17. Münchner Kurzgeschichtenwettbewerb – 3./4. Preis

Libellen paar sich im Flug (von Anne Müller)

Dies ist kein Anfang. Dies ist keine Liebesgeschichte. Wir sitzen in einem Boot. Der Turm rudert mich, uns. Der Turm kann mir nicht mehr gefährlich werden. Wir teilen lediglich ein Boot und diesen Tag. Über uns der wolkenlose Augusthimmel und eine Ahnung von Herbst gibt diesem Spätsommertag seine Würze. Außer uns sind wenige andere unterwegs. Wir können es uns erlauben, diesem See an einem Montag einen Besuch abzustatten, die kleinen Freiheiten …

Zwei Libellen, grün-blau, schweben miteinander knapp über der Wasseroberfläche. So müsste das Leben und Lieben sein mit jemandem.

Der Turm rudert, ich sitze ihm gegenüber, es ist Nachmittag. Ich kannte diesen See bislang noch nicht und immer ist es der Turm, der mir die schönen Dinge zeigt. Wenn ich meine Sonnenbrille abnehme, sehe ich die echte Farbe des Wassers, sein türkis, eine ungewöhnliche Farbe für einen See hierzulande. Der Turm und ich, wir haben schon viele Seen aufgesucht, kleinere, die nach ewigem Sommer und Moor rochen und deren Wasser die Haut umschmeichelte, manche mit Seerosen. Größere, über die der Wind Wellen schubste, Seen mit Sandbuchten und morschen Holzstegen, von Schilfgürteln umrandet.

Das hier sind unsere besten Momente, der Turm und ich, unter freiem Himmel auf einem See, weit weg von der Stadt, die mich manchmal so traurig und ihn so wütend macht. Noch auf der Autofahrt regte er sich wie immer über alles und jeden auf, über die Grünen, Gysi, die anderen Autofahrer, am liebsten wäre ich wieder ausgestiegen, aber sobald wir die Stadtgrenze hinter uns gelassen hatten, wurde er wie noch jedes Mal still. In der Natur wird der Turm friedlich und tragbar. Er und ich, das ist kein Anfang mehr.

Der Turm rudert gelassen, kraftvoll, wie bei allem, was er tut, teilt er seine Energie gut ein. Er ist trainiert und es ist keine Frage, dass er rudert. Nach dem schlimmen Wochenende, das hinter mir liegt, will ich heute einfach nur die Seele baumeln lassen; ich bin vor drei Tagen verlassen worden von jemandem, der mir im Verhältnis zu den wenigen Wochen, die wir zusammen waren, zu viel Kummer gemacht hat.

Wir haben das Boot gemietet, müssen es bis zum Abend wieder abgeben. Ein grün angestrichener Holzkahn mit der Nummer 17, in dem vermutlich schon viele andere Paare mit anderen Wunden vor uns übers Wasser gerudert sind. Ein kleines Motorboot mit dem Namen „Mendy“ tuckert vorbei, ein Ehepaar, er am Steuer, sie mit dem Hund vorn an Deck. Ich sitze im Bikini dem Turm gegenüber, spüre sein Taxieren. Er hat die Sonne im Rücken, trägt keine Sonnenbrille. Ich möchte viel lieber nackt sein, nichts wäre jetzt natürlicher, als mit ihm nackt zu sein, in einem Boot. Unsere Körper sind vertraut, aus demselben Klumpen Lehm gemacht. Wird einem von uns eine Wunde zugefügt, spürt der andere sie auch. Es ist sehr schwer, einen Mann zu verbannen, mit dem das so ist.

Als der Turm mich vor gut drei Jahren das erste Mal in den Arm nahm, hatte er mich in sich hinein genommen, mich einverleibt. Es gibt wenige Männer, die wirklich umarmen können. Seit ich den Turm kenne und uns eine nicht unkomplizierte Sache verbindet, die weit über uns hinaus und auch zurück reicht, seitdem habe ich immer wieder versucht, den Turm in den Armen anderer Männer zu vergessen. Doch gerade die Arme der anderen waren der falsche Ort. In den Armen der anderen Männer fühlte ich mich dem Turm näher denn je, wurde offensichtlich, dass sie nur ein Ersatz waren. Es war ein angestrengtes, trotziges, mehr ein Vergessen Wollen, als ein Vergessen und die Sache ging meist nach hinten los und ich schadete mir selbst und Seele und Leib kurierte dann ausgerechnet wieder er. Der Turm war zu meinem Leibarzt geworden.

Ein Ausflugsboot mit dem Namen „Heiterkeit“ fährt vorbei, halb leer, schlägt ein paar Wellen, zieht weiter Richtung Norden. „Schwimmen?“ fragt er. Ich nicke. Er holt die Riemen ein, streift seine Boxershorts, wie immer ein geschmackvolles Modell, das bei ihm nie nach Unterhose aussieht, ab, springt über Bord. Ich ihm hinterher, auch ich nackt. Jeder schwimmt in eine andere Richtung, das ist bei uns immer so. Der Turm schwimmt langsam, ruhig, ein Mann, der stets seinem eigenen Rhythmus folgt. Ich bin schneller, zielstrebiger, ungeduldiger, auch hektischer: Im Leben, im Beruf, beim Lieben und Schwimmen.

Das Wasser ist warm, dennoch erfrischend. Kraulen ist immer am besten gegen Liebeskummer. Ich schwimme mir die Verletzung aus dem Leib, die Wut auf Christian, vor allem aber auf mich selbst. Mit jedem Zug lasse ich diesen Mann hinter mir zurück, einen dieser Leichtgewichte, der immerhin, im Gegensatz zum Turm, gut küssen konnte, aber was nützt ein Mann, der sonst nicht viel kann?! Der See hilft, die ganzen falschen Berührungen abzuwaschen, die guten, aber verlogenen Küsse.

Christian war einer dieser Männer, die mit allen Mitteln zu verhindern wissen, dass die Gefühle einen natürlichen Lauf nehmen. Von Anfang an machen sie alles kompliziert und verkrampft, sodass man sich gar nicht mehr traut, sich zu verlieben und auf einmal wird man selbst auch so kompliziert wie sie. Es ist wie eine ansteckende Krankheit. Und so pendelt es immer hin und her, zwischen Anziehung und Abstoßung, Annäherung und Ablehnung, zwischen dem Wunsch nach Symbiose und dem nach Autonomie. So war es auch mit dem Turm damals.

Christian und ich, wir hatten auch mal einen Ausflug an einen See gemacht. Erst wollte er unbedingt in den Schatten, dann hatte er keine Lust zu schwimmen, also ging ich ohne ihn. Als ich wieder aus dem Wasser kam, sah ich Christian, wie er gerade eine Zigarette und Feuer schnorrte bei einer Frau und dabei flirtete.

Ich kraule, will diese ganzen Erinnerungsfetzen loswerden, es dauert, aber nach einer Weile kann ich beginnen, das Schwimmen wirklich zu genießen, endlich ohne all diese Gedanken und weit weg von der Stadt mit ihren quälenden Verhakelungen. Jetzt schwimme ich Brust, tauche ein, wieder auf, ganz ruhig und gleichmäßig, vollkommen eins mit dem Wasser, werde wieder leicht und Frau. Als ich nicht mehr kann, drehe ich mich um, lasse mich auf dem Rücken treiben. Mein Herz schlägt bis zum Hals unter dem freien Himmel. Das, was in mir zu klein war, ist wieder gewachsen und das, was zu groß war, geschrumpft. Das ist es, was die Natur mit mir macht und mit dem Turm muss das ähnlich sein und deshalb sind wir hier draußen immer die besseren Menschen und das bessere Paar. Aber nur, wenn wir die Stadt verlassen und uns an einen Brandenburgischen See begeben. Dies ist kein Anfang. Dies ist keine Liebesgeschichte.

Als ich zurückschwimme, steht der Turm schon im Boot, nass, nackt, braun gebrannt. Ich habe Jahrzehnte auf diesen Körper, der wie für mich gemacht war, warten müssen. Wieviel Zeit hatte ich vergeudet mit spaddeligen Männern, die leichter waren als ich. Ich schaffe es nicht allein über die Kante des Bootes, er zieht mich hoch, mit seinen kräftigen Armen, unsere erste Berührung heute.

Wir befinden uns an einer abgelegenen Stelle im See, wo wir nackt weiterrudern und uns trocknen lassen können, von der Sonne, dem Wind. Seine Narbe am Knie, die ihm immer sagt, wenn das Wetter umschlägt, leuchtet weiß.

Ich kann mich an der Farbe des Wassers und an dem Schilfgürtel, der inzwischen golden leuchtet, nicht satt sehen. Und auch den Turm betrachtete ich immer gern. Er war stattlich, groß, hatte schöne, flackernde Augen, die einen selten direkt ansahen. Vielleicht war’s die Mischung: Ein Hauch Kavalier alter Schule, aber auch wilde 70er Jahre umwehten ihn, Grenzüberschreitungen, etwas Unergründliches hatte er, war männlich, aber wenig machohaft. Er hat mir oft vom Knast erzählt. Bautzen. Versuchte Republikflucht. Er sagt, der Knast an sich war nicht schlimm, es hatte was von einem Mönch in seiner Zelle und er habe viel gelesen, die ganze Knastbibliothek rauf und runter. Die schöne Sprache habe ihm geholfen, hatte was Tröstliches. Schlimm waren nur die ständigen Verhöre zu Beginn, als sie versuchten, ihm irgendetwas anzuhängen und er Namen nennen sollte, die es gar nicht gab, als sie ihn brechen wollten. Irgendwann wurde er dann freigekauft, nachdem er ein Jahr eingesessen hatte. Und in einem Bus gings gemeinsam mit anderen rüber in die BRD und er wunderte sich, wie zersiedelt es überall war und alles zugepflastert und zugeteert im so begehrten Land, in der Freiheit.

Wieder zwei Libellen; man nennt sie auch Wasserjungfern. Wie die Flügel vibrieren, auf jeder Seite ein Flügelpaar. Ineinander verhakt, spielerisch, tanzen sie in Lee. Libellen leben nur sechs bis acht Wochen. Länger ging es mit Christian auch nicht.

Damals habe ich dem Turm in einem Wutanfall gesagt, dass der Pendelverkehr nicht bei den Berliner Verkehrsbetrieben stattfände, sondern zwischen den Männern und Frauen! Da hat er gelacht, laut, tief, von Herzen und so warm, wie nur er lachen kann. Seitdem fragt er mich jedes Mal, wenn er sich interessiert nach meinem Liebesleben erkundigt „Und? Was macht der Pendelverkehr?“

Ein See ist ein guter Ort, Menschen zu vergessen, die einem weh getan haben. Wasser hilft und der Abstand von der Stadt, die mein Herz manchmal so zuschnürt. Und die Nähe zum Turm, der hier draußen so eine Ruhe ausstrahlt. Es war eine gute Idee, ihn anzurufen.

Die Spätnachmittagssonne lässt unsere Großstadtgesichter entspannt aussehen. Wir gleiten über den See, der Turm rudert uns langsam zurück Richtung Bootsverleih. Wir ziehen uns wieder unsere Kleidung an. Auf meine Frage, wie lange das noch so weitergehen soll mit uns, hat er mal geantwortet: „Bis du den Richtigen gefunden hast.“ Er weiß, dass wir uns dann nicht mehr sehen werden.

Libellen paaren sich in der Luft, im Flug …

Gekonnt manövriert der Turm das Boot rückwärts in die Box, der Mann vom Bootsverleih kommt, kassiert. 10 Euro für den Nachmittag, für eine gerettete Seele. Fast fröhlich springe ich an Land. Leicht wankt der Boden unter mir – vonwegen Festland!

Das Lokal auf Holzpfählen direkt am Wasser ein paar hundert Meter weiter, hat heute keinen Ruhetag. Wir kriegen noch einen der Tische direkt am Wasser, bestellen bei der jungen Bedienung mit dem Nasenpiercing zunächst mal das Wichtigste: Zwei Biere vom Fass. Dann der Blick in die Karte. Sich zurücklehnen im Stuhl und auf den See schauen. Die „Heiterkeit“ fährt – jetzt ohne Ausflugsgäste – wieder an uns vorbei.

„Sieh mal, die Heiterkeit macht Feierabend“, sage ich zum Turm und wir lachen, genießen den ersten Schluck des Bieres. Die Holzbohlen geben die Wärme des Tages zurück und im so klaren Wasser stehen schwarze Fische stumm und unbewegt.

Der Turm erzählt, dass er mit seiner Familie hier früher im Urlaub war, in einem Haus in der Nähe, das das Kombinat seinen Mitarbeitern zur Verfügung stellte. Es müssen schöne Wochen gewesen sein, wenn ich ihn mir so ansehe, er erinnert sich nur bruchstückhaft, an den Garten, den Kirschbaum, unter dessen Schatten sie auf einer Decke saßen, an den weichen Sommerkleidstoff der Mutter, doch wenn der Vater kam, dann war es mit der Idylle vorbei. Als der Turm hier Urlaub gemacht hat, war ich noch gar nicht geboren, er ist gute zehn Jahre älter als ich, ein 50er Jahre Kind. Der Turm erzählt gern von früher, vielleicht weil er nicht viel Gegenwart hat.

Mit dem Turm habe ich die andere deutsche Geschichte mit ihren anderen Vernarbungen kennen gelernt. Als er Mitte der 70er Jahre beschließt, abzuhauen aus der DDR, weiß er nicht, ob er die Familie jemals wiedersehen wird, nimmt es in Kauf. Seine Mutter wirft ihrem einzigen Sohn vor, dass er sie im Stich gelassen hat, der Vater, dass er durch die Ausreisepläne des Sohnes vom Betriebsleiter zum einfachen Arbeiter in der Produktion degradiert wurde, auf einmal Säcke schleppen durfte. Der Turm sagt, wenn er von Familienfeiern zurückkehrt, dass man ihn, wenn spät der Schnaps und die Wahrheiten auf den Tisch kommen, auch schon mal einen Verräter nennt.

Unsere Bratkartoffeln und die Forelle kommen, wir bestellen noch ein Bier. Die Farbe des Sees hat gewechselt, als habe er jetzt einen dunklen Anzug angezogen. Der Wind hat sich schlafen gelegt und es ist ganz warm auf dem Steg. Der Turm fragt, ob wir auf dem Rückweg noch Schwimmen gehen wollen im See, er kenne da eine schöne Badestelle.

Wir bestellen noch einen Kaffee und die Rechnung. Im Auto fahren wir um den halben See, dann parkt der Turm in einem Wald, ein schmaler Weg führt zum Wasser hinunter. Es riecht nach Waldboden, Brombeeren und der aufziehenden Nacht. Wir lassen in der Dämmerung die Kleider im Sand. Das Wasser ist immer noch warm, doch dieses Mal schwimmt nicht jeder in eine andere Richtung los, sondern wir bleiben beide im Wasser stehen und auf einmal umarmt der Turm mich von hinten und als ich mich zurück, an ihn anlehne, spüre ich seine Erregung. Ich drehe mich zu ihm um. Und während ich meine Flügelpaare um ihn, den Abend und den Mann an sich lege und meine Beine um seine Lenden, dringt der Turm in mich ein und der warme See umspielt uns dabei.

Auf der Rückfahrt sind wir still. Dies ist kein Anfang. Dies ist keine Liebesgeschichte. Der Turm kann mir nicht mehr weh tun.

Die Autobahn führt geradewegs auf die Stadt zu, in die wir jetzt gern wieder zurückkehren, obwohl sie uns so vieles vorenthält, auch diesen verschwenderischen Sternenhimmel.

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