17. Münchner Kurzgeschichtenpreis – Publikumspreis

Janis Joplin und ich (von Doris Hillebrand)

Das mit der Katze hätte nicht passieren dürfen. Als grundsätzlich besonnenem und nachdenklichem Wesen hätte mir bereits Auge in Auge mit der kleinen Schwarzen klar sein müssen, dass das keine gute Idee ist. Eigentlich war es gar keine Idee, schon gar kein Plan.

Tatsache ist, sie hat mich gereizt. Oder habe ich sie missverstanden? Sitzt sie da einfach starr vor Angst und hofft, ich würde sie in Ruhe lassen, wenn sie sich nicht bewegt? Ich will nichts von ihr, aber wie sie so provozierend zwei, drei Meter, einen Sprung entfernt vor mir kauert, packt mich der Ehrgeiz. Erwische ich sie wirklich mit einem Satz? Ein rein sportliches Interesse. So, wie möglichst hoch Markierungen zu pinkeln. Als ich sie dann mit meinen Zähnen halte, nur einmal kräftig geschüttelt, hängt sie schon schlaff zwischen meinen Kiefern. Ich lege sie ab ins Gras, sie zuckt nur kurz, kaum sichtbar, dann ist das Leben aus ihr gewichen. Das Ganze dauert nur ein paar Sekunden und ehrlich: Eigentlich wollte ich das gar nicht.

Schuldbewusst und zerknirscht hoffe ich, dass niemand meine Untat beobachtet hat. Aber offenbar hat das Adrenalin zuallererst meine Ohren verkleistert oder die Hörnerven betäubt. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie mein Zweibein Hanna mich anstarrt. Mit einem Gesicht, verzerrt wie auf dem Munch-Plakat über meinem Schlafplatz, will sie schreien. Der Schrei steckt irgendwo zwischen Kehlkopf und Mundhöhle fest und kommt nicht weiter. Er verhindert aber auch, dass Hannas Lunge Luft einsaugen kann. Hannas Gesicht verfärbt sich rot, ich habe Angst, sie wird gleich platzen. Mit einem einzigen Blick in ihre aufgerissenen Augen groß wie Taubeneier habe ich die Situation erfasst. Hanna hat geschrien, hat mich zurückgerufen, hat vorhergesehen, was passieren würde. Aber ich habe sie nicht gehört, ich habe sie einfach nicht gehört. Und nun ist sie entsetzt, stinksauer, traurig über meine Mordtat. Und darüber, dass sie sie nicht hat verhindern können.

Ich habe es vermasselt, habe alles versaut, habe Hannas Liebe verspielt. Versager, denke ich, ich bin wirklich nicht mehr integrierbar. Benehme mich wie ein Henker, nicht wie ein sozialverträgliches Mitglied der Gemeinschaft. Zusammenleben ist kein Ego-Shooter-Game. Nach über zwei Jahren auf der Straße, die nicht schlecht, aber auch sehr anstrengend waren, ist es doch angenehm gewesen, endlich ein ruhiges Plätzchen gefunden zu haben. Essen, trinken, einigermaßen erträgliche Gesellschaft, auch wenn Cora ziemlich arrogant daherkommt und sich nicht wirklich für mich interessiert, es sei denn es ist etwas in meinem Futternapf, was sie haben will.

Es gab keinen Grund, der es gerechtfertigt hätte, der Schwarzen das Lebenslicht auszublasen.

Paradox. Zum gesellschaftlichen Konsens der Zweibeine gehört, dass ein Wesen, das sich außerhalb des sozialen Gefüges stellt, etwa indem es, so wie ich, ohne akzeptablen Grund tötet, ausgeschlossen wird, indem es eingeschlossen wird. Für jemand, der sich extrem daneben benimmt, kann es nur Knast geben. Ich hätte diese Strafe gern angenommen. Schlechtes Gewissen habe ich genug. Und ich weiß, dass ein Verbrechen gesühnt werden muss.

Hanna neigt zum kurzen Prozess. Sie ist spontan, reagiert generell schnell, handelt aus dem Bauch heraus, und liegt damit meist richtig. Auf diese Weise ist sie effizient und bewegt eine Menge. Sie verschwendet keine Zeit mit abwägen. Und jetzt habe ich sie bitter enttäuscht. Ihr Vertrauen in mich ist in den Grundfesten erschüttert. Alles ist ins Rutschen geraten. Auf diesem Geröll lässt sich nicht mehr aufbauen. Das weiß Hanna innerhalb von Nanosekunden.

Ich verstehe, dass sie auch Angst um Merlin, Paul und Sissi hat. Dabei würde ich den dreien niemals eines ihrer seidigen Tigerhaare krümmen. Das wissen sie auch, so selbstsicher wie sie vor meiner Nase auf die Anrichte springen, um dort zu speisen, wo ich nicht hindarf. Aber okay. Die Familienordnung und die Tischgepflogenheiten habe ich unverzüglich akzeptiert. Ich wollte meinen Frieden. Und ja, die Katzen und Cora waren vor mir da. Also heißt es: Füg dich ein, mach keinen Stress, dann kannst du bleiben. Ich habe von Anfang an allen zu vermitteln versucht, dass ich die Spielregeln kenne und keine Variationen einführen will. Ich habe mich auf den Rücken geworfen, habe allen meine verletzlichste Seite gezeigt, meinen Bauch, und mich um Integration durch Kapitulation bemüht.

Und jetzt das. Nachdem der Schrei, der halb erstickt und nun ganz klein ist, endlich Platz macht für die Luft, die Hanna dringend zum Atmen braucht, kommt er kläglich und schwach durch die angespannten Lippen gekrochen. Nur mehr ein resigniertes, hilfloses Krächzen. Dann Hannas Urteil, intuitiv gefällt und im Augenblick der Verkündung rechtskräftig: Komm her, du Monster! Außer sich vor Zorn befielt sich mich zu sich, damit ich den Strafausspruch entgegen nehme. Mit eingezogenem Schwanz und hängenden Ohren trotte ich in Zeitlupe zu meinem Zweibein. Es geht ihr nicht schnell genug. Kommst du her!!!Sitz! brüllt sie mich an. Ich setze mich langsam. Mache keine Anstalten, vor Hanna wegzulaufen. Hanna indessen rennt zu der Schwarzen, streichelt behutsam den eingefallenen Körper, spürt sofort, dass keine Hilfe mehr möglich ist. Ich habe ganze Arbeit geleistet. Ich bin wahrlich nicht stolz auf meine Mordtat, vor allem, wenn ich sehe, wie Hanna die Tränen über die Wangen laufen. Sie liebt jede Kreatur, schlägt nicht einmal Fliegen tot. Ich habe richtig Mist gebaut. Niemals hätte ich der gutmütigen Hanna weh tun wollen.

Aber jetzt fährt sie auf, rastet aus. Hau ab, du blödes Vieh, du Mörderhund, du undankbares Scheusal! Ich dachte du hättest kapiert, dass Miezen auch ein Recht auf Leben haben. Du würdest dich wohl in einem günstigen Augenblick auch auf Merlin, Sissi oder Paul stürzen, nur weil sie dir den Blick verstellen. Verschwinde, asoziales Stück!

Sie geht auf mich zu, bückt sich, nimmt mir das Halsband ab. Dann nochmal: Hau ab! Sie zeigt mit ihrem rechten Arm die Straße entlang dorfauswärts. Schleich dich, du gehörst doch nicht hier her, ich hab mich getäuscht!

Als sie das Halsband aufmacht, ist das Urteil, die lebenslange Freiheitsstrafe, vollstreckt. Mir ist eiskalt, mein zuletzt untrainiertes Herz rast, in meinem Hirn klirrt es, wie splitterndes Glas.

Freedom is just another word for nothing left to lose. Janis Joplin hat recht.

Ich renne los, nicht aus Angst vor Schlägen oder Tritten. So etwas tut mein Zweibein, nein sie ist ja nicht mehr “mein” Zweibein, so etwas tut Hanna nicht. Voller Scham will ich unsichtbar sein, im Erdboden versinken, wie Zweibeine so bildkräftig sagen. Ich beeile mich fortzukommen, Richtung Dorfausgang, wo die schmale Straße nach einem knappen Kilometer in die Hauptstraße mündet. Ich versuche mich zu konzentrieren und gegen die im Bauch wummernde Panik anzurennen. Jetzt wieder die alten Fähigkeiten aktivieren. Mäuse fangen, Fasanennester finden, Eier von Bodenbrütern knacken. Vielleicht ein Freudenmoment vor dem Nest eines Rebhuhnes. Die legen besonders viele Eier. In so einem Gelege habe ich einmal zwanzig lauwarme, angebrütete Eier gefunden. Viel zu verlieren habe ich jetzt wirklich nicht mehr.

Klüger wäre gewesen, mir den Ausflug in die Bequemlichkeit zu ersparen. Aber hinterher ist man ja immer schlauer. Für sechs Wochen Kost und Logis habe ich nicht nur mit meiner Freiheit, sondern auch mit meinen Eiern bezahlt. Das war nicht absehbar, als ich bettelnd vor Hannas Tor stand und mich von Cora anblaffen ließ. Die Kastrationswunde ist gerade verheilt, mein Kopf ziemlich verwirrt. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit meiner verstümmelten Männlichkeit mit anderen Waldkämpfern zurecht kommen werde. Die riechen sicher meilenweit gegen den Wind, dass ich nicht vollständig bin. Die beste Strategie wird sein, möglichst allem aus dem Weg zu gehen. Vielleicht entlastet es mich aber auch. Ich muss jetzt nur noch für Nahrung, Wasser und bei schlechtem Wetter ein Dach über dem Kopf sorgen. Die Mädels werden mich nicht mehr ernst nehmen, das erspart mir Gedankenarbeit, Kämpfe und Aufwand für Eroberungen. Sollen es doch die anderen Jungs machen.

. . . nothing left to lose.

Was habe ich noch zu verlieren? Eigentlich nur noch mein Leben. Meinte Janis Joplin das wirklich so? Nur frei, wenn man keine Angst vor dem Tod hat? Oder tot ist? Keine Ahnung, ich habe das Lied schon lange nicht mehr gehört.

Sie fragen sich zurecht, woher ich als mittelmäßig gebildeter Hund und Kind dieser komischen Nullerjahre Janis Joplin kenne. Bevor ich mich als Autodidakt zum Straßenköter weitergebildet habe, lebte ich mit Heinz. Heinz war sanft, wollte mit Zweibeinen nichts mehr zu tun haben, war nur für uns beide da. An die Zeit vor Heinz habe ich keine Erinnerung. So gesehen fing alles mit Heinz an. Leider ging es mit ihm auch bald zu Ende. Keine drei Jahre lebten wir zusammen. Vielleicht waren das die besten Jahre meines Lebens. Heinz hörte ständig Musik. Seine Göttin Janis. Seine Hymne “Me and Bobby McGee”. Meistens waren wir in seinem cremefarbenen Opel Admiral unterwegs. Er hatte sich Bose-Lautsprecher für seinen CD-Spieler eingebaut. Diese Anlage passte so überhaupt nicht zu dem aus der Zeit gefallenen Auto mit der Unfarbe. Der Stilbruch war krass. Und in dieser Kiste hörten wir “Pearl” rauf und runter. Die beste Scheibe der Plattengeschichte. Das hat Heinz jedesmal euphorisch verkündet. Ich glaube nicht, dass Heinz einen Mercedes Benz gewollt hätte. Er war vernarrt in seinen Opel, obwohl der am Schluss ganz schön versifft war. Heinz hatte keine Energie mehr, die Kutsche sauber zu halten. Und eigentlich war es folgerichtig, dass Heinz in diesem Auto starb. Er hatte mal wieder zuviel drin. Traurig. Ich bin rausgeflogen durch den Aufprall, habe mir einige Rippen gebrochen, die Lunge gequetscht. Hing ein paar Wochen ziemlich rum. Aber schlimmer war, dass ich von einer Sekunde zur anderen auf mich selbst gestellt war. Ich hatte sofort kapiert, dass Heinz nicht mehr aufwacht. Hat alles ziemlich weh getan. Aber ich schweife ab. Ich wollte ja nur erzählen, woher ich Janis Joplin kenne.

Seit gut zwanzig Minuten bin ich jetzt unterwegs. Ich denke es ist klug, Richtung Gewerbegebiet zu laufen. Bei den Müllcontainern von Rewe und Aldi habe ich früher immer etwas Fressbares gefunden. Und auf dem Parkplatz kann ich Zweibeine anbetteln. Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht an so ein tierliebes Wesen gerate, das mich schnell ins Auto zerrt, um mich ins nächste Tierheim zu schaffen. Armer, armer Straßenhund.

Ich laufe in ziemlich gleichmäßigem Tempo im Straßengraben, für die Autofahrer auf der Staatsstraße durch eine struppige Buschreihe und die Leitplanke verdeckt. Gefällt mir, dass ich die Geschwindigkeit wieder selber bestimmen kann. Das Leinegehen ist so eine Sache. Schon schön zu wissen, dass am anderen Ende der Leine ein Zweibein hängt, das sich um einen kümmert. Aber Hanna hat nie richtig verstanden, wenn ich stehenbleiben musste. Eine Geruchsspur lesen musste. Hanna ist immer ungeduldig. Ich sagte ja bereits, dass sie ungern Zeit verschwendet. Selten geht ihr etwas schell genug. Deshalb hatte ich auch nie richtig Zeit, meine “Morgenzeitung” zu lesen, die Markierungen der anderen Jungs aus dem Dorf, die vor allem immer nachts unterwegs waren. So eine Markierung muss ordentlich bearbeitet werden, das bedeutet erschnüffelt, verstanden und mit einem Kommentar versehen. Und das braucht seine Zeit. Ich frage mich, warum ich Hannas Tempo einfach akzeptiert habe. Jetzt fällt mir noch eine Songzeile aus der Anlage im alten Admiral ein. Westernhagen, Freiheit ist die einzige, die fehlt. Bei Hanna bin ich nie auf die Idee gekommen, dass mir was fehlt. Seltsam. Jetzt werde ich die Muße haben, so lange zu schnüffeln, bis der Magen knurrt.

Lebenslange Freiheit als Strafe. Mir wird Angst. Ich denke an den letzten Winter vor der Zeit bei Hanna. In der kältesten Nacht hatte es minus zweiundzwanzig Grad, und meine Schneehöhle war nicht dicht genug, so dass ich fast erfroren wäre. Ich kann nur auf einen milderen Winter hoffen. Und es ist auch ein bisschen verlockend, gelegentlich ungestraft die eigene Schnelligkeit mit der einer Katze zu messen. Das nicht vernünftige, nicht moralische, nicht gezähmte Leben hat seinen Preis. Freiheit ist nur durch die Negation zu definieren. Durch den Wegfall von Begrenzung. Freisein, ohne zu wissen wovon? Schwer vorstellbar.

Von hinten höre ich ein bekanntes Motorgeräusch. Ich bin mir sicher, Hannas Pick-Up zu erkennen. Sie fährt etwas hochtourig, der falsche Gang. Das heißt, sie ist aufgeregt, in Gedanken. Der vertraute Klang kommt nur langsam näher. Hanna ist nicht so schnell unterwegs wie sonst. Es kann nur bedeuten, dass sie mich sucht. Hat sie mich schon begnadigt? Oder die Strafe umgewandelt in lebenslanges Gefängnis? Nie mehr ohne Leine. Nie mehr jenseits des Zaunes unterwegs zum entspannten Schnüffeln. Leben im abgezirkelten Geviert des Hausgartens mit Coras Duft und der Katzenpisse.

Was mache ich jetzt? Ich habe drei Möglichkeiten. Fair und vernünftig wäre, mich jetzt blicken zu lassen. Über die Leitplanke springen, Schnauze Richtung Hannas Auto, mit dem Schwanz wedeln. Ihr zeigen, wie sehr ich mich freue, wenn sie mir verzeiht. Hallo Halsband, hallo Leine . . .

Oder ich bleibe im Graben. Lege mich hin. Krieche unter einen Busch, wo ich mit meinem rötlich-brauen Fell zwischen den herbstlichen Blättern recht unscheinbar bin. Aus dem Wagen heraus kann sie mich so keinesfalls entdecken. Sie wird vorbeifahren, mich nicht sehen. Willkommen Wildnis, welcome waste . . .

Oder ich halte mich noch ein bisschen versteckt. Lasse Hanna herankommen. Sie fährt langsam, daher könnte sie wohl bremsen, wenn ihr etwas vor die Räder kommt. Also muss ich warten, bis sie fast neben mir ist, fast gleichauf, erst dann aus meiner Deckung kommen. Los, jetzt, sei kein Feigling, Heinz war es doch auch nicht, raus, über die Leitplanke unmittelbar vor den Kühler. Die Höchststrafe für Hanna wäre, mich zu überfahren.

Hannas Wagen nähert sich. Ich schätze, er ist nur noch 30 bis 40 Meter entfernt. Wenn ich springe, bin ich wirklich ein Monster. Bin ich so grausam, ihr das anzutun? Wäre diese theatralische Inszenierung primitive Rache oder Freiheit in letzter Konsequenz?

Mir bleibt höchstens noch eine Sekunde.

Und ich höre die Stimme von Janis und ihre Gitarre . . .

 

 

Drei Minuten

 

Um die Sonne hat sich ein heller Ring zusammengezogen. Ein Helikopter durchquert das Geviert zwischen den Wellblechdächern von rechts nach links. Das Knattern entfernt sich, um kurz darauf wieder lauter zu werden. Der Helikopter erscheint zur Linken, steht einen Augenblick still, bewegungslos wie ein Albatros vor dem Sturz ins Meer, dann schraubt er sich in den Himmel und entfernt sich Richtung Corcovado.

Inaldo schaut ihm nach, bis er hinter dem bewaldeten Hügel verschwindet.

Die Polizei.

Jahrelang war es hier so gefährlich, dass sich nicht einmal mehr die Polícia Militar herein wagte. Dann, eines Morgens im vergangenen November, rollten um vier Uhr in der Früh gepanzerte Fahrzeuge an. Die Favela wurde von den Truppen der BOPE gestürmt. Gasse für Gasse durchkämmten sie die Viertel. Die Chefs der Drogengangs wurden verhaftet. Wer flüchtete wurde abgeknallt wie Jagdwild. Kam alles am Fernsehen. Jetzt sitzen junge Polizisten mit kugelsicheren Westen in den Kinderkrippen am Boden, die Sonnenbrille in die gegelten Haare hochgeschoben, und spielen mit den Kleinen. Geben Musikstunden und Englischlektionen. Patroullieren in den Strassen, die MGs lässig über die Schulter gehängt. Um den Leuten zu zeigen, wie idyllisch es hier ist, werden in der Favela neuerdings auch Führungen angeboten. Es ist wie im Zoo. „Slum Befriedung“ heisst das Programm der Stadt.

Und wozu das alles?

Inaldo zieht den Rotz hoch und spuckt verächtlich neben seine Füsse. Auch dem letzten Ignoranten in Rocinha ist mittlerweile klar, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt.

Fussball WM 2014. Olympiade 2016. Was nachher kommt, wird man sehen.

Inaldo reibt den Stummel des linken Unterarms an seiner Brust. Er spürt die Hitze der Backsteinwand am Rücken, schiebt die Zunge im Mund hin und her wie ein mürbes Stück Fleisch.

 

Luana sitzt vor dem Spiegel. Die Mutter steht hinter ihr, reisst die Plastikbürste durch das widerspenstige krause Haar. Immer wieder.

Willst du nicht ein bisschen Rouge auflegen?

Luana schüttelt den Kopf.

Im Spiegel sieht sie das zerschlissene Sofa. Den Geschirrschrank mit Tellern und Gläsern. Die Gipsfigur der Iemanjá in ihrem blassblauen Kleid. Die vollgehängte Wäscheleine. Den Computer in der Ecke. Ein Heiligtum, unnütz und fremd wie das vom Himmel gefallene Requisit eines Alien.

Der Computer gehört Victor, dem kleinen Bruder.

,Wie ich mir meine Zukunft vorstelle‘ hiess der Titel der Geschichte, die die Kinder für den Schreibwettbewerb des Centro de Cultura e Educação da Rocinha einsenden konnten. Victor gewann den ersten Preis. Die Jury begründete ihren Entscheid damit, dass in der Geschichte über einen Frachtschiffkapitän alles so anschaulich und lebendig beschrieben sei, als kenne der Zehnjährige die Hohe See aus eigener Erfahrung. Es kam in der Zeitung, und eines Tages stand plötzlich und unangemeldet ein Team von TV Rete Carioca in der Küche.

Victor hat den Computer noch nie benutzt. Als er ihn an den Strom anschliessen wollte, gab es einen Kurzschluss, es zischte, Funken stoben. Die Mutter machte eine Szene und verprügelte Victor, weil sie an diesem Abend die Telenovela nicht schauen konnte.

Der Computer tut seither keinen Wank mehr. Trotzdem ist Victor stolz. Man nennt ihn seither Victor Hugo.

Wer ist Victor Hugo?, hat Luana in der Schule gefragt.

Ein berühmter französischer Schriftsteller, hat die Lehrerin geantwortet.

Manchmal sitzt Victor Hugo vor dem Computer und drückt mit dem Zeigefinger auf der Tastatur herum. Dabei murmelt er unverständliches Zeug. Aber die meiste Zeit ist er nach der Schule unten am Strand in Leblon, wo er den Touristen Erdnüsse und gekochte Wachteleier verkauft. Sie kosten bei ihm dreimal soviel wie im Supermarkt. Manchmal lümmelt er bei den Restaurants an der Strandpromenade rum und schaut, ob von den Tellern der Touristen etwas für ihn abfällt. Edson, der grosse Bruder, weiss hingegen nichts Besseres, als stundenlang auf seinem Moped die engen Strassen der Favela rauf und runter zu schlittern. Seit sie ihm vor zwei Jahren in die Füsse geschossen haben, kann er nicht mehr richtig gehen.

Das Haar steht Luana wie Stahlspäne vom Kopf ab. Das Tanktop spannt über den kleinen Brüsten.

Du weißt, was er von dir bekommen kann, also halte dich daran, sagt die Mutter.

Luana zieht die Lippen zwischen die Zähne und begutachtet ihre knallorangen Fingernägel.

Die Mutter küsst sie auf den Scheitel. Dann geh jetzt.

Luana schlüpft in ihre Flip-Flops, schnallt sich das Bauchtäschchen um und tritt hinaus in das staubige Labyrinth.

In der Gasse vor ihrem Haus stehen einige Leute eng zusammengerückt. Von der Sonne verbrannte Nasen und Décolletés. Männer in Bermudas und Baseballmützen, die Frauen tragen Shorts. Sie haben weder Uhren noch Schmuck auf sich.

Die Leute drängen sich um eine junge Blondine, die mit wortreicher Gestik auf sie einredet. Luana versteht ein paar Brocken Englisch, ganz sicher aber weiss sie, worum es geht, wenn der Name ihres kleinen Bruders fällt.

Sie drückt sich der Mauer entlang, aber die Blondine hat sie schon gesehen.

He, menina! Bist du die Schwester von Victor Hugo?

Die Touristen lachen, als sie den Namen Victor Hugo hören.

Kannst du ihn mal rausholen für ein Foto?

Die Blondine sagt etwas zu den Leuten. In freudiger Erwartung werden gut versteckte Digitalkameras hervorgezaubert.

Luana bleibt stehen. Wieviel bezahlst du?

Die Führerin unterhält sich mit der Gruppe.

Zwanzig, sagt sie endlich zu Luana gewandt.

Zwanzig? Willst du mich verarschen? Unter fünfzig geht gar nichts, und wir reden von Dollars, wohlverstanden.

Wieder redet die Blonde mit der Gruppe. Dann schüttelt sie den Kopf.

Nichts zu machen, meine Schöne.

Dann verpiss dich, du Nutte, samt den ätzenden Fettärschen!

Luana hebt die Hand zum Stinkefinger und verschwindet hinter der nächsten Strassenecke. Fluchend lehnt sie sich an die Mauer und steckt sich eine Hollywood an. Das Feuerzeug ist ganz neu, neon pink, sechs im Multipack, eine Promotion im Supermarkt.

Sie raucht hastig, spickt die Kippe auf den Boden und geht los.

Enge Gassen. Steile Treppen und Rampen. Das Blau darüber zerschnipselt von einem Gewirr aus Kabelsträngen und Drahtgirlanden.

 

Von seiner Bank aus sieht Inaldo auf die Strasse. In einer Ecke des kleinen Innenhofs schläft ein Hund, alle Viere von sich gestreckt.

Von irgendwoher tönt Sambamusik.

Inaldo schaut auf seine Rolex. Fünfzig Reais hat sie gekostet.

Halb drei. Sie müsste bald hier sein.

Bestimmt kommt sie heute. Ihre Mutter hat es versprochen. Das Geld, dreissig Reais, liegt bereit. Inaldo hat die speckigen Geldscheine unter seinen Hintern geschoben, mit der rechten Hand. Hier sind noch alle Finger da, aber er spürt nichts, weder in den Fingerbeeren noch am Handballen. An der linken Hand sind nur Fingerstummel übrig.

Vor vier Jahren hat es angefangen, ein Kribbeln in Fingern und in Zehen. Dann zeigten sich helle Flecken an Armen und Beinen. Der Arzt, den Inaldo im Ambulatorium aufgesucht hat, sagte, es sei Schuppenflechte, und gab ihm eine Salbe. Sie hat nichts genützt.

Inaldo nimmt einen Schluck Rum, unbeholfen führt er die Flasche mit der rechten Hand zum Mund. Süss und heiss rinnt der Schnaps über die Zunge.

Die Zunge. Nur mit der Zunge kann er noch etwas fühlen.

Auch die Füsse sind taub geworden in den letzten Monaten. Inaldo ist jetzt in einem Programm der Anti Lepra Ligue Rio de Janeiro, eine Filiale der ILEP, ein englischer Name, irgend etwas mit international, und bekommt Antibiotika. Ihm stünde auch eine monatliche Rente von 750 Reais zu, aber dafür müsste er sich in die Klinik einweisen lassen.

Kommt nicht in Frage.

Das bisschen Freiheit aufgeben, das er noch hat? An der Sonne sitzen, eine Zigarette rauchen, an der Rumflasche nuckeln, zum Mittagessen Feijoada mit Würstchen, ein Bier dazu, am Abend die Telenovela schauen, zweimal die Woche Luanas zarte Haut spüren. Auf all das verzichten für lumpige 750 Reais? Nie und nimmer. Lieber hier in seinem Haus verrecken. Ein wenig stolz ist Inaldo, seit ihm der Arzt gesagt hat, das, woran er leide, sei die älteste Krankheit der Welt. Schon die Bibel rede davon.

Die älteste Krankheit. Das ist doch was, immerhin.

 

Eine Verschnaufpause in der Mitte einer Treppe, die so steil ist, dass man ihr Ende nicht sieht. Luana hat es nicht eilig. Schon so kommt sie ausser Atem. Warum muss der alte Sack nur soweit oben am Berg wohnen?

Sie hockt sich auf eine Stufe und denkt an die Geldscheine, die unter dem Hintern von Inaldo liegen. Einen Teil davon darf sie behalten und damit machen, was sie will. Sie muss sich von niemandem etwas sagen lassen. Siebzig Reais hat sie schon zur Seite gelegt. Im Fashion Mall an der Gávea hat sie neulich ein Kleid gesehen, Chiffon und Tüll, zitronengelb, das hat ihr gefallen, die Schaufensterpuppe war weiss und dünn und hatte rote Lippen und lange dünne Finger, so lange Finger hat ja kein Mensch, aber das Kleid hat Luana gefallen, für den Carneval wäre es genau das richtige. Andererseits möchte sie sich schon lange ein Brazilian Waxing machen lassen, obwohl die Mutter dagegen ist. Dreizehn und ein Brazilian Waxing, total bescheuert findet sie das. Unten in Leblon will Luana es machen lassen, nicht bei Teresa hier oben in Rocinha, wo jeder jeden kennt. Ihr Salon Sonho das Estrelas ist der Mittelpunkt des Klatsches im Quartier. Ein nicht abbrechender Strom von Neuigkeiten, ein Summen und Raunen, Gelächter und Jammern. Gracinha ist schwanger, von wem, das weiss niemand, nicht einmal sie selbst, Tia Marcela hat im Jogo de Bicho gewonnen, 800 Reais, zwei von vier richtigen, sie hat auf Schmetterling, Hase und Ziege gesetzt, ihr Alter hat ihr schon am nächsten Tag alles wieder abgenommen, der Jüngste von Saima hat einen Wasserkopf, die Ärmste, Marcelo hat beim letzten Bola de Neve Gottesdienst sein neues Surfbrett segnen lassen, woran ist Xuxa gestorben, woran wohl, eine Überdosis, Floran hat den Mixer seiner Grossmutter verramscht, um sich Crystal zu kaufen, Crystal, so Scheisse, ach was, es ist besser als Chloroform, Schusterleim, Benzin, Crack, besser als alles, zack, es schlägt ein wie eine Bombe und die Welt wird ein buntes Karrussell, so tönt es von morgen früh bis zum Einbruch der Dunkelheit, wenn unten in der Bucht die Lichter anfangen zu flirren.

Nein, bei Teresa will Luana es nicht machen lassen. Geht es irgend jemanden im Viertel etwas an, wie es bei ihr unter dem Tangahöschen aussieht?

Mal schauen. Chiffonkleid oder Waxing. Eines von beiden.

Auf der Querstrasse oberhalb der Treppe kommt ihr Claudete entgegen. NESTLE. GENUSS. WOHLBEFINDEN steht in grossen Buchstaben auf ihrem Einkaufsrolly. Claudete ist kaum älter als Luana. Rastazöpfchen, knappe Shorts, eine kleine Narbe am rechten Mundwinkel.

Hoi, Luana! Bist unterwegs, wohin? Kaufst du mir was ab?

Luana bleibt stehen. Guten Tag, Claudete. Mal sehen. Hast du Chandelle?

Aber ja. Chandelle, Chokito, Suflair, Calypso, alles was du willst. Ganz neu im Angebot sind Bomboms Alpino, Schweizer Milchschokolade. Ein Traum.

Ok, dann gib mir eine Packung davon. Machst du mir einen Spezialpreis?

Zwei Reais, weil du es bist.

Claudete klappt den Deckel des Wägelchens hoch und holt eine Packung mit drei Pralinen hervor. Hier, du wirst begeistert sein.

Luana steckt sie ins Bauchtäschchen und klaubt zwei Geldscheine hervor.

Also dann. Bei Rubio ist am Samstag Merengue Night. Kommst du auch?

Claudete zuckt mit den Schultern. Vielleicht. Mal schauen. Geht nur, wenn meine Mutter den Kleinen hütet.

 

 

Endlich sieht Inaldo Luana die Strasse herauf kommen.

Schnuckelchen! Wie geht es dir?

Sie tritt in den Innenhof und schiebt mit einem Fuss die Tür hinter sich zu. Dann steht sie vor ihm. Sein Blick gleitet über ihre satten braunen Beine, dem Blumenmuster des Minirocks entlang hinauf, über die festen kleinen Brüste, die kindlichen Schultern und bleibt an ihren Lippen hängen. Eh, amor, hast du mir eine Zigarette?

Luana steckt dem Alten eine Hollywood in den Mund und gibt ihm Feuer.

Was ist, Schätzchen, sagst du mir nicht guten Tag?

Luana schüttelt den Kopf. Sie hat beschlossen, heute so wenig wie möglich zu reden. Nur gerade das Allernötigste.

Na komm, nun mach schon, sagt Jeu José.

Das Geld zuerst, sagt Luana.

Inaldo stemmt sich hoch und zieht ein paar Geldscheine unter seinem Hintern hervor. Die Zigarette hängt schief zwischen den Lippen, Asche fällt zu Boden.

Hier, die Hälfte, sagt er. Sonst läufst du nach fünf Minuten davon, wie letztes Mal.

Luana verzieht den Mund und stopft die Scheine in ihr Täschchen. Sie setzt sich ans andere Ende der Bank.

Zier dich nicht so.

Der Tonfall von Inaldo ist gereizt. Er bedeutet ihr, näher zu kommen.

Luana schluckt. Sie steht auf, setzt sich wieder, rückt langsam zu Inaldo heran. Er schiebt den rechten Arm hinter ihren Rücken. Dann senkt er den Kopf und beginnt, ihre Schulter zu lecken, den Hals, Luana spürt die weiche Nässe auf ihrer Haut, sie atmet flach und rührt sich nicht, die Zunge gleitet über ihren Oberarm, nur nicht hinschauen, Luana weiss, dass die Zunge dunkelrot ist und zerklüftet wie die Schnecken, die sich in den Rinnsalen unten am Fels sammeln, wenn es geregnet hat. Jetzt spürt sie, wie die Zunge sich ihrem Kinn nähert und dort verweilt. Sie riecht den ranzigen, von Rum gesättigten Atem.

Hör auf, sagt sie. Sonst gehe ich.

Die Schnecke gleitet wieder hinab. Unbeholfen versucht Inaldo, den Träger des Tanktops über die Schulter zu schieben.

Luana springt hoch.

Das reicht!

Der Hund wimmert und zuckt im Schlaf mit einem Ohr.

Luana schreit. Gib mir den Rest des Geldes! Sonst sage ich es Edson, er wird dich verhauen!

Edson! Der Krüppel! Dass ich nicht lache!, zetert Inaldo. Nimm das Geld, wenn du dich getraust, für das Geld bist du dir ja nicht zu schade, die Hand unter meinen Hintern zu schieben!

Geifer rinnt ihm aus den Mundwinkeln und verliert sich in den Bartstoppeln.

Luana stösst den Alten zur Seite. Sein Oberkörper kippt auf die Bank. Sie schnappt sich die Geldscheine und läuft hinaus auf die Strasse.

Schnuckelchen, bleib doch!, ruft er mit weinerlicher Stimme hinter ihr her. Nur noch drei Minuten, das bist du mir schuldig!

 

Luana rennt den Berg hinab, vorbei an Abfallsäcken. Es stinkt süsslich nach verrottenden Früchten. Auf dem Platz vor dem Schulhaus ist ein Rudel Jungs beim Fussballspiel.

Sie setzt sich auf das Mäuerchen am Rand des kleinen Plateaus und lässt die Beine baumeln.

In der Ferne glitzert der Atlantik.

Luana begutachtet die Packung mit den drei Pralinen. Wie Schmuckstücke sehen sie aus, jede in eine goldene gefältelte Folie eingewickelt.

Eine für Mutter. Eine für Victor Hugo. Eine für Edson.

Dann holt sie das Feuerzeug hervor. Nervös klickt sie es an und bläst die Flamme aus, hält es unter die Nase, atmet ein und aus, ein und aus und zieht das Gas tief in die Lunge hinab, den Daumen nach unten gedrückt, bis sie ihn nicht mehr spürt.

Luana fliegt. Unter ihr ist ein Meer aus Flachdächern, Wassertanks und Parabolantennen. Sie scannen das All, filtern die glücksverheissenden Botschaften aus dem kosmischen Rauschen und bündeln sie zu Strahlen, die direkt ins Hirn zielen und es in funkelnden Garben explodieren lassen.

 

 

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