natürlich ihm, Jerome)  unterstehen würde.  Sein Anteil sollte immer gleich bleiben, egal von wie weit unten die Scheine kamen.

Ein gewöhnlicher Tag. Aber dann hatte sein Smartphone gesummt und ein Mann hatte gesagt, es täte ihm leid.    

 

Für gewöhnlich hasste er solche Veränderungen in seinem Tagesplan. Störungen waren wie Leerblasen , die durch seinen gepackten Tag mäanderten und alles verschoben. Sie würden am Ende des Tages zerplatzen und ein hässliches Loch in seine Tagesbilanz reißen.

Es täte ihm leid, hatte sich der Kunde zehn Minuten vor dem vereinbarten Termin gemeldet, keine Zeit irgendetwas anderes zu arrangieren,  aber es ginge heute wirklich nicht, vielleicht an einem anderen Tag und Jerome hatte geflucht und sein eben noch forsches Gehen strandete im Nichts. Sofort setzte in seinem Kopf das hektisch rotierende Rechnen des Navigationssystems ein, für eine neue Route, heraus aus dem Nichts. Verdammte Scheiße, zehn Minuten, er sollte hinrennen  und dem Arsch ein Beil in die Tür hacken,  für dieses Rumstehen jetzt auf dem Bürgersteig ein Beil in die Tür. Verdammt!

Und noch im Drehen und Denken an das Krachen dieses Beils, im Knallen seiner kantigen Wut, dem Splittern des Türblattes,  hinter dem sich duckend dieser Arsch dann in die Hose pissen würde, da mitten hinein geschah etwas merkwürdiges. Er fühlte, unerwartet und neu, die Intensität einer Sehnsucht. Und wie in der Kapillare eines Thermometers ,  wuchs ihm diese Sehnsucht aus der Brust, über den Hals hinaus,  hinein in den Kopf.

Er hatte Zeit. Seit Langem zum ersten Mal Zeit. Nicht dieses gleißende Drängen im Kopf, sofort das stockende Metronom seines Tages wieder zu takten.

Er hatte Lust zu schlendern.

Er steckte das Telefon in die Tasche und ohne genau zu wissen, wo er hin wollte,  marschierte er geradewegs  über die Straße.

 

Ja, er wollte schlendern. Sich treiben lassen. Die Maschine auskuppeln und einfach mal ausrollen lassen.

Obwohl er das Viertel kannte, kamen ihm die Wege neu vor. Das Gehen kam ihm neu vor. Das Atmen.  Er hatte tief geatmet. Lang und tief.  Mehrmals tief. So tief, dass ihm von den Außenrändern seines Gesichtsfeldes ein funkelnder Sternschnuppenschwarm über die Netzhaut flog und er sich für einen Moment, mit der flachen Hand an einer Hausmauer stützen musste.

Gerade da dachte er ans Segeln. Vielleicht wegen des plötzlich schwankenden Weges. Aber dann, der feste Stein und auch der Asphalt, ein zweifelloser Grund und Boden, hier hatte der Fisch nichts zu suchen.  Er konnte eng an den  Hauswänden schlendern,

dicht unter Land

hatte er bei sich gedacht, in dieser  Seglersprache gedacht, was er sonst vermied, aber jetzt, das Denken ans Segeln von hier aus, vom sicheren Beton des Weges aus, gefahrlos und alles hell,  zu hell sozusagen, zu sehr im Licht, für den dicken Fisch, der gern aus dem Dunklen kam.

 

Ein gewöhnlicher Tag also, bis zu diesem break, dem geplatzten Termin und dem neuen Gehen und Atmen. Es könnte gestern oder vorgestern, oder vor  einem Jahr gewesen sein. Aber es fühlte sich an wie vor zwanzig Jahren. Jetzt blickte Jerome darauf, wie durch den Glasboden einer leeren Bierflasche und dieses Leben dann irgendwo hinter dem sich dunkel verjüngenden Flaschenhals.

 

Kann ein Tag  Attribute haben? Bösartig, oder hinterhältig sein? Unbarmherzig? Ihm scheinheilig dieses Schlendern schenken, diese neue Lust, um sich dann, mitten hinein in das Grunzen einer suhlenden Sau in eine Wolfskralle zu verwandeln, die ihm nicht weniger, als die ganze Scheiß-Welt ins Genick schleudert, ein altertümlicher, sepiabrauner Globus,  mit mächtigem, gusseisernen  Fuß und einem ebenso mächtigen wie gussharten  Inklinationsbügel, von einem  weltmüden Greis aus dem siebten Stock geworfen, gerade in diesem Moment, des neuen Atmens und Sehens, dicht unter Land.

 

Er hatte sich niemals nur auf ein einziges System verlassen. Das Wichtigste hatte er dreifach.

            Wasser hat keine Balken

Jerome konnte nicht einmal schwimmen, so ein Wahnsinn, oder schlicht eine Blödheit und deshalb diese vermeintliche Sicherheit der Redundanz. Notpinnen ersetzen mächtige, durch gerissene Kettenzüge nutzlos gewordene Steuerräder. Oder Sextanten, zum Sonnenschießen, wonach der Eingeweihte schließlich weiß, wo auf diesem Planeten er sich befindet, wenn Elektrizität nur noch ein Wort ist, aber Wörter keine Dinge bewegen.  Ersatzsysteme. Für den Notfall. Damit man an Land kommt, oder zumindest eine Sache beendet, gut beendet.

Zumindest, denkt Jerome jetzt im Nachhinein, sollten doch die Dinge und Stoffe, die den Menschen im Fleisch stecken und ihn im Inneren zusammen halten, in dem Maße härter und stabiler werden, wie die Dinge, die der Mensch erfindet, härter und stabiler werden. Ein Schädel aus Carbon, oder wenn schon keine zweite  Wirbelsäule, dann eben nur eine einzige, aber diese aus Stahl.

 

So aber reichte die Wucht eines stürzenden Globus, der  gusseisernen  Sichel des Inklinationsbügels, um seinen wichtigsten Wirbelkörper-  Atlas –  quasi zu guillotinieren.

 

Augenblicklich war auf nichts mehr Verlass gewesen. Nicht einmal auf den gerade begonnen Schritt, das Ausholen der Hüfte, das Abrollen des Fußes, die Automatismen des Gehens, der Balance und die Bestimmtheit der Richtung. Aber  viel mehr noch als diese  bloße Unsicherheit, war es das plötzliche und völlige Nichts abwärts seines Halses, das ihn augenblicklich und gänzlich wehrlos auf das von Baumwurzeln zerborstene Pflaster geworfen hatte.

 

 

 

 

 

 

 

 

                                               II.

 

 

Seit heute macht der Heizkörper wieder Geräusche. Ein leises Glucksen und Gluckern. Barbara musste die Heizung eingeschaltet haben. Dazu hatte sie in den Keller gehen müssen, was sie hasste. Der Keller war dunkel und feucht. Teilweise hatte man felsigem Grund Raum abgewinnen müssen. Damals. An einer Wand noch die getriebenen Abdrücke eines Meißels, hundert Jahre alt, wie das Haus selbst, auf einem unterirdischen Bach gebaut, oder nur einer Wasserader, auf jeden Fall überall die Zeichen des Wassers, der Feuchtigkeit und mit ihr, wuchernde Salpeterfinger entlang der Dunkelstufen, die genauso in einen dunklen Felsensee hätten führen können, oder eben in einen alten Kartoffelkeller. Der Lichtschalter, idiotischer Weise auf der letzten, der untersten Stufe erst erreichbar, zerrte das Abwärts ins Dunkel und selbstverständlich war auch das Hinaufgehen nicht mehr als ein Hoffen darauf, dass niemand im Haus war, der die Kellertür zuschlagen und sicherlich auch verriegeln konnte. Barbara hasste den Keller.

 

 

Dieser Herbst war schon früh kalt. Und deshalb hatte Barbara in den Keller gemusst. In den Heizkörpern hat das Glucksen aufgehört und Jerome kann jetzt das Strömen des Wassers hören. Ein alter Röhrenkonvektor, der bald zu knacken anfangen wird, wenn das Material sich ausdehnt.

Jerome hat den Herbst – kalt und feucht –  an seiner Nasenspitze gefühlt. Draußen ist der Wind und das panische Fortwollen der Blätter. Er kann Beine sehen die im Rollstuhl stehen. An seiner Nase wächst ein kleiner, kühler Tropfen Rotz. Barbara hat ihn vor das Fenster geschoben. Vor einer Stunde. Ein großes, ein großzügiges Fenster. Es hat keine Brüstung und es gibt auch keine Gardienen. Eine große, gewollte Öffnung, die sie diesem alten Haus vor Monaten aus der Nordflanke geschlagen hatten. Und jetzt kann er die Bäume sehen, den Garten, den dahinter liegenden Fußgängerweg, die Skater, die manchmal wie Eisschnellläufer ihre Hände auf dem Rücken verknoten, souverän verzichten auf rudernde Schwungarme, Hunde zerren ihre Menschen vorbei, morgens Papierkorbgesichter und Mäntel rund um lächerlich blumige Schlafanzüge gewickelt. Manche bleiben stehen und schauen sich dieses große Fenster an. Das verwundete Haus. Starren auf sich selbst, ins ertappte Gesicht. Das Fenster –mirror-coating – ist verspiegelt.

 

In Jeromes Rücken wird die Tür geöffnet. Sehr leise. In jedem Fall leise genug, so dass Jerome es nicht hören kann. Und doch glaubt er zu wissen, dass jemand das Zimmer betreten hat. Er spürt eine Veränderung, eine Verschiebung der Luftmasse die ihn umgibt.

Barbara benutzt verschiedene Parfums. Irgendwann hatte sie beschlossen, denjenigen zu glauben, die behaupten, dass zwischen Mondphasen und Transpiration ein direkter Zusammenhang und indirekt also die erotische Ausstrahlung und so weiter. Er kennt alle Düfte Barbaras und könnte leicht einen Astro-Kalender daraus herleiten. Seine Nase hatte sich erstaunlich entwickelt. Besser als alles andere.

Die Luftmasse hat sich wieder beruhigt.

Der Duft ist neu.

 

 

 

 

Er hatte Barbara nicht kennengelernt, so wie man sich das vielleicht denkt, eine Begegnung irgendwo, Blicke und dann die richtigen Worte, Fragen und die richtigen Antworten und dann ist man zusammen, ohne das einer gesagt hätte, man wäre es.

Nein, so war das zwischen ihnen nicht gewesen. Vielleicht wäre das besser gewesen.

 

Willst…umbringen?

 hatte sie immer wieder geschrieen, diesen zerhackten Satz, den sie senkrecht durch das gierige Atmen stieß. Ihr großer, schwarzer Mund, als müsste sie sofort alles einsaugen, ohne Rücksicht, die Boote, Leute, Häuser, alles. Keine Zeit zu filtern, nur Luft aus der Welt reißen.

Willst…umbroonnglll,

ihr hysterisches Gurgeln.

Es hatte lange gedauert, bis sie unter dem Segel wieder aufgetaucht war, nachdem die plötzlich und wohl vor Schreck zu Stein gewordene Monika, die Moni, steinäugig ihr kleines  Boot gerammt und zum kentern gebracht hatte. Optimisten sind, auch heute noch, nur schaukelnde Badewannen, mit Mast und Segel, wie sie von Segelschulen für die Kleinsten verwendet werden. Optimisten sind auch die, die darin sitzen. Moni´s Mast knickte aus der Halterung und klatschte aufs Wasser und das Segel verriegelte dort die Grenzfläche, wie eine dünne, halbdurchsichtige Eisscholle, verhinderte das Auftauchen Barbaras, die genau dort zuvor über Bord gegangen war. Ihre Hände, ihre Finger spreizten sich gegen die zähe Eishaut des Segels. Sie Schlug die Haut. Aber aus dem Wasser heraus ist das Scheiße, das Schlagen.

Jerome hatte da noch keine Manöver gekannt. Aber er hatte nicht lange überlegt und war bolzgerade zwischen die Havaristen gerauscht. Das Ruderblatt seines Bootes verfing sich in Moni´s  Segel und zerrte eine Scharte in die Eishaut, genau dort, wo Barbaras Hände sofort begannen die Welt in ihren Mund zu schaufeln.

            Willst ….umbringen

wütend und atemlos gegen die Moni, aber voll schmachtender Dankbarkeit für Jerome, der ihr Retter gewesen war.

Damals waren sie zwölf.

 

Vielleicht werden solche Ereignisse im Kopf, oder im Herzen tiefer gestanzt. Eine dünne, transparente Haut blättert sich Jahr für Jahr darüber und rundet die Stanzränder mit der Zeit. So bleibt am Ende eine Delle über diesen Dingen, die nicht verschwindet, aber auch nicht mehr das ist, was sie ursprünglich gewesen war.

In Barbaras Hirn wurde aus diesem hart gestanzten Ereignis mit der Zeit eine weiche, ausgedehnte Vertiefung, ein sanftes, nebelsonniges Tal, das sich gänzlich aus Jeromes Namen und seiner heroischen Tat buchstabierte.

 

Jerome fand segeln bescheuert.

Ohne ihn ginge sie nicht mehr aufs Wasser, sagte Barbara.

Jerome fand das cool. Das sie ihn so vor sich her trug. Wie eine Monstranz. Eine Helden-Monstranz.

Und Segeln war dann ok, oder zumindest erträglich.

 

Mit seinem Vater wollte er dann irgendwann, an einem Sonntag im Herbst, in die Weinberge an der Mosel. Dort hatten sie in einer Traube von Leuten am Rand eines Kiesweges gestanden, in einer Kurve. Die Autos waren immer irgendwie in der Luft. Mit Schriften, mit Buchstaben zusammengeklebt.  Jerome versuchte zu lesen. Es ergab keinen Sinn. Die Autos waren gezerrte, wilde Tiere. Die Leute klatschten. Jerome hatte dann Rennfahrer werden wollen und auch im Bauch eines solchen Tieres sitzen. Aber Barbara hatte gesagt, sie würden mal beide die Welt umsegeln.

Und noch bevor Jerome den Führerschein machen konnte, hatte er wirklich drei Segelscheine in der Tasche. Barbara zeigte die Scheine herum und nannte Jerome nach wie vor „ihren Retter“.

            Mein Held

flüsterte sie ihm ins Ohr, später noch, als sie sich schon küssten und zum Spaß in der Luftblase eines mutwillig gekenterten Ruderbootes das Atmen einstellten, bis ihnen schwindlig wurde und beide dann Worte gegen diesen hölzernen Dom riefen

Maserati

Ashton Martin

und

Panamakanal…

von Barbara.

 

 

 

 

Ein neuer Duft. Etwas Herbes, Erdiges, denkt Jerome, denkt, dass es noch zu früh ist, fürs Laub, fürs Vermodern. Dieser Geruch. Er dreht den Kopf zur Seite, zwanzig Grad nach links, bis zum Anschlag der in die Rotation ragenden Zacke des zertrümmerten Atlas. Nach rechts weniger, insgesamt ein Überblicken von weniger als einhundertachtzig Grad, genug Raum also im Nichts für eine Person, um still zu sein, um nur dort zu stehen oder langsam, entlang einer Linie mittig zum Nichts, oder Nichteinsehbaren ein Herankommen zu schaffen. Wer? Und warum verdammt noch mal so still?

 

Ein stürzender Globus hatte seinen Körper zerlegt. Einen hohlen Torso in ein Aquarium geworfen,  umströmt von Taubheit und in seinem Kopf nun das ausgeschabte, ehemalig Innere des Torso. In seinem Kopf, jetzt glotzend vor dem Aquarium, schmerzten die Füße und Hände. Vor Gier. Sie hatten doch eine prima Zeit. Er und Barbara. Eine prima Zeit. Hatte ihr doch mal das Leben gerettet, dieser Barbara.  Als sie noch klein waren. So eine Dankbarkeit, wie lange dauert die an? Und was wird dann daraus? Am Ende. Ist ja schon lange her. Inzwischen musste daraus doch etwas anderes geworden sein. Etwas anderes. Mein Gott.  Niemand konnte doch wissen, dass einmal diese Scheiße passieren würde.

Warum nur  ist es  so still? In meinem Rücken so still?

Dieser… Geruch.

            „Barbara?“


Fünfundzwanzigster Platz : Von Hunden und Bären“, Klaus Hartmann

Wer keinen Mut hat zu träumen, hat auch keine Kraft zu kämpfen.

Am Ende war Carols Kraft erschöpft. Sie wählte den Freitod und war lieber frei und allein. Wir trauern um Carol. Die Beisetzung fand auf Wunsch der Verstorbenen in aller Stille in ihrer Heimat statt. Von Beileidsbekundungen bitten wir Abstand zu nehmen.

 

Nennt mich Bob. Ihr solltet wissen, ich rede nicht gerne, schon gar nicht in oder vor der Gruppe. Zu schüchtern oder kontaktscheu oder redefaul, wie es euch gefällt. Hat bei mir nicht so geklappt mit der frühkindlichen Sozialisation. Meine Eltern hielten nichts von Kinderkrippe oder Kindergarten. Jedenfalls kommuniziere ich statt face-to-face lieber per Tastatur im Internet. Chat oder Email ist mein Terrain. Auch lässt‘s mehr Zeit zum Antworten. Und ich fühle mich nicht vor Publikum. Für mich sind Selbstgespräche längst passé. Lieber logge ich mich in mehrere meiner Accounts ein und schlüpfe in deren Rollen. Chat-Pingpong. Ja, da bin ich manchmal viele.

 

 Bob: Zwei Jahre nach ihrem Examen lernte ich Carol kennen; sie arbeitete als Texterin. Nicht das große Los, der Job, aber solide. Versandkataloge texten. Das war noch die Zeit vor Amazon und all den anderen Shops im Internet.

Alice: Du hattest was mit ihr?

Bob: Nein. Sie gefiel mir. Aber sie wohnte weit weg. Ich kam gelegentlich in ihre Stadt. Arbeitete dort in einem Software-Projekt.

Alice: Warum ist da nichts gelaufen? Warst du nicht ihr Typ?

Bob: Keine Ahnung. Sie stand auf ältere Männer, Unternehmertypen. Mal war’s ein Spielzeugfabrikant. Sie wollte überrascht und verwöhnt werden. Und dann Dave, die große Liebe, Steuerberater, den hat sie geheiratet. Villa auf dem Land, Porsche in der Garage. Friede, Freude, Eierkuchen. Und wenn sie nicht gestorben … Sorry.

 

Bob: Ich würde Carol gerne hier sprechen lassen, in direkter Rede. Aber so sehr ich an der Syntax feile, in ihren Worten zu schreiben gelingt mir nicht. Auch war es nicht nur das, was sie sagte, sondern wie sie es sagte, und dabei die Lippen schnutete. Ihre  Stimme, die Intonation, die Ironie. Letztere verirrte sich manchmal näselnd in der Arroganz. Ihr Stallgeruch. Unternehmerfamilie, Luxus, rechtsliberal. Aber sie konnte auch anders. Wir waren abends einmal unterwegs: Chicken Nuggets im McDonald‘s.

Alice: Also Bob, wirklich, da hattest du deine Spendierhosen zuhause vergessen. Wolltest du so eine Frau erobern?

Bob: Es war im Jahr vor ihrer Heirat, da hat sie mich das einzige Mal besucht, zusammen mit ihrer besten Freundin aus vergangenen Studientagen. Deren Namen habe ich vergessen, denn sobald von ihr die Rede war, da hieß sie nur „der Bär“. Wir waren gemeinsam im Kino, ein Film von Werner Herzog. Der Bär, ein bekennender Kinski Fan, war begeistert. Seinem Namen machte er alle Ehre, naja, die Figur und Tollpatschigkeit, meine ich. Verquere Ansichten zu Gott und der Welt, schwerfällig von Begriff, und kein Fettnäpfchen, in das er nicht tappte. Kurz und gut, er war die Anti-Carol. Carol hielt mich auf dem Laufenden über seinen Werdegang, wie schwer er sich tat mit der Arbeitssuche, trotz oder wegen seines Magisters in Germanistik. Hatte er ein Volontariat oder eine kleine Anstellung ergattert, dann vermasselte er es gleich wieder. Ein Loser. Die moderne Arbeitswelt, das war nichts für ihn. Dann ein Aufbäumen, ein letzter Versuch, ein Akt der Selbstachtung: Der Bär schrieb eine Dissertation. Quälte sich fünf, sechs Jahre. Mal jobbte er ein paar Wochen im Callcenter, mal kriegte er einen kleinen Artikel in einer Lokalzeitung unter. Immer häufiger kapselte er sich ab, wurde depressiv und krank. Auch das Verhältnis zu Carol kühlte ab; die beiden hatten sich nicht mehr viel zu sagen. Langsam ging der Bär kaputt an sich und der Welt. Erwerbsminderungsrente und Grundsicherung, das bewilligten sie ihm schließlich. Ganz unten angekommen hat er einen Leidensgenossen kennengelernt. Die beiden verstanden sich und zogen zusammen. Das letzte, was ich von Carol über ihn gehört habe: Der Bär hat ein Buch geschrieben.

 

Alice: Das war’s?

Bob: Das war’s mit dem Bären. Ob’s für ihn ein Happy End gibt oder eine neue Höllenfahrt, das werde ich nicht mehr erfahren.

 

Alice: Bob, mach weiter mit dem Eierkuchen!

Bob: Nach der Hochzeit kündigte Carol ihren Job. Machte sich selbstständig als freiberufliche Werbetexterin. Das Büro zuhause mit Blick auf den großen Garten, ich habe es gesehen, ganz toll. Null Weg zur Arbeit, Kooperation mit einer befreundeten Grafikerin. Dave fährt jeden Werktag um halb neun morgens zur Kanzlei in die nächste Kreisstadt, kommt gegen sieben Uhr abends zurück. Genug Zeit für Gemeinsamkeiten, und auch  nicht so viel gemeinsam zu verbringende Zeit, dass sie sich auf den Wecker gehen. Kanzlei und Büro florieren, generieren zuverlässig wie ein Dukatenesel stets den neuesten Porsche für den Herrn des Hauses. Bescheidener das Gefährt für die Frau Gemahlin. Urlaubsreisen, mehrere Immobilien, ein paar wohl geerbt, und ein Ferienhaus in Südtirol. Voll auf Erfolgskurs.

 

Eve: Hi Bob, schon mal was von IT-Security gehört? Von Daten- und Netzsicherheit, von HTTPS? Von Man-in-the-Middle Attacken?

Bob: Was soll das, Eve?

Eve: Wenn dein Hosenstall so offen stünde wie dein Kommunikationsprotokoll, offen wie ein Scheunentor, würdest du es dann schnallen? Deine Daten interessieren eigentlich kein Schwein, aber vielleicht lassen sich ein paar Anhaltspunkte finden von wohlhabenden Bekannten wie Carol und Dave, um deren System zu hacken. Da winkt dann fette Beute. Kommunikation ist der neue Dukatenesel, und gehackte Daten seine Währung.

Bob: Weiß ich alles – ist mir wurscht. Versuch doch, dir was zu holen. Freu mich schon auf Hack und Gegen-Hack. Belauschte oder gestörte Kommunikation ist die wahre Kommunikation. Sonst wär doch alles viel zu einfach, glatt und öde.

Alice: Bob, hab ich mich verhört? Meinst du auch die menschliche Kommunikation zwischen Freunden, Paaren, in der Familie?

Bob: Klaro. Ist der Streit nicht das Salz in der Suppe? Der Krieg nicht der Vater aller Dinge?

 

Alice: Wie war das mit der Kommunikation zwischen Carol und Dave? Krieg oder Frieden?

Bob: Frag mich was Einfacheres. Kommunikationsstörungen schaukeln sich hoch, wenn man sie nicht behebt, oder therapiert. Ich kenne nur Carols Perspektive, das, was sie für geeignet hielt, mir zu kommunizieren. Das Verschwiegene ist ein blinder Fleck.

Alice: Red nicht so geschwollen um den heißen Brei. Sag schon, was hat sie dir erzählt?

 

Bob: In den ersten Jahren telefonierten wir vielleicht einmal in der Woche. Den Hörer mit der Schulter ans Ohr geklemmt bereitete sie das Abendessen zu. Sie liebte das Kochen. Und verwöhnte ihren Dave mit Hausmannskost und Leckerbissen. Genoss es, vormittags oder am frühen Nachmittag stundenlang auf dem Sofa zu liegen, bis ihr ein paar flotte Werbesprüche eingefallen waren. Oder am Schreibtisch vor ihrem Mac zu sitzen, Schokokekse zu naschen, und zu texten. Und wenn kein Auftrag da war, oder sie ihr Tagespensum geschafft hatte, schmökerte sie in Romanen. Sie hatte schon im Studium von einem Cottage in Cornwall geträumt, im Ohrensessel mit einem Buch zu kuscheln, die Regale bis zur Decke voll mit Büchern. Was sie gar nicht mochte, das war Gartenarbeit. Ihr graute davor, tagelang bei Wind und Wetter im Frühjahr und im Herbst draußen herumzutrampeln und Unkraut zu jäten, Bäume und Sträucher zu beschneiden, Beete umzugraben, zu bepflanzen. Ich weiß nicht, warum Dave kaum mithalf und ihr keinen Gärtnergehilfen zugestand. Vielleicht machte ihn, als sein Klientenstamm wuchs, die Arbeit in der Kanzlei so fertig, dass er dafür kein Gespür mehr hatte.

Alice: Nachtigall, ick hör dir trapsen.

 

Bob: Die beiden wünschten sich Kinder,. Das klappte nicht. Dann war da plötzlich ein Hund im Haus. Der wuchs und wuchs. Ein Rottweiler, wenn ich mich richtig erinnere. Dave nannte ihn Leo. Leo war ziemlich ungezogen. Auch hing er nicht so sehr am Herrchen, sondern am Frauchen, das tagsüber für ihn sorgte. Carol absolvierte mit ihm eine Hundeschule; zumindest sie war davon begeistert. Eines Tages gab es einen zweiten Hund. Leo übersah ihn zunächst majestätisch-gutmütig – solange er noch jung war, und obwohl der Kleine ihn zuweilen triezte oder im Spiel zu beißen versuchte. Bald wurde er nur noch Beißer gerufen. Die beiden kamen auch später ganz gut miteinander aus, aber vielleicht gab’s da auch nur so ein Arrangement zwischen den beiden, wie bei so manchem Menschenpaar. Haus und Garten waren als Reviere groß genug. Und zwei Bezugspersonen standen bei Fuß, für jeden eine. Verreist wurde nur noch mit Hund. Keine Fern- oder Flugreisen. Im Kombi ging es ab in Richtung Süden, nach Südtirol. Eine richtige, kleine, glückliche Familie, die sich da zusammengefunden hatte. Ein paar Jahre später litt Leo unter einer schweren Hüftgelenkdysplasie. Beide Hunde lebten nicht sehr lange. Krebs. Sie wurden kurz hintereinander eingeschläfert.

Alice: Ein schwerer Schlag für Carol und Dave.

Bob: Ja, es war schlimm. So, als seien ihre Kinder gestorben. Nach ein paar Monaten Trauer hatten sie wieder zwei Hunde. Ein Neuanfang, aber es war nicht dasselbe. Nur eine Kopie. Das Herz hing mehr an der Erinnerung an die toten Vorgänger, fand keine rechte Freude am Leben mit den neuen Hunden.

Alice: Hat das die Beziehung von Carol und Dave schwer belastet?

Bob: Carol hat sich darüber ausgeschwiegen. Und danach gefragt habe ich sie nicht. Es war die Zeit, wo ich selbst sehr viel und länger am Abend in meinem Job arbeiten musste. Häufig ersetzten Emails die Telefongespräche.

 

Bob: Alice, dich interessiert als Frau vor allem eins: wie die beiden miteinander lebten, wie sie miteinander umgingen und ihre Beziehung gestalteten, und was schließlich Carol kaputt machte und zum Freitod trieb. Stimmt‘s?

Alice: Stimmt.

Bob: Die ersten Teile im Puzzle haben wir schon: das Umfeld grob skizziert, und Hund statt Kind.

Alice: Wie passten Carol und Dave zusammen? Charakter, Temperament, Gewohnheiten? Wie meisterten sie die Differenzen?

Bob: Vieles von dem, was ich jetzt sage, sind Mutmaßungen. Erschlossen aus Carols Bemerkungen und dem, was sie verschwieg. Ich war nicht der Ersatz für ihre beste Freundin, derjenige, dem sie ihr Herz ausschüttete. Jedenfalls nicht in den letzten Jahren. Carol war eine lebenslustige Frau, hatte viele Affären in der Zeit vor Dave. Und zwei Abtreibungen, wovon sie ganz offen sprach. Andererseits war sie gewissenhaft und pflichtbewusst: berufliche Arbeit, soziale Kontakte, Beziehungsarbeit nahm sie sehr ernst. Gutmütig von Natur aus, auch wenn sie von sich selbst sagte, sie sei nachtragend und habe ein Gedächtnis wie ein Elefant.

Alice: Und wie war Dave?

Bob: Dave war mindestens zehn Jahre älter als sie. Ich bin mir nicht sicher, ob es mit Carol seine erste Ehe war. Ihn nahm sein Beruf voll in Anspruch. Und der Beruf zählte für ihn wohl mehr als die Beziehung zu Carol. Als starker Raucher nahm er wenig Rücksicht, was sie als Nichtraucherin belastete, auch wenn es ihr anfangs nichts auszumachen schien. Dave faulenzte zuhause, ging sehr spät zu Bett, und war am Wochenende kaum vor Mittag aus dem Bett zu bekommen. Carol dagegen war eine Lerche. Früh am Morgen schon war sie munter. Brachte ihrem Mann das Frühstück ans Bett. Abends ging sie zeitig schlafen. Beide liebten schnelle Autos, und Dave war nicht glücklich, wenn er nicht im Porsche mit mindestens 220 Stundenkilometern über die Autobahn brettern konnte.

 

Alice: Es gibt doch viele solcher Ehen, die halbwegs oder ganz gut funktionieren. Warum diese nicht?

Bob: Alice, lass mich spekulieren, um das Puzzle zusammensetzen zu können. Carol hielt sich mit Andeutungen über ihre Eheprobleme zurück. Dave war mittlerweile im Ruhestand. Wie viel er in der Kanzlei noch arbeitete, weiß ich nicht. Zuhause spielte er den Pascha. Ließ sich gehen. Alles überließ er Carol, der dies über den Kopf wuchs. Kommunikation war nie Daves Stärke gewesen. Über Probleme in der Beziehung reden, das konnte er nicht, und das wollte er nicht. Er wollte seine Ruhe haben.

Alice: Und Carol?

 

Mallory: Gehackt! Nun schau, was gleich passiert, Bob. Viel Spaß. Ahoi. Mallory.

Bob: Verfluchtes Hackergesindel! Alles macht ihr kaputt. Nicht mal meine Story lasst ihr mich in Ruhe zu Ende bringen. Gleich werd ich euch jagen.

Bob: Alice? Bist du noch da? Alice?

Bob: Ich kleb schnell mit Copy&Paste den Rest der Story rein. Email folgt.

 

Carol nahm alles auf ihre Schultern, wie ein treuer Lastenesel. Als sei es das Selbstverständlichste der Welt, oder als sei es eine heilige Pflicht. Es gab Zoff mit einem der Nachbarn. Die schwelenden Streitigkeiten mit Mietern und Handwerkern bei einigen der verstreut liegenden Immobilien eskalierten. Der Konkurs der Werbeagentur in Südtirol, mit der sie sehr eng kooperierte. Für die sie häufig wochenlang vor Ort gearbeitet hatte, und auch zuhause viel getextet. Ihre alte, über 90jährige Mutter, zu der sie immer wieder weite Strecken fahren musste. In den letzten Tagen klagte sie obendrein über Störungen bei Telefon, Internet und ihrem MacBook. Und doch muss sich noch etwas anderes, sehr Schlimmes, ereignet haben.

Du fragst sicher: Wo steckte Dave in diesen schweren Tagen?

Für mich bleibt es ein Rätsel. Du kannst es nicht wissen: In der Traueranzeige sind sie alle aufgeführt, als Trauernde: Carols Mutter, ihr Bruder und dessen Familie, die nächsten Angehörigen und Verwandten. Aber einer fehlt, sein Name steht nirgendwo: Dave, ihr Mann.


Plätze 26 - 112

Alle Panther rein, Valeska Schraknepper
Alles beim Alten, Ferenc Liebig

Alschlöchel, Martin Rehbock
Auf dem Bachmannweg, Horst Paul Kuhley

Ausgebleichte Himbeeren, Stefanie Lemke
Belgrad Tage/Buch, Marko Dinic
Bernd sucht seinen Riemen, Rebecca Böde
Blaue Stunde, Roland Bärwinkel
Brüder, Andreas Thamm
Deine warmen Hände, Johannes Koch
Der Bär, Peter Zimmermann
Der gelbe Leguan, Amir Aboueldahab
Der Gurgitator, Alexander Raschle
Der Totgeweihte und die Zukunft im Puddingbecher, Alexej Rozmarin

Der urbane Dorfdepp, Thomas Steierer
Der Prüfling und sein Griepenkerl, Tyrell van Boog
Die Urne, Franziska Wolffheim

Die Frau mit dem Ledermagen, Susanne Hasenstab
Die Nadel jagt immerzu im Kreis, Anne Krüger
Die Problematik offenbart sich mit der Zeit, Jana Baldy
Die verlorene Wahrheit, Farzad Tahashi
Drei Rumänen, ein Baum, Enno Kalisch

Eine Saison lang, Julia Kersebaum
Eine Verarbeitung, Susanne Rüttgers-Schmidt

Eines Morgens oder das Prinzip der Abweichung, Michaela Davin

Einmal. Alles. Zum mitnehmen., Lili Aschoff
Elegie für meinen Vater, Sabine Roidl

Endstationen, Ralf Kratzert
Entfremdet, Nicole Makarewicz
Fragment, Mia Göhring
Frau Schmid, Stefanie Bucifal
Fred vom Jupiter, Wolfgang Pollanz
Gaugin und mein Tod, Juliane Wellisch
Gebrochenes Licht, Natalie Wassermann

Gedankenschaum, Annalisa Hartmann
Geplant war die Ewigkeit, Andreas Glumm

Geschwistertreffen, Peter Wenzel
Gesichtsverlust, Annie Kleff
Grenzgänger, Gerhard Reininger
Hahnentritt, Johannes Reisser
Heiß, Heinke Ubben
Herbstfest, Katrin Deibert
Ich muss los, Mercedes Spannagl
ich-bin-das-wetter.com, Orla Wolf
Im Museum, Corinna Antelmann
Im Meer, Elisa Helm
Italien, Tobias Müller
Kern #101, Christian Künne
Klebstoff im Haar, Mascha von Hallberg
Kleine Delfine für Dead Hand Jones, Wolfgang Quest
Letzte Etappe, Andree Hesse
Loch im Kopf, Frank M. Wagner
Malaika, Julia Hemetsberger
Maria, Nora Szech
Mein Glio, Michael Lichtwarck-Aschoff
Mit dem Rücken zum Meer, Ilija Matusko
Neuronale Landkarten, Andreas Hutt
Nicht hier bei uns im Ort, Ursula Maria Wartmann
Nizar, Natascha Repp 
oder.Auto. kaputt., Marion Getz
Ohne Ben, Eva Lindner 
Papa Bert, Sophia Spyropoulos
Patient Null, Artur Dziuk
Pioniere, David Paulitschek
Poljakovs Vase, Katharina Glück
Rostig geworden, Kathrin Knebusch
Scheißfabrik, Veronika Aschenbrenner
Scheißhaus oder wie ich meinen Besten Freund verlor, T.S. Dorsen
Schöner Wohnen, Christine Zureich
Sirtaki, Mario Wurmitzer
Splitter, Nike Boes
Sturzbach, Florian Scheibe
Trakls Trost, Wiete Lenk
Unten an der alten Seebrücke, Max Müller
Verdammt glücklich, Ruben Alexander
Vernichtung nebenbei, Roman Adel 
Vier Wochen, Sabine Bartsch
Vogel verursacht Unfall, Isele Weber
Von denen die auszogen, die Welt so zu lassen, Gabriel Kos
Von alten Zöpfen, Marika Bergmann
Vor den Hunden sind alle Hunde gleich Hund, Zachi B. Schwarzkopf
Waagerechte Hände, Andy Jelcic
Was wir hatten, Jennifer Zonsius
Wie Samt, Reiner Bonack

Werner schläft nicht mehr, Johannes Tosin

7.5F, René Hamann

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